Insgesamt endete der 15. Januar erstaunlich friedlich. Am späteren Abend überzeugten Mitglieder der Bürgerkomitees aus den Bezirken, „Keine-Gewalt-Ordner“ vom Neuen Forum und Freiwillige die Demonstranten, das Gelände wieder zu verlassen. Es wurde danach von der Polizei im Zusammenwirken mit Bürgern gesichert.1 Die Bevölkerung wurde aufgerufen, sich zu beteiligen. Diese Bürgerwachen waren der Kern des Bürgerkomitees Normannenstraße, das sich in den kommenden Tagen bilden sollte.2 Räume wurden ohne Weiteres von einem höheren Polizeioffizier zur Verfügung gestellt.

Scan: Aufruf des Bürgerkomitees Normannenstraße zur Zusammenarbeit.(vermutlich 17.1.1990)

Gründung des Bürgerkomitees Normannenstraße

Film Horst Prillwitz, damals Demonstrant

Aufruf zur Bildung von Bürgerwachen. 

Spontan fanden sich Menschen zusammen, deren Anliegen es war, die Stasi vollständig aufzulösen. Unter anderem waren in Berlin über 50 Kilometer Akten zusammenzuführen und zu sichern, die in MfS-Dienststellen an hunderten Orten verstreut waren. Angesichts dieser riesigen Aufgabe begann das Bürgerkomitee schon am 16. Januar professionelle Strukturen zu bilden und gab sich zeitnah ein Statut. Dabei konnte man sich auf die Erfahrungen der größeren Bürgerkomitees in den Bezirken und Vorarbeiten der AG-Sicherheit des runden Tisches stützen.

Film: Albrecht Wetzel, damals Mitglied des Bürgerkomitees

Am 17.1. wurde der Theologiestudent und Bischofssohn, David Gill, im Rahmen der offiziellen Konstituierung des Bürgerkomitees zum Koordinator gewählt.3 Anfangs umfasste das Bürgerkomitee etwa 100 Personen.4 Einige von ihnen wurden schließlich von ihren Arbeitgebern freigestellt und weiter von ihnen bezahlt. Es bildeten sich zügig Arbeitsgruppen zu den wichtigsten Themen mit je einem Leiter.5 Laut Protokollen traf man sich anfangs fast täglich und besprach die wichtigsten Punkte, die anstanden bzw. aus den Arbeitsgruppen vorgebracht wurden.6

Foto: David Gill auf einer Pressekonferenz 1990

Der eigentliche Abbau des riesigen Apparates, das wird oft übersehen, blieb allerdings nach wie vor in Händen staatlicher Vertreter. Kurz nach den Ereignissen vom 15. Januar beschloss die Regierung Modrow, ein Komitee zur Auflösung des MfS zu bilden. Auch zahlreiche ehemalige Stasi-Mitarbeiter blieben zunächst auf dem Gelände und waren gehalten, den Apparat aufzulösen. Auch die Generäle um Heinz Engelhardt blieben, schließlich mit Beraterstatus, einbezogen. Sie waren daher, zumindest informell, weiterhin einflussreich.

Das Bürgerkomitee Normannenstraße versuchte zusammen mit Vertretern der AG Sicherheit des Runden Tisches und mit anderen Bürgergruppen, die sich seit der Jahreswende überall in den Stadtbezirken Berlins herausgebildeten, ein Gegengewicht zu den staatlichen Institutionen zu bilden, um den Prozess zu kontrollieren und Missbräuche aufzudecken. Wichtige Entscheidungen der staatlichen AAuflöser mussten zusammen mit dem Bürgerkomitee beraten und von ihm mitgezeichnet werden.

Foto: Jutta Seidel von der AG Sicherheit und Thomas Heise vom Bürgerkomitee Normannenstraße bei der Kontrolle der EDV, 1990

Satzung des Bürgerkomitees Normannenstraße, Bl. 2., Bl. 3, Bl. 4, Bl. 5, Bl. 6  

Ausweis des damaligen Bürgerkomitee-Mitgliedes Peter Neumann, der später in die AG-Sicherheit überwechselte. Link in Arbeit

Die naturgemäß geringe Erfahrung der oft auch jüngeren Bürgervertreter und der engen Kontakt mit Vertretern der staatlichen Seite und auch des ehemaligen MfS führten in der Folgezeit immer wieder zu Kompromissen, die heute als problematisch angesehen werden. Dies betrifft vor allem die Zustimmung zur Vernichtung von bestimmen Aktenbeständen wie dies auch schon vorher in den Bezirken zu verzeichnen gewesen war. Diese blieben zwar unter den Bürgerkomitees der DDR höchst umstritten, fanden aber, wie auch immer, letztlich die Zustimmung von Bürgerkomitees, der AG-Sicherheit und dem Rundem Tisch.

Der Stasiauflöser Arno Polzin erinnert sich an die Zusammenarbeit mit den ehemaligen Stasi-Mitarbeitern bei der weiteren Auflösung im Verlauf von 1990.

Film  Arno Polzin, damals Stasiauflöser, Haus der deutschen Geschichte

 

Da im wörtlichen Sinne jeder „von der Straße“ zum Bürgerkomitee stoßen konnte, war natürlich in den ersten Tagen und Wochen nicht kontrollierbar, ob Stasi-„U-Boote“ darunter waren. Später, als man daran ging, die Komitees zu überprüfen, konnte in dem einen oder anderen Fall eine IM-Registrierung festgestellt werden. Das hieß aber nicht unbedingt, dass diese Person zwangsläufig im Auftrag des MfS arbeitete.7 Mancher mag auch versucht haben, sich auf diesem Wege von der Vergangenheit frei zu machen. Ein Gesamtüberblick über die Mitglieder des Bürgerkomitees und die Überprüfungsergebnisse konnte bislang nicht gefunden werden. Da die ehemaligen MfS-Mitarbeiter aber noch lange Zugang zu ihrer alten Zentralkartei hatten, während die Bürgervertreter dort ausgesperrt waren, wussten sie oft, mit wem sie es zu tun hatten. Auf diese Weise dürften sich Symbiosen der gegenseitigen Rücksichtnahme herausgebildet haben, die das Klima entspannten. Dieses war zuweilen geradezu erstaunlich harmonisch, dürfte aber auch gelegentlich zu einer übergroßen Kompromissbereitschaft geführt haben.

Wegen des Standortes Berlin hatte das Bürgerkomitee Normannenstraße dichte Beziehungen zur AG (Staats-)“Sicherheit“ des Runden Tisches und zu den Bürgerkomitees aus den Bezirken, die künftig regelmäßig in Berlin zusammentreffen sollten. Mit der Wahl der Volkskammer und den Ausschüssen, die sich mit der Auflösung der Stasi beschäftigten, wurden einzelne Bürgerkomitee-Mitglieder dort zu wichtigen Beratern.

Mit der Bildung der nach den freien Wahlen neu gebildeten Regierung nahmen die Konflikte zwischen den revolutionären, eher informellen Gruppierungen und den Staatsvertretern erstaunlicher Weise wieder zu. Die Regierung, insbesondere der Innenminister wollten den Einfluss der Bürgervertreter zurückschrauben und den Zugang zu den Akten beschränken. Im Vorfeld der Deutschen Einheit wurde hierbei auch der Einfluss der Bundesregierung deutlich. Diese wollte zwar den Einfluss und das Wissen der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter „neutralisieren“, aber auch verhindern, dass die Bürgervertreter an das Geheimwissen der Stasi herankämen. Dieser Konflikt um den Aktenzugang führte kurz vor der deutschen Vereinigung noch einmal zu Bürgerprotesten in der gesamten DDR, an denen auch Vertreter der Bürgerkomitees maßgeblich beteiligt waren. Nachdem ein Kompromiss durch Vermittlung des damaligen Volkskammerabgeordneten Joachim Gauck gefunden war, wurde nach der Vereinigung vom 3. Oktober die Stasi-Unterlagenbehörde gebildet. Dort wurden auch manche Vertreter der Bürgerkomitees übernommen. Als zivilgesellschaftliches Gegengewicht zu dieser Großbehörde gründeten Mitglieder des Bürgerkomitees Normannenstraße zusammen mit anderen Stasiauflösern 1991 den Verein Bürgerkomitee 15. Januar e.V.. Dieser sollte jahrelang die Aufarbeitungszeitschrift „Horch und Guck“ herausgeben.

 

Die Geschichte der Akten und Bürgerkomitees

wird fortgesetzt.

Seiten in Arbeit. Neuerscheinung 2020 geplant.

 

 

Anmerkungen

1Gill, David; Schröter, Ulrich: Das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1991, S. 186

2 Editorial. Horch und Guck 1(1992), S. 3

3 Worst, Anne: Das Ende eines Geheimdienstes, Berlin 1991 , S. 74

4 Gill, David; Schröter, Ulrich: Das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1991, S. 187

5 Laut Gill Gebäude und Inventar, Akten, Quellenschutz, Information, Objektsicherung, Öffentlichkeitsarbeit, Personalfragen des Bürgerkomitees, Gill, David; Schröter, Ulrich: Das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1991, S. 186: laut einer anderen Überlieferung

6 BKB. Kurzdokumentation. 4.2.1990, RHG, Bestand Gill Bd. 14

7 Gespräch mit K.W. 2018