Vermittler wider Willen

DDR-Staatsanwaltschaft als Moderatoren der Stasiauflösung im Dezember 1989[1]

von Christian Booß[2]

Stand  25.11.2023

Meist heißt es zu den Stasibesetzungen, mutige Frauen und Männer, „aufgebrachte Bürger“[3] hätten Anfang Dezember 1989 der Stasi-Bezirkszentralen und manche der Kreisdienststellen besetzt. Einer der wichtigsten Akteure kommt bei diesem Narrativ bisher eher als Statist vor: Die Staatsanwaltschaft der DDR. An wohl kaum einem Ort wagten es dagegen die Bürger, in die einstigen Machtzentralen des Geheimpolizei der DDR einzudringen, ohne sich der Unterstützung von örtlichen Staatsanwälten versichert zu haben. Dies ist insofern erstaunlich, als diese im SED-Staat eigentlich als „Hüter der Gesetzlichkeit“ galten, und ganz in leninistischer Tradition auf die Umsetzung der parteilichen Vorgaben im Staat und insbesondere im Strafrecht hatten sorgen sollen.

Dennoch kontaktierten die Bürger fast überall die Staatsanwälte und baten sie um Unterstützung, als es darum ging, das ehemaligen Mielke-Ministerium zu entmachten. Eine Erklärung dafür ist, dass sich die Generalstaatsanwaltschaft selber angeboten hatte. Am 4. Dezember schrieb Generalstaatsanwalt Günter Wendland an den amtierenden Chef des DDR-Geheimpolizei Schwanitz, dass es mit Verweis auf das Staatsanwaltschaftsgesetz der DDR untersagt sei, Akten zu vernichten, damit die Staatsanwaltschaft „jederzeit die Möglichkeit hat, die Vorlage von Akten durchzusetzen“.[4]

Diese Weisung wurde schnell öffentlich und auch mehrfach an die Staatsanwälte in den Bezirken und Kreisen kommuniziert und diesen erstmals am Montag, den 4.12. um 14. 30 die neue Weisungslage per Telex mitgeteilt. Die örtlichen Staatsanwälte wurden auch ermuntert, „mit der Öffentlichkeit … Einverständnis zu erzielen.“ Es sei “richtig wenn Staatsanwälte unabhängig von einer Zuständigkeit des Militärstaatsanwalts selbst handeln“[2] würden. Bisher war es der Militärstaatsanwalt allein vorbehalten, gegen MfS-Mitarbeiter vorzugehen. Die neue Weisungslage erlaubte vor allem auch Staatsanwälten in den Kreisen, eigenständig aktiv zu werden. Wie sensibel man vorging und dass es wirklich ernst gemeint war, zeigt sich auch darin, dass die Generalstaatsanwaltschaft explizit keine Staatsanwälte der verhassten 1 A Abteilung, die die politischen Prozesse geführt hatte, für diese Aufgabe abstellen wollte, offenbar um die Bürger nicht zu provozieren.[5]

In Folge spielte sich fast überall in der DDR das Kuriosum ab, dass Stellen der Geheimpolizei von Bürgern, quasi mit staatlicher Genehmigung „besetzt“ wurden. Ein doppelt ungewöhnlicher Vorgang. Die Tatsache an sich ist bekannt, weniger, wie es dazu kam:

Bei dem Telex des Generalstaatsanwaltes von 14. 30 ist nicht ganz klar, ob Wendland aus eigenem Antrieb handelte, um durch volksnahes rechtsstaatliches Handeln seine Haut zu retten. Genützt hat es ihm nicht, er musste am Folgetag zurücktreten. Wahrscheinlicher ist daher, dass er auf Weisung, zumindest im Einvernehmen mit der Regierung Modrow handelte. Die zentralen Korrespondenzen der Generalstsaatsanwaltschaft dieser Tage zeigen, dass man die Regierung permanent auf dem Laufenden hielt, ja mehr noch, sich mit Modrows Apparat abstimmte.[3]

Dass war keineswegs selbstverständlich, denn die Generalstaatsanwaltschaft hatte in den letzten Jahrzehnten der DDR nicht dem Ministerrat, sondern dem Staatsrat und damit faktisch dem SED-Generalsekretär unterstanden. Am 1. Dezember war die führende Rolle der SED aus der Verfassung gestrichen worden.[4] Am 3. Dezember hatte der SED-Vorsitzende Egon Krenz zusammen mit ZK und Politbüro zurücktreten müssen. Nominell amtierte Krenz zwar noch Staatsratsvorsitzender, aber das nahm -außer ihm selbst- offenbar keiner mehr ernst. Die eigentlichen Fäden der Macht liefen beim letzten SED-Regierungsschef, Hans Modrow, zusammen, dem letzten Aufgebot der Genossen.

Die Offerte der Staatsanwaltschaft an die aufmüpfigen Bürger reiht sich in die Bemühungen Modrows ein, möglichst viele Bürger in seine Deesakalationsbemühungen zu integrieren. Damit hoffte er, der Regierung und der DDR eine neue Legitimation zu verschaffen. Der Staatsapparat griff dabei auf erfolgreiche Versuche zurück, Bürger einzubinden und zu beschwichtigen.

Schon vor dem 4.12. waren einzelne Staatsanwälte in der Provinz wegen des Verdachtes von Aktenvernichtungen auf Initiative von Bürgern aktiv geworden und hatte dieses nach Berlin gemeldet. In Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, war die Verkollerung von Akten durch die Staatsanwaltschaft untersagt und in Oelsnitz waren Akten versiegelt worden.[5] Schon Wochen zuvor hatten in Leipzig Gespräche zwischen dem Neuen Forum, der Polizei und der Stasi begonnen. Ziel war es, eine Besetzung und Übergriffe anlässlich der legendären Montagsdemo an der „Runden Ecke“, der Stasi-Bezirksverwaltung, zu verhindern. Ordner mit  Schärpen „Keine Gewalt“ wurden daraufhin eingesetzt, um das Gebäude abzuschirmen. Schon am 3. 12., einen Tag vor den „Besetzungen“, waren auch in Ostberlin diverse Deeskalationsbemühungen angelaufen. Modrow hatte sich mit Künstlern und Rechtsanwalt Schnur getroffen: die bekannte Bürgerrechtlerin, Bärbel Bohley, hatte den ehemaligen Nachrichtendienstchef Markus Wolf und ihren Anwalt Gregor Gysi kontaktiert. Alle hatten aber offenbar vorrangig Leipzig im Blick, wo die aufgeheizte Nachrichtenlage Gefahr lief, bei der Montagsdemo vom 4. 12. zu einer unkontrollierten Eskalation an der „Runden Ecke“ zu führen. Modrow hatte offenbar die ersten Weichen noch am Sonntag, den 3. 12. nachts gestellt und seinen Geheimdienstchef Schwanitz und sein Staatssekretariat im Ministerrat eingenordet.[6] In einem Exklusivinterview mit dem Autor erklärte Modrow, die Erlaubnis, dass die Bürgerkomitees in den Stasi-Bezirksverwaltungen hineingingen und mit den Leuten von der BV sprechen durften, auf seine Initiative hin möglich wurde. „Das ist die Absprache, die wir untereinander hatten, dass die Stasi sich dem gegenüber öffnete, die Absprache, die wir noch miteinander pflegen konnten,“ schildert der ehemaligen DDR-Ministerpräsident die Weisungslage gegenüber seinen Mitarbeitern, bevor er am 4. Dezember ins Flugzeug Richtung Moskau stieg.

Am Montag morgen war er nämlich auf dem Weg zu einer Konferenz mit Sergej Gorbatschow. Dabei auch Egon Krenz, so dass die DDR eigentlich kopflos war, da die beiden führenden Verfassungsorgane nicht im Landes weilten. Ein echtes Machtvakuum, was die aufmüpfigen DDR-Bürger zu nutzen wussten. Die Stasibesetzungen von Erfurt, Leipzig, Suhl wirkten wie eine Kettenreaktion, die weitere Bürgeraktionen an den Folgetagen stimulierte. Auch wenn die Abläufe sich regional deutlich unterschieden, war spätestens bei Versiegeln der Akten die Staatsanwaltschaft dabei.

Die ohne Modrow in Ostberlin verbliebenen SED-Spitzen-Leute, wie der ehemalige Spionagechef Markus Wolf und Rechtsanwalt Gregor Gysi bemühten sich zwar auch Krisenmanagement zu machen. Aber angesichts der Tatsache, dass die SED laut Verfassung nicht mehr die führende Rolle inne hatte, andererseits es die staatlichen Institutionen es gewöhnt waren, von der Partei angeleitet zu werden, Gysi und Wolf aber nur einem kaum legitimierten Übergangsgremium der SED angehörten, herrschte jedoch Ratlosigkeit im alten DDR-Establishment. Modrow wurde daher zurückgerufen, brach angesichts der Brisanz der Ereignisse in der DDR seine Reise zum Kremlchef vorzeitig ab, um am 5.12 die Geschäfte wieder selber leiten zu können.

Modrow hatte angesichts des kleinen Zeitfensters vor der Abreise seine Strategie nur andeutungsweise skizzieren können, Akten zum Vorgang sind kaum überliefert. Lieber nachgeben, als Gewalt, war offenbar die Devise des cleveren Ministerpräsidenten. Die Umsetzung dieser Strategie lag während seiner Abwesenheit bei seinen Staatssekretären, zunächst vor allem bei Harry Möbis, später laufend für die Stasiproblematik bei Walter Halbritter. Damit nicht alles drunter und drüber ging, sollten die Staatsanwaltschaft und die Polizei in den Stasidienststellen vor Ort für Ordnung sorgen. Dass das faktisch auf eine Totalentmachtung der Stasi hinauslaufen würde, war nicht von Anfang an eingeplant, offenbar nahm Modrow das aber in Kauf. Eine Teilentmachtung war es auf jeden Fall.

Die Erfurter Besetzung, am Montag morgen kam dann für alle überraschend. Auch hier wurde die Staatsanwaltschaft schon von den Bürgern einbezogen. Es war nun klar, es mussten mehr Zugeständnisse gemacht werden. Bürgern sollte der Zutritt zu den Stasiräumen gestattet werden. Ein Entgegenkommen bei den Stasi-Akten war auch ein Ventil, um zu verhindern, dass sich der Volkszorn nun auch gegen die SED und ihre Akten richtete. Ansätze dazu waren erkennbar.[7] Auch hier holte sich die Generalstaatsanwaltschaft Weisung bei der Regierung Modrow. Was von Seiten der Zivilgesellschaft als Bürgerkontrolle interpretiert wurde, war von Staatsseite eher als Kontrollsimulation gemeint, um Druck aus dem Kessel zu nehmen.

Schon ab dem 5. Dezember wirkten die Besetzungen manchenorts fast routinegemäß. In Halle fungierte ein Militärstaatsanwalt geradezu als Antreiber. Nur vier Bürger hatten die Initiative ergriffen und waren bei der Staatsanwaltschaft vorstellig geworden. Die Reaktion überraschte: „Der [Militärstaatsanwalt] kam rein…Und dann haben wir eben nochmal wiederholt, was wir wollen: Wir wollen dass die Aktenvernichtung beendet wird, wir wollen, dass die Reißwölfe die dazu benutzt werden sichergestellt werden. [Wir]haben gesagt, die Repressalien gegen Andersdenkende, die soll beendet werden. … Da sagte er: Wenn Sie die Aktenvernichtung einstellen wollen, dann ist doch das Einfachste, es wird versiegelt…. [Es] dauerte keine 10 Minuten, [dann] war das klar. [Er war] „derjenige, der uns da die goldenen Schlüssel in die Hände gelegt hat. Er hätte auch ganz anders reagieren können.“ [8]  Die Staatsanwaltschaft in Halle war offenbar auf den Bürgerbesuch schon vorbereitet. Immerhin hatten in der Saalestadt sogar zwei Stasileute die Aktenvernichtung angezeigt,[6] so dass die Staatsanwälte doppelt unter Zugzwang kamen.

Nicht überall waren Staatsanwaltschaft und Stasi offenbar gerne bereit, der neuen Linie zu folgen. In Schwerin gab es am 6. Dezember ein langes Hin und Her, erst mit dem Bezirksstaatsanwalt, dann mit dem stellvertretenden Stasichef. Beide spielten auf Zeit; sei es, dass sie tricksten, damit die Stasi unbehelligt weitermachen konnte; sei es weil sie verunsichert waren, welche Weisungslage nun galt und wer das Sagen hatte. Nach der Drohung, den Bezirksstaatsanwalt wegen Untätigkeit und mangelndem Vertrauen abzusetzen, setzten sich die Bürgervertreter schließlich durch.[7]

In Potsdam riefen am 5. Dezember Vertreter der Neuen Forum vom Diensttelefon des hilflosen Oberbürgermeisters Bezirksstaatsanwaltschaft und Polizei zu Hilfe, bevor sie das Bezirksamt unter Kontrolle nehmen wollten[8]. Im Gegensatz zur Volkspolizei habe sich die Staatsanwaltschaft nach Einschätzung von Beteiligten „reserviert“ verhalten.[9]

In Frankfurt/Oder beteiligte sich Staatsanwalt Helmut Mecker daran, Räume zu versiegeln, nachdem das Neue Forum mit Pfarrer Christian Gehlsen an der Spitze mit einer Demo von 2000 Frankfurtern, die Begehung des Bezirksamtes in der damaligen Otto Grotewohl Straße (heute Robert Havemann Straße) durchgesetzt hatte. [10]

In Gera, wie an anderen Orten, wurden Bürgervertreter geradezu eingeladen, an der Kontrolle der Stasi teilzuhaben. „Die Initiative dafür, dass am 5. Dezember überhaupt  dort was stattgefunden hat,  ging von denen [, der Staatsseite] aus.“[9]

 Modrows Vertraute im Ministerrat verfolgten eine Doppelstrategie. Einerseits sollten den Bürgern Spielraum gewährt und die Stasi beschnitten werden, andererseits sollte die Stasi mit neuen Kompetenzen weiterarbeiten und die Akten mit brisanten Informationen auch über Spitzel vor unbefugtem Zugriff geschützt werden. („Quellenschutz“) Die Dokumente seien unter Beteiligung der Staatsanwälte „zu sichern“ hieß es doppeldeutig in einem weiteren Fernschreiben aus der Generalstaatsanwaltschaft.[10] Genau diese Funktion kam den Staatsanwälten zu. Sie konnten sich dabei immer wieder auf genau das berufen, was die Bürger einforderten, die Einhaltung des Rechtes. Mit ihrer Autorität sicherten sie daher den Bürgerzugang zu den Stasistellen und versiegelten gleichzeitig die Akten, um sie vor neugierigen Blicken abzuschirmen. [11]

Auch wenn die Besetzungen, angefangen mit Erfurt, zunächst aus dem Ruder zu laufen drohten, gelang es mit dem von Modrow initiierten Entgegenkommen, den Unmut so weit zu kanalisieren, dass manche im MfS übermütig wurden. Die Kontaktleute des MfS rieten dem Ministerpräsidenten für den 7. Dezember die Vernichtung all jener Stasi-Akten anzuordnen, die nach der neuesten Rechtsauffassung rechtswidrig anlegt waren. Das klang plausibel, war freilich schlitzohrig, da die verbliebenen Stasisten auf diese Weise Vieles loswerden wollten, was ihnen hätte Probleme bereiten können. Allerdings ging dieses Kalkül nicht auf. Der scheinbar erzielte Burgfrieden mit den Bürgern drohte zu zerbrechen, als diese neue Aktenvernichtungsbefehl publik wurde. Die Bürger werteten das als Vertrauensbruch. In Röbel an der Müritz besetzten Bürger die Stasi-Kreisdienststelle, berichtete die Staatsanwaltschaft nach Ostberlin. Die Bürger hätten kein Vertrauen mehr, auch nicht zur Staatsanwaltschaft. Die Regierung musste zurückrudern und forderte die Staatsanwaltschaft mit neuen „Weisungen“ auf, StA zusammen mit der Volkspolizei die Akten zu sichern. In zugespitzen Fällen wie in Röbel, könne man auch einfach die Gebäude versiegeln. [11]

Die Staatsanwaltschaft kam überall in der DDR in die ungewohnte Rolle des Troubleshooters zwischen Bürgern und Stasi, wie sie nach Berlin kabelten. In Neubrandenburg hatte eine Bürgerin große Feuer gesehen. „Es wird Vernichtung von Unterlagen vermutet“. Die Kreisstaatsanwaltschaft Prenzlau wurde für eine Aktion mit dem Neuen Forum angefordert[12] In Grevesmühlen wurde von der Kreisstaatsanwaltschaft und 2 Kriminalisten die Kreisdienstellte versiegelt, die Schlüssel der Panzerschränke abgezogen. Der einst mächtige SED-Sekretär konnte nur noch protestieren, nicht vorab informiert worden zu sein.[13] Dieser Einspruch blieb jedoch offenbar ohne Folgen- so hatten sich die Zeiten binnen weniger Tage geändert.

Die Staatsanwaltschaft geriet in manchen Regionen an den Rand der Überforderung. Eine „krisenhaften Situation“[14] herrsche in Dresden vermeldete der dortige Bezirksstaatsanwalt. Seine Leute seien außerstande, die Aufgabe weiter durchzuführen. Denn stündlich wüchse die Zahl der zu versiegelnden Objekte. Fast alle Stasi-Kreisdienststellen bis auf drei hätten ihre Arbeit eingestellt.

Auf Grund des Faux pas um den Aktenvernichtungsbefehl vom 7. Dezember musste die Regierung Modrow weitere Zugeständnisse machen, wollte sie nicht jeglichen Kredit verspielen. Staatssekretär Halbritter, nunmehr ganz für die Stasifrage zuständig, ordnete an, dass die „Herbeiführung von Entscheidungen“ zu den Akten von autorisierte Gruppen vorbereitet werden sollten, in den Vertreter der örtlichen Staats, Rechtspflegeorgane und „Vertreter von Bürgergruppen angehören“ sollten.[15] Der Aktenvernichtungsbefehl vom 7. 12. war damit endgültig „außer Kraft gesetzt“. Die Gewichte hatten sich vollkommen verschoben. Systematische Bürgerbeteiligung musste nun zugesagt werden.

Die Versiegelungsarbeit in den Stasistellen ging auf Kosten der eigentlichen Arbeit der Staatsanwälte, zumal sich die Anzeigen gegen staatliche Stellen, auch die Stasi häuften. Insofern hatte diese ein Interesse daran, ihre neue Aufgabe möglichst schnell wieder los zu werden.

Einen Tag nach den ersten Besetzungen waren Beauftragte der Regierung vor Ort geschickt worden, die das Vakuum füllen sollten, die den Ausfall der SED auch in den Regionen ausgleichen sollten. Auch hier hatten bis vor kurzem die örtlichen Räte, Polizei, .Stasi und Staatsanwaltschaft immer wieder den Rat des SED-Sekretariats gesucht oder von dort Weisungen bekommen. Diese Rolle nahmen nun Regierungsbeauftragte und Kommissionen ein, die Modrow ab dem 5. Dezember in die Regionen entsandt hatte. Über ihre Entstehung ist bisher nur wenig bekannt, Akten kaum zu finden. Am 5. Nachmittags waren die spontan Auserwählten in Berlin in der Klosterstraße am Sitz des Ministerrates versammelt worden. Staatssekretär Halbritter gab ihnen mündlich mit auf den Weg: Sie sollten „die Gesetzlichkeit und Arbeitsfähigkeit der Dienststellen [der Staatssicherheit] wiederherstellen und die sicherere Unterbringung der Waffen …garantieren.“ Man sei möglicherweise gezwungen Kompromisse einzugehen. „Für die Auslandsaufklärung, Spionageabwehr und Terrorabwehr dürfe es jedoch…keinerlei Zugeständnisse geben. Unbefugten dürfe keine Einsicht in die operative Unterlagen und Archive gewährt werden. Dr. Modrow habe zuverlässigen Quellenschutz angeordnet.“[16] Diese Kolportage-offenbar leider nur aus Dritter Hand- zeigt, wie ambivalent die Krisenintervention Modrows war. Er wollte eigentlich die Arbeitsfähigkeit der seit Mitte November in Reformierung befindlichen Staatssicherheit aufrechterhalten, aber offenbar nicht um jeden Preis. Der Kompromiss mit den Bürgern, das war seine persönliche Rettungsstrategie, war ihm wichtig. Diese sollten zusammen mit den Staatsanwälten die Bürger weiter einbinden und möglichst für den Regierungskurs gewinnen. Verantwortungsgemeinschaft und Sicherheitspartnerschaft waren die strategischen Stichwörter.

Diese Strategie war erfolgreicher, als von Vielen bisher angenommen. Mitte Dezember gelang es den Regierungsvertretern Bürgerkomitees in mehreren Stasistellen zunächst dafür zu gewinnen, dass die alte Geheimpolizei auf den Gebieten Terror, Wirtschaftskriminalität, Verfassungsschutz (gegen rechts) und zur Auslandspionage weiterarbeiten durfte. So wurde das sogar von Bürgervertretern gegenüber der Presse öffentlich bekundet. Dass es dazu letztlich nicht kam, und die Stasi komplett aufgelöst wurde, hatte mehr mit der allgemeinen Entwicklung der Volksbewegung in der DDR zu tun. Der Auftritt von Helmut Kohl in Dresden hatte die Deutsche Einheit als Patentlösung auf die Tagesordnung gesetzt. Hohe Abfindungen für entlassende Stasimitarbeiter erhitzten um die Jahreswende 89/90 die Gemüter. Antifaschistische Kundgebungen der SED wirkten, als wollte die Partei in alte Zeiten zurück marschieren. Als Reaktion der Bürger drohten Streiks. Erst in dieser Gemengelage nahm der Druck auf die Regierung Modrow derart zu, dass die Stasi komplett aufgelöst werden musste. Dass es dabei zu keinem Blutvergießen und kaum Gewalthandlungen kam, ist immer noch eines der erstaunlichsten Phänomene der friedlichen Revolution. Der Machtapparat war für den Bürgerkriegsfall hoch gerüstet. Auf jeden Stasimann kam im Prinzip eine Pistole und eine Maschinenpistole. Dass dieses Monstrum gewaltfrei aufgelöst wurde, lag auch daran, dass die Regierung Modrow zurückwich und auch mit Hilfe der Staatsanwaltschaft geschickt Moderationsversuche startete und die andere Seite, die Bürgerrechtler, sich auf dieses „Spiel“ einließen.

Anmerkungen

[2] Dr. Christian Booß, Historiker, Journalist. Demnächst erscheint von ihm in Zusammenarbeit mit Dr. Sebastian Richter, ein Buch über die Rolle der Staatsanwaltschaft der DDR im politischen Prozess. Kristallhart gegenüber allen Feinden. Göttingen 2024, Vandenhoek & Ruprecht

 

[3] Ebert, Frank, Später Sturm auf die Stasizentrale. In: Einheit. Geschichte zwischen Mauerfall und Vereinigung. Berlin 2018, S. 116

[4] GStA, Wendland. Schreiben an AfNS, Schwanitz. 4.12.1989. BArch, DP 3/874

[5] GStA, Herzberg, FS Blitz. An die Staatsanwälte der Bezirke, MOStA. Vermutlich 6. o 7.12.1989. BArch, DP 3/874

[6] Löhn, Hans-Peter. „Unsere Nerven lagen allmählich blan“. MfS und SED im Bezirk Halle, Berlin 1996, S.41

[7] Protokoll des Treffen mit dem Bezirksstaatsanwaltschaft und danach im Stasiobjekt Rampe. 6.12. 1989. Material Wolfgang Loukidis. Klähn, Martin. https://stasibesetzung.de/schwerin/default-title-1 (Zugriff 26.11.2023)

[8] Wernicke, Thomas, Ich habe sie dann reingelassen. Die Auflösung der Staatssicherheit 1989/90 im Bezirk Potsdam. In.  Braun; Jutta, Weiß, Peter Ulrich (Hg.) Agonie und Aufbruch. Potsdam 2014, S. 173

[9] Kruczek, Manfred; Rüdiger, Gisela, Die Herausbildung von Bürgerkomitees im Land Brandenburg und ihre Bedeutung für die Entstehung demokratischer Strukturen. MS Potsdam 2009, s. 26

[10] Kruczek, Manfred; Rüdiger, Gisela, Die Herausbildung von Bürgerkomitees im Land Brandenburg und ihre Bedeutung für die Entstehung demokratischer Strukturen. MS Potsdam 2009, S. 11; Roth, Heike, Die kurze Besetzung der MfS-Bezirksdienststelle in Frankfurt/Oder In: https://stasibesetzung.de/frankfurt/o/standard-titel (Zugriff 26.11.2023)

[11] Hofmann. FS an Sta Bezirke GstA Berlikn. 7.12.1989 14. 30 Uhr. BArch, DP 3/874

[12] StAB Neubrandenburg, Nemitz, FS an GStA. 5.12.1989. BArch, DP 3/874

[13] SED Bl Rostock. FAS an GStA. 6.12.1989. BArch, DP 3/874

[14] Sta. DD, Lindner.FS an GSTA. 7.12. 1989 11 Uhr. BArch, DP 3/874

[15] Halbritter. FS an Beaufttragen des Vors. des MR. 8.12.1989. BArch, DP 3/874

[16] Hoffman, Günter. Sturm auf die Stasi in Sachsen,