Waren die Stasibesetzungen manipuliert- Thesen zum Zwischenstand

Schon kurz nachdem am 15. Januar 1990 Demonstranten in die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg eingedrungen waren, gab es Gerüchte, dass das Geschehen von der Stasi manipuliert worden sei. Die These, dass die Auflösung des Ministeriums der Staatssicherheit (MfS) ab Dezember 1989 ein Manöver war, um die Bürger zu täuschen, wird bis heute immer wieder vertreten. Vieles daran ist unbewiesen, manches auch falsch.

Eine Bilanz von Christian Booß

Erste Quellen für die Manipulations-These datieren schon mit den ersten Besetzungen Anfang Dezember 1989:

Weitere Nahrung für den Verdacht, dass an der Stasiauflösung „gedreht“ worden sei, gab es durch Äußerungen des Zeitzeugen Wolfgang Berghofer (SED), dem ehemaligen Oberbürgermeister von Dresden, der ab dem 3. Dezember 89 im Nachfolgegremium des damals führenden SED-Parteikreises - dem Arbeitsausschuss der SED - saß. Er berichtete von einem angeblichen Treffen des amtierenden Ministerpräsidenten Hans Modrow mit der SED-Spitze. Dabei sei als Strategie verkündet worden, man müsse die SED von der Kritik durch die Bevölkerung entlasten. Die Wirtschaftsmisere in der DDR sollte dem flüchtigen Devisenhändler Alexander Schalck-Golodkowski in die Schuhe geschoben werden, die Repression der Staatssicherheit wiederum allein dem MfS. Dazu sollte die Stasi, zumindest jener Teil, der für die innere Überwachung zuständig war, geopfert werden. Modrow habe angeblich damals die Devise ausgegeben "Wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige".4

Für diese These sprechen einige Indizien. In der Tat wurde der ehemalige Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski, zugleich MfS-Offizier, Anfang Dezember von der Stasi und der SED-Regierung fallen gelassen. Im „Spiegel“ standen kurz zuvor Enthüllungen zu Schiebungen und Finanzmanipulationen, die scheinbar von Insidern stammten. Diese brachten die Menschen in der DDR auf. Schalck-Golodkowski floh daraufhin am 3. Dezember nach Westberlin und löste damit eine Krise und erhebliche Beunruhigung unter der Bevölkerung aus.

Am Folgetag, am frühen Morgen des 4. Dezember putschte das Radiointerview eines Stasi-Mitarbeiters die Bevölkerung weiter auf. Ein Frank L. prangerte Aktenvernichtungen der Stasi an. Der Redakteur, der dies zur Sendung freigab, entpuppte sich später als einer, der bei der DDR-Spionageabteilung HVA registriert war.

Der damalige SED-Hoffnungsträger Gregor Gysi und der mit ihm kooperierende ehemalige Spionagechef Markus Wolf machten schon in der Nacht vom 3. zum 4. zusammen mit der Frontfrau der Oppositionsgruppe Neues Forum, Bärbel Bohley, hinter den Kulissen Krisenmanagement, um eine Eskalation der Stasifrage, insbesondere in Leipzig, zu verhindern. Markus Wolf inszenierte zudem am 4. Dezember einen Bürgeraufruf für Gewaltlosigkeit, der von SED Mitgliedern wie Bürgerrechtlern unterzeichnet wurde. Es zeichnete sich durch die Stasifrage eine mögliche neue Allianz ab.

Der amtierende Stasichef Wolfgang Schwanitz empfing, offenkundig auf Druck Modrows, am 4. 12. eine Delegation von Bürgerrechtlern, dabei als Wortführer der Anwalt Wolfgang Schnur, der später als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi enttarnt wurde. Bei dem Treffen wurden Deeskalationsmaßnahmen besprochen. Schnur sollt nach Leipzig fahren, um dort die Lage zu beruhigen. Stasi-Chef Schwanitz verbreitete nach dem Gespräch und der Besetzungen von Erfurt und Rathenow über die Medien einen Deeskalationsaufruf der Bürgervertreter, der zur Bürgerkontrolle aufrief.

Nach anfänglicher Hinhaltetaktik ließen die Leiter der Stasi-Bezirksverwaltungen Erfurt, Suhl, Dresden und Leipzig Bürgerdelegationen zu Gesprächen bzw. Verhandlungen in ihre Diensträume. Mit dabei Staatsvertreter, Staatsanwälte und oft die Polizei. Sie unterstützten die Bürger im Rahmen von Sicherheitspartnerschaften bei dem Anliegen der Bürgerkontrolle, damit keine weiteren Akten vernichtet würden, versuchten dabei aber auch die Akten vor Bürgerzugriffen zu schützen. In manchen Stasi-Bezirksverwaltungen, wie in Gera, Berlin und teilweise Cottbus ging sogar die Initiative zur Bürgerkontrolle der Stasi von staatlichen Vertretern aus. Auch Vertreter von Berliner Bürgerrechtsgruppen wie das Neue Forum wurden zu Gesprächen bei der Stasi eingeladen.

In den Bürgerkomitees waren, wie sich später herausstellen sollte, Personen aktiv, die bei der Stasi als IM registriert waren. Manche Bürgerkomitees konnten von Staatsvertretern auch erfolgreich überzeugt werden, Akten zu vernichten. Erfolgreich warnten Stasileute auch vor Mord und Totschlag, falls die Akten öffentlich werden. Auch ein Folge-Geheimdienst, ein sogenannter Verfassungsschutz gegen Übergriffe gegen die DDR, wurde nicht von allen Bürgerrechtlern abgelehnt. Die Regierung, SED und Stasi machten drastisch auf Spionage und Neonaziaktivitäten aufmerksam, um dies zu legitimieren.

Gerüchte für Manipulationen kamen verstärkt rund um den 15. Januar 1990 auf:

Um der Volksbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen, verkündete Regierungschef Hans Modrow (SED) am 12. 1.1990, also drei Tage vor der angekündigten Großdemonstration gegen die Stasizentrale in Ostberlin, dass vor Wahlen kein neuer Geheimdienst gegründet würde. Damit kann er in den Medien punkten.

Als sich die Bürgerkomitees aus den Regionen am 14. Januar in Berlin treffen, sind, wie sich nachher herausstellte, mehrere ehemalige IM dabei. Die Stasi ist also offenbar über alles gut informiert. Die Bürger treffen sich ohnehin in Stasiräumen, übernachten in einem Stasi-Wohnheim. Ihre Pläne, am 15. 1. morgens das Krisenberatungsgremium, den Zentralen Runden Tisch, zu informieren und über die Abwicklung der Stasi auf dem Lichtenberger Gelände zu verhandeln, wurde faktisch chaotisiert. Der Transport der Gruppe, der mit Stasi-Fahrzeugen erfolgt, verzögert sich, womit die Abläufe durcheinandergeraten.

Am Runden Tisch erhalten die Bürgerkomitees zunächst, anders als vorvereinbart, kein Rederecht. Dem Moderator der Kirche, der das verhindert, wird später Stasinähe nachgesagt. Statt der Bürgervertreter kann zunächst der Regierungschef selbst reden. Modrow kann sich in der live vom Fernsehen übertragenen Sitzung erneut mit der Zusage profilieren, dass keine Geheimdienste vor den Wahlen mehr gegründet würden. Regierungsvertreter behaupteten zudem, dass eine Bürgerkontrolle der Stasizentrale bisher an den Bürgerrechtlern gescheitert sei. Die Sitzung verlief chaotisch. Als die Bürgerkomitees schließlich reden dürfen, streiten sich untereinander und können ihr Anliegen nur schlecht vermitteln. Die Gruppe spaltet sich, die Radikaleren fahren aus Berlin ab. Schließlich musste der Tagesordnungspunkt Stasi abgebrochen werden, weil es angeblich eine Bombendrohung gibt.

Vor Ort in der Stasizentrale verhandeln jetzt Bürgerkomitee-Mitglieder über eine Sicherheitspartnerschaft und die Übergabe der Zentrale. Das Wort führen v.a. die Gemäßigten aus den Bürgerkomitees Berlin, Dresden und Frankfurt/Oder. Da sie verspätet eingetroffen sind, wirkt das Ganze nach der Diskussion am Runden Tisch wie ein Zugeständnis der Regierung Modrow. Schon drei Stunden vor der vorm Tor der Stasizentrale angekündigten Großdemonstration am Nachmittag bittet die Regierung die Bürgerkomitees, das Gelände in Sicherheitspartnerschaft zu übernehmen. Damit liegt die Verantwortung während der kommenden Demo bei den Bürgerkomitees und der Volkspolizei.

Wer genau dann zu Beginn der Demo am 15. Januar gegen 17 Uhr das Tor überstieg und öffnete ist bis heute nicht klar. Die Verantwortung dafür lag jedoch nachgewiesenermaßen bei den Vertretern der Bürgerkomitees, die dies explizit zuließen, um der aufgebrachten Menge ein Ventil zu geben. Unklar ist auch die Rolle von Mitarbeitern der Stasi-Hauptabteilung VIII, die sich heimlich unter die Demonstranten gemischt hatten. Von Anfang an gab es den Verdacht, dass Stasimitarbeiter vor Erstürmung des Geländes selber einige Fenster demoliert, Akten zerrissen und Parolen gesprüht hätten. Die Demonstranten wurden zudem offenbar gezielt in ein unwichtiges hell erleuchtetes Gebäude gelockt, wo sie laut Zeitzeugen die Verwüstungen bereits vorfanden. Die Zerstörungen wurden in der offiziellen und immer noch parteinahen Presse der DDR ausgeschlachtet und gegen die Bürgerbewegung gewendet.

Auch in der Folgezeit gelang es hochrangigen Stasi-Vertretern als Berater Einfluss auf die Auflösung der Stasi zu nehmen. Es gelingt ihnen immer wieder, Bürgervertreter von der Notwendigkeit der Vernichtung vieler Akten zu überzeugen. Zudem wurde weiter getrickst, um Akten zu zerstören und wegzusperren. Auch die neue Regierung mit Ministerpräsident Lothar de Maiziere zeigt hier Schwachstellen. Lange vor der Öffentlichkeit wissen hochrangige Stasi-Leute, dass der Regierungschef in ihren Karteien als „IM Czerni“ geführt wurde und eine dicke Akte haben müsste. Auch die Bundesregierung kann mit der Drohung von Enthüllungen über Westpolitiker indirekt unter Druck gesetzt werden, um die Akten unter Verschluss zu halten und die Stasi-Mitarbeiter möglichst zu schonen.

Soweit die Argumente für eine Manipulation, die Gegenargumente sind freilich gewichtig.

Der letzte Regierungschef der SED, Hans Modrow, hatte nie die Absicht, auf Geheimdienste zu verzichten. Im Gegenteil gehörten sie zu seiner Vorstellung einer souveränen DDR. Es ist zudem bis heute kein „Masterplan“ zur Stasiauflösung gefunden werden, auch wenn derartiges unsinnigerweise behauptet wurde.

Berghofers Behauptung einer Absprache der damals amtierenden SED-Führung auf Kosten der Stasi ist auch von angeblich Beteiligten massiv bestritten worden.

Falls es dennoch einen derartigen Plan gegeben haben sollte, endete dieser mit der kompletten Auflösung des Geheimdiensts und der Öffnung eines Großteils der Akten. Das ist kein „Erfolg“, wie manche behaupteten, sondern eine krachende Niederlage des gemessen an der Bevölkerungszahl einst größten Geheimdienstes des Ostblocks. Wenn die Regierung Modrow oder die Stasi selber den Fall Schalck-Golodkowski, die Aktenvernichtung oder die Enttarnung von Stasi-Informanten inszeniert haben sollten, hätten sie mit dem Feuer gespielt. Die daraus resultierende Volksbewegung entglitt ihrer Kontrolle.

Nur im Nachhinein lassen sich manche Vorgänge zu einem Bild von Manipulation zusammen puzzeln. Wer aber sollte in einer derart unübersichtlichen Situation, wo sich die Ereignisse überschlugen und die Lage täglich änderte, einen derartigen Plan entwickelt haben? Die Staatsvertreter reagieren vielmehr aus der Situation heraus und weichen regelmäßig zurück. Stasi-Chef Schwanitz änderte fast im Tages-, manchmal im Stundentakt seine Befehle an die ihm nachgeordneten Stellen. Es war der Druck der Bevölkerung, nicht ein geniales Marionettenspiel, was die Regierung Modrow mehrfach zwang, ihre Pläne zur Reform des MfS zu ändern und schließlich ganz aufgeben.

Ehemals geheime Stasi-Informanten mögen versucht haben, in die Abläufe einzugreifen, aber sie waren nach bisherigen Erkenntnissen nur in kleiner Zahl vertreten und oft nicht handlungsentscheidend. Wolfgang Schnur z.B., der am 4. Dezember 1989 als Krisenmanager nach Leipzig eilen sollte, kam erst an, als die Bürgervertreter vom Neuen Forum schon in die „Runde Ecke“, die dortige Stasiverwaltung, eingedrungen waren. Das Geschehen entwickelte sich an den Folgetagen vor Ort in den Regionen teilweise sehr unterschiedlich. Auch dies widerspricht klarer zentraler Steuerung.

Auch die Besetzung der Berliner Stasi-Zentrale am 15. Januar ist inzwischen entmystifiziert. Die angeblich ominöse Öffnung des großen Einfahrttors in der Ruschestraße ist weitgehend aufgeklärt. Es waren namentlich bekannte Bürgerkomitee-Vertreter aus Leipzig und Suhl, die das Ok zur Toröffnung gaben. Das hat mit Manipulation nichts zu tun, es war eine spontane Entscheidung aus der Situation heraus.

Dass viele Akten auch im Nachhinein vernichtet wurden, kann mit Einflüsterungen von Seiten der Stasi zusammenhängen. Allerdings war die Gesellschaft in dieser Frage von Anfang an gespalten. Dass die Bürgerrechtler von vornherein die Akten öffnen wollten, ist falsch. Auch Kirchen-Vertreter waren dagegen, weil sie Unfrieden befürchteten. Das Votum der DDR-Gesellschaft für eine Öffnung der Stasiakten entwickelte sich erst allmählich im Laufe des Jahres 1990 unter dem Eindruck von Enthüllungen über Stasi-Verstrickungen von Neupolitikern.

Versucht man das Für und Wider der Manipulationsthese abzuwägen, ergibt sich folgendes:

Bild.Richtig scheint zu sein, dass die Regierung Modrow vor den Bürgerprotesten zurückwich, und dabei die Stasi Stück für Stück preisgab. Geplant hatte Modrow dies von Anfang an nicht. Das Zurückweichen war eine Folge der gesellschaftlichen und politischen Dynamik. Richtig ist, dass die amtierende SED-Spitze um Modrow und Gysi versuchten, sich durch diese taktischen Rückzüge Luft zu verschaffen und neues Vertrauen in der Bevölkerung und vielleicht sogar neue Verbündete bei Teilen der Bürgerbewegung zu gewinnen. Der Preis dafür war, dass es wegen der Stasi-Frage nicht zu gewaltsamen Zusammenstößen kommen durfte, dazu musste den Bürgern nachgegeben werden, zum Nachteil der alten Stasi-Belegschaft.

Das Treffen der SED-Spitze, das Berghofer beschrieben hat, kann ziemlich sicher nicht, wie von ihm anfangs behauptet, am 3. Dezember stattgefunden haben. Aber auch die Dementis von Modrow und anderen klingen halbherzig. Widersprochen wird inzwischen lediglich dem Datum und der personellen Zusammensetzung des Treffens. Ein richtiges Dementi sieht aber anders aus. Vermutlich hat an einem anderen Tag eine ähnliche Absprache stattgefunden, wie sie Berghofer überspitzt beschreibt. Möglicherweise war es der 5. Dezember nach den ersten Besetzungen, als Ministerpräsident Hans Modrow von Gysi und Wolf aus Moskau zurückgerufen worden war, weil ihnen die Lage zu entgleiten drohte. Auch die Strategie zur Stasifrage für die erste Sitzung des Runden Tisches vom 7. Dezember musste in dieser Zeit zwischen dem Ministerpräsidenten und seiner wichtigsten Regierungspartei festgelegt werden. Aber wenn es so war, dann war es eine Reaktion auf die neue Protest- und Besetzungswelle in den Kreisen und Bezirken und keineswegs vorab geplant.

Natürlich haben die Stasileute versucht zu retten was zu retten ist. Schließlich waren sie in solchen Taktiken ausgebildet und geübt. Anderes anzunehmen, wäre naiv. Anhand der vorliegenden Dokumente ist nachweisbar, dass sie versuchten, ihren Dienst erst durch Reformen zu retten, dann durch Um- bzw. Neugründungen. Parallel trachteten sie danach, ihre Geheimnisse, vor allem auch die Quellen, ihre Agenten und Inoffiziellen Mitarbeiter zu schützen. Dies entsprach ihrem Ehrenkodex, sie wollten mit diesen Personen weiterarbeiten und mussten zudem eine noch größere Volksempörung befürchten, wenn alles auf den Tisch käme. Während der Apparat letztlich nicht gehalten werden und sein Niedergang allenfalls verzögert werden konnte, waren die Stasileute auf anderen Feldern teilweise erfolgreich. Die wenigsten von ihnen wurden strafrechtlich verfolgt. Zudem konnten sie über bis heute nicht ganz nachvollziehbare Kanäle Politiker in Ost und West und auch Bürgerrechtler von einer teilweisen Aktenvernichtung und -sperrung überzeugen. Allerdings ist auch das nur unzureichend gelungen. 111 Aktenkilometer erlauben die Stasi-Strukturen mehr oder minder komplett aufzuklären und viele Menschen zu rehabilitieren, einige Verantwortliche anzuklagen und Belastete von sensiblen Positionen fern zu halten. Ein genialer Plan sieht anders aus.