Was wusste der Bundesnachrichtendienst (BND) über die Stasi-Auflösung?

Der BND lief der Entwicklung hinterher- warb aber kontinuierlich Überläufer

Erstmals öffentlich zugängliche Akten zum Ende der Stasi 1989 belegen das.

Von Christian Booß

(Stand 3.12.2021)

Am 20. November 1989 wurde dem Präsidenten des BND ein interner Bericht vorgelegt, dass die DDR-Regierung das einstige Ministerium für Staatssicherheit in Amt für nationale Sicherheit umbenannt habe.1 Als der BND-Chef durch seine Leute von der beginnenden Demontage des einstigen Hauptgegenspielers aus den Tagen des Kalten Krieges erfuhr, stand dies in Ostberlin schon seit drei Tagen in den Tageszeitungen. Solides Zeitungswissen, angereichert mit Hintergrundinformationen aus dem Archiv, das beschreibt das meiste, was der Auslandsnachrichtendienst in den bewegten Herbst- und Wintertagen 1989 über den Untergang der Geheimpolizei der DDR zu berichten wusste. Gelegentlich befand man sich sogar in einer Art Wettlauf- mit den Medien der Altbundesrepublik. Deren Artikel über Neues von der Stasi wurden ebenfalls analysiert, oft aber abgewertet, um die eigenen Erkenntnisse in gutem, soliden Licht erscheinen zu lassen.

Soll und Haben des damaligen Ost-West-Nachrichtengeschäftes lassen sich immerhin erstmals ansatzweise nachvollziehen. Der BND legte jetzt auf Anfrage erstmals einen Teil seiner Akten von damals offen. Sie zeigen, die Pullacher misstrauten vielen neuen Informationen und setzten lieber auf altbewährte, gelegentlich aber falsche Informationen. Dass die Umbenennung des MfS nach ihrer Einschätzung eher ein „geschickter Schachzug [war], um das negative Ansehen des MfS durch eine neutral klingende Bezeichnung zu ersetzen“2 und weitermachen zu können, mochte noch angehen, auch wenn der BND den beginnenden Abbau unterschätzte. Völlig daneben lag man dagegen lange bei der Einschätzung der Größe des gegnerischen Dienstes. Selbst als Bürgerrechtler der Regierung Modrow Anfang Januar 1990 am Runden Tisch die ersten Mitarbeiterzahlen abgetrotzt hatten, hielt der BND Chef Hand-Georg Wieck in einem Schreiben an die Bundesregierung und seinen Kollegen vom Verfassungsschutz diese für „weit überhöht“.3 Während heutige Forschungen die damals genannte Zahl von 85.000 Mitarbeitern in diesen Proportionen bestätigen, hielt der BND seinerzeit an seinen überholten Erkenntnissen fest. Diese stammten im Wesentlichen aus 1979, als der MfS-Mann Werner Stiller mit dem Inhalt eines Stasi-Panzerschrankes in den Westen übergelaufen war. Für das MfS war das einer der größten Datenlecks. Aber nicht alles, was Stiller kolportiert hatte, war die ganze Wahrheit. Stiller wusste von ca. 20.000 SED-Parteigenossen im MfS. Da die meisten langjährigen Stasisten Genossen der Staatspartei war, schätzte der BND ihre Gesamtzahl daher jahrelang auf ca. 30.000. Dies entsprach aber allenfalls der Größe des Personalkörpers im Raum Berlin, in der Gesamt-DDR war er fast drei mal so groß. Auch bei der Zahl der Informanten, der berüchtigten Inoffiziellen Mitarbeiter, tappten die bundesdeutschen Dienste wohl völlig im Dunkeln. Ihre Zahlen schwankten extrem zwischen mehreren 10.000 bis zu 500.0004, während heute fast 190.000 als gesichert angesehen werden.

Dokument. BND Meldung vom Januar 1990. Bl. 1Bl. 2, Bl. 3, Bl. 4. BND-Archiv Nr. 3882

Gelegentlich ließen sich die Nachrichtendienste West sogar von damals noch üblichen Medienfinten in der SED-Presse täuschen. So behauptete Ende 1989 ein Bericht, der Rückbau des MfS erfolge unter den Augen eines „Kontrollausschuss[es]“von Bürgervertretern.5 Dass dies nur für einen kleinen Teil der Berliner Stasi, die Berliner Bezirksverwaltung in Friedrichsfelde, galt und das eigentliche Ministerium im Dezember 1989 weitgehend unbehelligt weiterarbeiten konnte, war dem bundesdeutschen Dienst entgangen. Auch mit den Örtlichkeiten kam man im fernen Bayern gelegentlich durcheinander. Die neonazistischen Schmiererei am Sowjetischen Ehrenmahl in Treptow um die Jahreswende 89/90, die die SED zur Legitimation von Geheimdiensten zu funktionalisieren suchte, verlegte man kurzerhand nach Teltow, einem Ort außerhalb Berlins.

Immerhin erstaunlich früh, schon vor der Maueröffnung, konnte der BND sein Wissen durch vier Überläufer auffrischen, die zum Zeit der Fluchtwelle in den Westen gekommen waren. Ein weiterer Informant war „geschleust worden“, d.h. heimlich vom BND aus der DDR geholt worden6 Es scheinen aber zu dieser Zeit eher kleine Fische gewesen zu sein. Die Informationen beziehen sich auf die Regionen. Dresden, Cottbus und Potsdam und den Bereich Nachrichtentechnik.7 Die Dienstgrade werden mit Kraftfahrer, Feldwebel, nur in einem Fall mit Major angegeben. Mit Operations-Decknamen wie „Mhawk“, „Quinto“, „Mosch“, „Immun“ wird die Informationsgewinnung bis heute verschleiert. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass es damals einen höher gestellten Informanten im DDR-Geheimdienst oder im für diesen zuständigen Parteiapparat gab. Etwas kurios klingt es, wie der BND versuchte, ihre Aussagen vor allem zu nutzen, um sein Image gegenüber den Parlamentarien des Deutschen Bundestages aufzupolieren. Die Überläufer hätten die Auffassung im MfS bestätigt, „Wissen und Einfluss des Bundesnachrichtendienstes könnten nicht hoch genug eingeschätzt werden.“8

Durch diese und später vier weitere Überläufer nach der Maueröffnung9 erhielt der BND Insiderwissen über Personal, Abläufe und Strukturen, die einige Jahre zuvor noch informatorischer Goldstaub gewesen wären. Im Dezember 1989 mussten die Analysten selbst einräumen, „die „täglichen Entwicklungen in der DDR überholen die bisher herausragenden Themen und Erkenntnisse der MfS-Überläufer […] in ihrer Aktualität und Wichtigkeit.“10 Der BND wurde -wie so viele- von den Ereignissen überrollt. Immerhin erhielten die Geheimdienstler einen ersten Einblick in die technischen Fähigkeiten des MfS beim Eindringen in Verbindungssysteme seines Gegners, die bis dahin in der Bundesrepublik deutlich unterschätzt worden waren. Fast ungläubig hieß es, „dem MfS [soll] es möglich sein, Erkenntnisse aus NADIS [dem Nachrichtendienstlichen Informationssystem der Verfassungsschutzämter), dem Datenspeicher des BKA [dem Bundeskriminalamt], dem Funkverkehr des BGS [dem Bundesgrenzschutz] [...] zu erlangen.“11

Auch in den Besitz eines kompletten MfS-internen Telefonbuches gelangte man auf diese Weise. Dies mag die Erklärung dafür sein, dass sich in dieser Zeit die persönlichen Anrufe bei MfS-Mitarbeitern häuften, die sie zum Überlaufen aufforderten. Von solchen Lockanrufen haben mehrere ehemaligen Tschekisten mal belustigt, mal empört berichtet. Ganz ohne Erfolg blieben sie jedoch nicht.

Besonders umzutreiben schien den BND, was aus den demobilisierten MfS-Mitarbeitern würde, die um die Jahreswende 1989/90 zuhauf entlassen wurden. Sie könnten in den Westen gehen, in der Hoffnung, dort schneller eine Beschäftigung zu erhalten. In der DDR seien sie schlecht angesehen, und an neuen Arbeitsstätten nicht willkommen. Nicht zu unrecht ging der BND davon aus, dass MfS-Mitarbeiter in Quantitäten in anderen staatlichen Institutionen untergebracht werden würden. Bei der Polizei z.B. und -brisant- bei der Armee. Die gesamte Militärische Abwehr des MfS könnte dort mit dem bestehenden Militärischen Nachrichtendienst verschmolzen werden, wurde gemutmaßt. Besondere Sorge bereitete den Experten aus Pullach der Auslandsnachrichtendienst des MfS, der es unter seinem früheren Chef, Markus Wolf, zu legendärem Ansehen gebracht hatte. Es wurde eingeschätzt, dass die ehemalige Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) weiterarbeiten würde, sogar seine Informantenwerbung intensivieren könnte. „Der massenhafte Besucherstrom in den Westen und die Aufgeschlossenheit der Bundesbürger gegenüber den DDR-Bürgern,eröffnet dem MfS neuen Möglichkeiten zur Informationsgewinnung.“12 Alarmiert ging man davon aus, dass auch die Zusammenarbeit mit dem sowjetischen KGB weitergehen würde. Der KGB könnte sowohl Informationen wie auch Personal vom MfS übernehmen.13

Ob die Akten alles offenlegen, was die bundesdeutschen Dienste damals wusste, lässt sich nicht abschließend einschätzen. Mehrere Unterlagen sind vom BND-Archiv nur deutlich geschwärzt oder gar nicht vorgelegt worden. Als Grund wird der „nachrichtliche Methodenschutz“ oder das „Wohl der Bundesrepublik Deutschland“14 angegeben, was 32 Jahre nach dem Untergang der DDR ziemlich pauschal wirkt. Immerhin beschreiben die Archivare freundlicherweise die Leerstellen.

Dass sich der einst unter seinem Chef Erich Mielke mächtige und gefürchtete Apparat im revolutionären Prozess gänzlich auflösen könnte, dafür fehlten dem BND offenbar die Phantasie- und wohl auch Insiderinformationen. Zudem schien der Apparat in seinen Analysen staatsfixiert und widmete sich wenig der Dynamik der Volksbewegung in der DDR. Die Bürgeraktivitäten, die sich seit Oktober '89 gegen die Stasi richteten, listeten verschiedene Dossiers, soweit sie Presse-bekannt waren, auf. Doch selbst nach den ersten Besetzungen in Erfurt, Suhl und Leipzig zog der BND daraus keine weiterreichenden Schlüsse.15 Es sei „zu bezweifeln“, ob es dem Regime gelungen sei, in der Bevölkerung „Vertrauen“16 für die Reformierung des MfS zu gewinnen, heißt es lapidar. Selbst ein Sprechzettel für den Präsidenten des BND vom Mittag des 15. Januar 1990 enthält noch keine Hinweise auf die nur Stunden später folgenden Ereignisse, die weltweit Schlagzeilen machten. Die Behauptung, bei dieser Erstürmung der Stasi-Zentrale habe der BND eine maßgebliche Rolle gespielt, wird zwar vom ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten, Hans Modrow, und ehemaligen MfS-Größen weiterhin gestreut. In den vorgelegten Akten findet sich dazu kein Indiz. Sie vermitteln eher den Eindruck, dass der Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik den „Sturm auf die Normannenstraße“ beinahe verschlafen hätte. Dass Bürgerrechtsgruppen schon seit Tagen, strategisch die Übergabe der Stasi-Zentrale geplant hatten, dieses am Vormittag am Runden Tisch vor laufenden Fernsehkameras angekündigt hatten, und dieses Vorhaben dann am Nachmittag des 15. Januar erfolgreich realisierten, war den Pullachern offenbar entgangen. Die ebenfalls vor den Toren des Geheimdienstes in Berlin stattfindende Demonstration des Neuen Forum wurde als Aktion mit einem „gewissen 'Symbolwert'“ in ihren Folgen unterschätzt. Die sich anschließende Erstürmung des Geländes durch Demonstranten wird so gedeutet, dass „begrenzt der Volkswut gegen die die Stasi ein Ventil geöffnet werden sollte“.17 Dass danach endgültig Schluss mit der Stasi sein sollte, kam den bundesdeutschen Nachrichten-Beamten offenbar nicht in den Sinn. Aber von den Bürgerkomitees, die seit Dezember die Stasiauflösung Forderungen und kontrollierten, schien der BND ohnehin nicht viel zu halten. Er warnte später das Kanzleramt, diese könnten die Lage in der DDR destabilisieren.

Anmerkungen 

1 Dossier vom 20.11.1989. BND-Archiv Nr. 3883, Bl. 378-384.

2 Ebd. Bl. 381.

3 Bericht des Präsidenten des BND. 15.1.1990, BND-Archiv Nr. 3882, Bl. 434.

4 Die Information stammte von einem Überläufer, den das Bundesamt für Verfassungsschutz befragt hatte. Nachrichtendienstlage im Bundeskanzleramt vom 9.1.1990. BND-Archiv Nr. 3882, Bl. 441.

5 Fernschreiben des Präsidenten an die Bundesregierung, das Bundesamt für Verfassungsschutz, u.a.. 27.12.1989. BND-Archiv Nr.3882, Bl. 427.

6 Sprechzettel für die PKK- [parlamentarische Kontrollkommission des Deutschen Bundestages] Sitzung vom 13.12.1989. BND-Archiv Nr. 3882, Bl. 496-501.

7 Bericht vom 8. 12. 18. BND-Archiv Nr. 3988, Bl. 10-16.

8  Ebd. Bl. 2.

9 Bericht vom 8. 12. 18. BND-Archiv Nr. 3988, Bl. 10-16.

10 Ebd. Bl. 14.

11 Ebd. Bl. 11.

12 Fernschreiben des Präsidenten an die Bundesregierung, das Bundesamt für Verfassungschutz, u.a.. 5.12.1989.  BND-Archiv Nr. 3882, Bl. 504.

13 Fernschreiben des Präsidenten an die Bundesregierung, das Bundesamt für Verfassungschutz, u.a.. 13.12.1989. BND-Archiv Nr. 3882, Bl. 407.

14 BND-Archiv Nr. 3882, Bl. 465.

15 Dossier vom 11. 12.1989 an den Präsidenten des BND, BND-Archiv Nr. 3882, Bl. 480-486.

16 Mitteilung vom 5. 12. 1989, BND-Archiv Nr. 3882, Bl. 505.

17 BND-Archiv Nr.3882, Bl. 432 f.