Die kurze Besetzung der MfS-Bezirksdienststelle in Frankfurt/Oder

 

Autorin: Heike Roth

(Text in Bearbeitung)

Textgliederung:

Vorgeschichte

Druck auf die Stasi wächst- Besetzung

Abläufe ab dem 6. Dezember- Zurückdrängung der Bürgerrechtler

Bildung einer lokalen Koordinierungsgruppe zur Auflösung des AfNS/MfS

IM in den Bürgergruppen- und die Rolle der Vorsitzenden, Rosemarie Fuchs

Positionen des Koordinierungskomitees zu den Stasi-Unterlagen

 

Text:

Die kurze Besetzung der MfS-Bezirksdienststelle in Frankfurt/Oder

Autorin: Heike Roth

 

Vorgeschichte

Auch in Frankfurt/Oder formierte sich im Herbst `89 eine oppositionelle Bürgerbewegung. Beispielsweise bot der ökumenische Pauluskreis, der mit Wissen und Einverständnis der katholischen Gemeinde der Stadt zusammenkam, der kirchlichen Opposition eine Plattform. Über den Pauluskreis existierten Kontakte zur Leipziger Bürgerbewegung. Andere Kerne der Oppositionsbewegung waren das evangelische Wichernheim, das Halbleiterwerk, aber auch die Ärzteschaft des Bezirkskrankenhauses. Eine zufällige Begegnung der Frankfurterin Renate Schubert, Krankenschwester im Wichernheim, mit dem Mitbegründer des Neuen Forum, dem Eisenhüttenstädter Rechtsanwalt Rolf Henrich, führte im Oktober 1989 dazu, dass auch in Frankfurt eine Basisgruppe des Neuen Forum gegründet wurde. Etwa 50 Bürger kamen zum ersten Treffen, das im Haus von Renate Schubert stattfand. Von der evangelischen Kirche erhielt das Neue Forum die Zusage, einen Raum für eine erste öffentliche Veranstaltung zur Verfügung zu stellen. Zu dieser Veranstaltung am 18.10., die unter dem Motto „Ohne Gewalt – für Demokratie und Freiheit“ stand, kamen etwa 1300 Bürgerinnen und Bürger. Gerechnet hatten die Organisatoren mit höchstens 200, zumal es für die Einladung keinen gedruckten Aufruf gegeben hatte. Statt, wie geplant, im Gemeindesaal musste die Versammlung schließlich in der Georgenkirche stattfinden. Es sprach unter anderem Rolf Henrich.

Obwohl noch nicht offiziell zugelassen, traf sich das Neue Forum weiterhin. Es bekam Räumlichkeiten im Wichernheim zur Verfügung gestellt. Ein etwa 25-köpfiger provisorischer Sprecherrat wurde gebildet, für den 1. November eine große Kundgebung und Demonstration geplant. Mindestens 30.000 Menschen folgten dem Aufruf zum gewaltfreien Protest. Auf Transparenten wurden Forderungen nach freien Wahlen, Wehrersatzdienst, Zulassung des Neuen Forum, einer Bildungsreform laut. Auch die Losung „Stasi in die Produktion!“ war auf Plakaten zu lesen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war die SED-Bezirksleitung in die Defensive gedrängt. Am 8. November, nachdem auch in Berlin eine Massenkundgebung stattgefunden hatte, erreichte das Neue Forum seine Zulassung. Am gleichen Tag trat in Frankfurt/Oder die dortige SED-Bezirksvorsitzende, Christa Zellmer, zurück. Am 19.11. fand eine Demonstration der Künstlerverbände und Kulturschaffenden mit 10.000 Beteiligten statt. Am 29.11. folgten die Frankfurter Bürgerinnen und Bürger erneut einem Aufruf des Neuen Forum zur Demonstration in der Frankfurter Innenstadt.

Druck auf die Stasi wächst- Besetzung

Auf der Demonstration vom 29.11., mit ca. 25.000 Teilnehmern die zweitgrößte während der Friedlichen Revolution in Frankfurt, überreichte Pfarrer Christian Gehlsen vom Neuen Forum der Leitung der Bezirksverwaltung des MfS/AfNS eine Resolution. In dieser wurden Gespräche mit der Stasi-Leitung, er Stopp der Aktenvernichtung, die Offenlegung der Haftbedingungen und Gespräche mit Gefangenen gefordert. Als Ultimatum war der 10.12. genannt.

Über die Kontakte des Neuen Forum nach Leipzig waren die Frankfurter über die dortigen Entwicklungen und die Besetzung vom 4. Dezember informiert. Auch wurden Gerüchte über den Transport von Archivmaterialien nach Rumänien in Frankfurt bekannt.

Die Besetzung der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit erfolgte schließlich am 5. 12. Sie war eine zunächst ungeplante und unkoordinierte Reaktion zweier Kollegen vom Neuen Forum aus dem Wichernheim, die am Morgen telefonisch informiert worden waren, dass nachts Lastkraftwagen aus dem Stasi-Gebäude herausfahren würden. Christian Gehlsen, der diese Anrufe an seinem Arbeitsplatz im Wichernheim entgegengenommen hatte, informierte seine Kollegin Marianne Kowoll. Diese benachrichtigte wiederum umgehend Staatsanwaltschaft und Volkspolizei, dass aus der Stasi-Zentrale vermutlich Akten abtransportiert würden. Gegen 9.30 Uhr wurde Clemens Hansch, ebenfalls Mitglied im Neuen Forum, im Institut für Halbleiterphysik telefonisch verständigt, der sich daraufhin mit ca. 10 Kollegen auf den Weg zur Stasi-Zentrale machte. Initiatoren der Besetzung waren also auch in Frankfurt die von dem Berliner Historiker Kowalcuzk in seiner Publikation „Das Endspiel“ so treffend charakterisierten „beherzten Bürger“, die im entscheidenden Moment handelten.1

Am 5.1.1989, gegen 10.30 Uhr, fuhr Christian Gehlsen den Transporter des Wichernheims vor die Frankfurter Bezirkszentrale in der Otto-Grotewohl-Straße, heute Robert-Havemann-Straße. Vier Angehörige des Neuen Forum, darunter Gehlsen und Kowoll, verschafften sich Zutritt zu dem Gebäude. Sie wurden einzeln kontrolliert, jeder in einem separaten Raum. Der amtierende Frankfurter Stasi-Chef, Oberstleutnant Gerhard  Weckener bestritt die Aktenvernichtungen. Marianne Kowoll begab sich zurück ins Wichernheim und mobilisierte telefonisch zusammen mit Renate Bauer die Frankfurter Bürgerbewegten. Gegen 14.00 Uhr versammelten sich ca. 2.000 Frankfurter Bürger vor dem Stasi-Gebäude. Sie forderten, den ehemaligen Leiter des MfS-Bezirksamtes, Generalmajor Heinz Engelhardt,2 zu sprechen.

Generalmajor Engelhardt war kurz zuvor nach Berlin beordert worden, um die Leitung des neuen Amtes zu verjüngen. Da sein amtierender Stellvertreter in Frankfurt der Sache nicht gewachsen war, fuhr Engelhardt nach Frankfurt zum Krisenmanagement. Engelhardt stellte sich der Diskussion und ließ schließlich 20 Bürgervertreter ins Haus – eine ad hoc gebildete Gruppe.

Film Heinz Engelhardt, letzter Chef der DDR-Geheimpolizei

Die Frankfurter Stasi-Mitarbeiter hatten ihrem ehemaligen Chef dringend abgeraten, sich der Diskussion mit den Demonstranten zu stellen. Die bewaffnete Spezialtruppe zur Bekämpfung von Terrorismus hielt sich im Hintergrund mit der Schusswaffe bereit.  

Film Heinz Engelhardt, letzter Chef der DDR-Geheimpolizei

Das Archiv und ein Rechner wurden in Augenschein genommen. Vieles deutete auf die Vernichtung von Unterlagen hin. Der Staatsanwalt Dr. Helmut Meckert versiegelte Räume. Am nächsten Morgen sollte sich jedoch zeigen, dass sie aufgebrochen waren. Zusammen mit der Volkspolizei wurden Tag und Nachtwachen eingeteilt, die vor den zwei an der Straße liegenden Toren und dem hinteren Tor postiert waren. Eine Wache der Volkspolizei wurde vor dem Haupttor installiert. Die wenigen Bürgervertreter hatten keine Chance, den großen Komplex und seine Beschäftigten zu kontrollieren. Es gab zum Beispiel keine Pläne zur Orientierung. Kontrollen der Stasi-Mitarbeiter beim Betreten oder Verlassen des Gebäudes hat es nicht gegeben. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass auch nach der Besetzung noch Papiere aus dem Gebäude entfernt worden sind. Es konnte auch keine dauerhafte wirksame Kontrolle über das große Gebäude mit seinen vielen Ein- und Ausgängen erreicht werden, ebensowenig wie über die wahrscheinlich damals noch mehr als 1000 hauptamtlichen Beschäftigten des AfNS/MfS, die auch in der Zeit nach der Begehung, wie gewohnt, zum Dienst in das Gebäude kamen. Eine wirkliche Perspektive hatten sie nicht mehr.

Film Heinz Engelhardt, letzter Chef der DDR-Geheimpolizei​​​​​​​

Staatsanwaltschaft und Volkspolizei waren von Anfang an in die Begehung der Stasi-Beszirksverwaltung einbezogen. Mit der Volkspolizei war das Neue Forum wegen der Demonstrationen schon Wochen zuvor eine Sicherheitspartnerschaft eingegangen. Die Volkspolizei trug erfolgreich dazu bei, dass der es friedlich blieb.

Abläufe ab dem 6. Dezember- Zurückdrängung der Bürgerrechtler

In den ersten Tagen nach der Besetzung trafen viele Meldungen über konspirative Stasi-Objekte ein, zu denen sich daraufhin Bürger Zutritt verschafften. Am 9.12. um 0.00 Uhr stellten alle Kreisämter für Nationale Sicherheit im Bezirk Frankfurt ihre Tätigkeit ein, was allerdings aus Sicherheitsgründen schon länger vom AfNS/MfS geplant war. Ab dem 5. Januar 1990 übernahm die Volkspolizei Waffen und Munition des Bezirksamts für Nationale Sicherheit und aller ihrer Kreisämter.

Am 6.12. erhielt das Neue Forum einen Hinweis, wahrscheinlich von Stasi-Mitarbeitern selbst, dass in den Garagen des Fuhrparks vom Wachregiments hinter dem Hauptfriedhof noch immer eine Papierverkollerungsmaschine arbeiten würde. Ulrich Schröder und Lothar Tanzyna, beide Neues Forum, besichtigten den Garagenkomplex und fanden Verkollerungsmaschinen sowie einen meterhohen Haufen von vernichtetem Papier. Die Verkollerungsmaschine wurde versiegelt.

Trotz derartiger Erfolge gab es deutliche Rückschläge. Ebenfalls am 6. Dezember hatten Mitglieder des Neuen Forum ein Gespräch mit dem amtierenden Leiter, Oberstleutnant Weckener. Das Haupthaus des AfNS/MfS wurde während dieser Zeit von bewaffneten Stasi-Offizieren bewacht. Die Unterhändler wurden lange im Gebäude festgehalten, das Gespräch verlief letztlich ergebnislos. Das Neue Forum war offenkundig nicht Herr der Lage und musste nach zwei Tagen, als sich kaum noch Frankfurter Bürger bereit erklärten, nachts vor der Stasi Wache zu halten, die Bewachung einstellen.

Am 8.12. schrieben Mitarbeiter des Amtes für Nationale Sicherheit an den Präsidenten der Volkskammer, den Vorsitzenden des Ministerrats und andere Verantwortliche. Sie forderten die „sofortige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Amtes“ und die „Vernichtung aller Akten, die mit der falschen Sicherheitskonzeption in Zusammenhang zu bringen sind unter Aufsicht autorisierter Gremien“.

Bildung einer lokalen Koordinierungsgruppe zur Auflösung des AfNS/MfS

Ab dem 7. 12. kam Jürgen Grajcarek als Beauftragter der Regierung Modrow nach Frankfurt. Er brachte den Regierungsbeschluss mit, dass unrechtmäßig erstellte Akten zu vernichten seien.3 Dagegen regte sich Widerspruch. Es wurde eine Koordinierungsgruppe zur Auflösung des MfS/AfNS gebildet, die später gelegentlich auch Bürgerkomitee genannt wurde. Zu ihren Aufgaben gehörte auch die Kontrolle der Überführung von Unterlagen aus den Kreisdienststellen nach Frankfurt/Oder.

Von Seiten des Neuen Forum arbeiteten Christian Gehlsen, Dieter Just, Herr Ebert und Rosemarie Fuchs mit. Letztere hatte am 6.12. auf einer Versammlung von ca. 200 Bürgervertretern ihr Mandat erhalten, was sich bald als problematisch herausstellen sollte. Am 10.12. fand zunächst ein Gespräch zwischen dem Leiter des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit, seinem Pressesprecher4 und dem Regierungsbeauftragten Jürgen Grajcarek mit ca. 70 Frankfurter Bürgern statt. Aus diesem Anlass entschuldigte sich der amtierende Leiter, Weckener, für Fehler, die das MfS in der Vergangenheit gemacht habe, was offenbar der Beruhigung der Lage dienen sollte.

Die konstituierende Sitzung der Auflösungs-Koordinierungsgruppe wurde erst am 19. Januar 1990 vom Regierungsbeauftragten, Jürgen Grajcarek, einberufen. Jede Partei und politische Gruppierung war berechtigt, eine Person zu entsenden. Darüber hinaus waren Polizei und Staatsanwaltschaft vertreten. Die vom Runden Tisch Frankfurt5 benannten kirchlichen Vertreter waren zunächst nicht eingeladen. Nach einem Einspruch des Generalsuperintendenten, Leopold Esselbach, der den Runden Tisch leitete, konnte sie doch noch teilnehmen.

Die Koordinierungsgruppe bildete fünf Arbeitsgruppen, die am Auflösungsprozess mitwirkten: AG Objekte, AG Kader, AG Sicherheitspartnerschaft, AG Akten/Unterlagen und AG Verflechtung. Zur AG Akten/Unterlagen gehörten zwei Offiziere der Kriminalpolizei, zwei Offiziere der Volkspolizei, ein Mitglied der Bezirksstaatsanwaltschaft, ein Mitarbeiter des Zentralen Staatsarchivs Potsdam sowie in wechselnder Anzahl Frankfurter Bürger, die sich für diese Arbeit freistellen ließen oder von Einrichtungen dahin delegiert wurden. Die Aufgabe der AG Akten/Unterlagen bestand hauptsächlich in der Umlagerung von Akten, die am 23.03. abgeschlossen war. Roland Totzauer war zeitweilig der einzige Bürgervertreter in dieser AG. Alle Bürger, die in die Arbeit des Bürgerkomitees eingebunden waren, waren gleichzeitig in den Gremien des Neuen Forums tätig, die sich mit ganz anderen Fragen wie Verkehr, Wirtschaft, Recht, Bildung etc. beschäftigten, um die kommunale Ordnung und Versorgung aufrecht zu erhalten und um neue kommunale Strukturen zu schaffen.

Die Koordinierungsgruppe tagte einmal wöchentlich und legte bei dieser Gelegenheit regelmäßig einen ca. halbstündigen mündlichen Rechenschaftsbericht vor.6 Die Zuständigkeit des Regierungsbeauftragten Jürgen Grajcarek7 und der anderen staatlichen Institutionen im Gremium wurde nie in Zweifel gezogen. Da die verbliebenen Stasi-Mitarbeiter bei der Abwicklung der Geheimpolizei stets den Anschein erweckten, sich diszipliniert und korrekt zu verhalten und sich an Strukturen und Befehle zu halten, war, heute schwierig zu verstehen, sogar in ihre Tätigkeit ein gewisses Vertrauen vorhanden.

Am 6. Dezember 1989 hatte die Bezirkszeitung ehemaligen SED-Bezirkszeitung „Neuer Tag“ über die „Besichtigung“ des Bezirksamts durch Bürgervertreter berichtet. Am 9. Dezember vermeldetet sie die Beendigung der Arbeit der Kreisämter. Eine aktive Zusammenarbeit zwischen Kontrollgruppe und Presse hat es nicht gegeben. Allerdings konnte das Neue Forum durchsetzen, dass ihm eine eigene Seite im „Neuen Tag“ zur Verfügung gestellt wurde. Diese, „Unsere Seite“ genannt, erschien zum ersten Mal am 20. Dezember. Christian Gehlsen veröffentlichte hier einen Artikel unter dem Titel „Stasi in die Volkswirtschaft“, in dem er sich, legitimiert vom Neuen Forum, als Ansprechpartner für Opfer der Stasi, aber auch für ehemalige Stasimitarbeiter, die einen „neuen Weg ins Leben suchen“, zur Verfügung stellte. Später weigerte sich die Zeitung, einen Artikel über die Gründe zu schreiben, warum Christian Gehlsen aus der Koordinierungsgruppe zur Stasi-Auflösung ausgeschieden war.

Schon Ende 1989, am 28. Dezember, wurde in der Presse die Einrichtung einer Rehabilitierungskommission bekannt gegeben. Den Beschluss dazu hatte der Runde Tisch der Stadt gefasst. Unter Zusicherung der Vertraulichkeit konnten Bürger, die sich wegen politischer Verfolgungen rehabilitieren lassen wollten,8 in die samstägliche Sprechstunde kommen und gegebenenfalls juristische Beratung in Anspruch nehmen. Dieses Angebot fand regen Zuspruch. Viele Menschen brachen zum ersten Mal ihr jahrelanges Schweigen über Verfolgung und Bedrohung. Die Rehabilitierungskommission arbeitete bis Ende April und dokumentierte insgesamt 154 Fälle.9 

Am 16.01. berichtete der Regierungsbeauftragte Jürgen Grajcarek am Runden Tisch des Bezirks von der Auflösung der Staatssicherheit. Generalsuperintendent Esselbach forderte, mehr Bürger und die Öffentlichkeit stärker zu beteiligen. Am 6. Februar nahm der Runde Tisch einem Zwischenbericht zur Auflösung des Bezirksamts für Nationale Sicherheit entgegen, den Rosemarie Fuchs, Jürgen Grajcarek und H. Ammer, vom Rat des Bezirkes, vorlegten.

Auf Grund der allgemeinen Entwicklung in der DDR, wurde das MfS/AfNS dennoch seit Mitte Januar ersatzlos aufgelöst. Dennoch kam es selbst in dieser Zeit trotz Bürgerkontrolle zu skandalösen Vorfällen. Mitte Februar entdeckte Pfarrer Matthias Gürtel neben einer Papierverkollerungsmaschine einen Sack mit Akten. Die befragten Stasi-Offiziere behaupteten, dass nur Akten Duplikate vernichtet würden. Die Kommission legte daraufhin die Doppelversiegelung aller Aktenräume fest und stellte einen Misstrauensantrag gegen den Staatsanwalt vor Ort, Strunk. Gürtler erstattete Anzeige wegen dieser Aktenvernichtung entgegen dem ausdrücklichen Verbot. Die Aktenvernichtung wurde durch die Kriminalpolizei Frankfurt/Oder untersucht.10 Es fanden Zeugenanhörungen statt. Trotz der Aussage einer Mitarbeiterin, die zu Protokoll gab, sie habe die Aufgabe gehabt, Akten mit rotem Deckel11 nebst Inhalt ungelesen auszusortieren und dass diese anschließend zerrissen worden seien, wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt. Die abschließende Feststellung  lautete, die Akten seien versehentlich in die Verkollerungsanlage gelangt.

IM in den Bürgergruppen- und die Rolle der Vorsitzenden, Rosemarie Fuchs

Bereits im Oktober 1989 waren zwei Spitzel der Staatssicherheit enttarnt, die sich beim Neuen Forum eingeschlichen hatten. Derartige IM, die es wohl gegeben hat, die aber nach Aussagen der Zeitzeugen leicht als solche zu identifizieren waren, sind von den Frankfurter Bürgerbewegten nie als Bedrohung empfunden worden. Bis heute ungeklärt ist allerdings die Rolle von Rosemarie Fuchs. Fuchs, Ingenieurin im Halbleiterwerk, war Mitglied im Neuen Forum seit der ersten Stunde und auch eine der Stasi-Besetzerinnen. Auf Vorschlag von Pfarrer Gehlsen, der ihren Namen bei der Abstimmung am 6. Dezember ins Spiel gebracht hatte, arbeitete sie im Kreis derjenigen mit, die von Seiten des Neuen Forum die Stasi-Auflösung koordinierten. Auffällig war, dass sie relativ zeitnah zur Stasi-Besetzung ihre Tätigkeit im Halbleiterwerk aufgab, um sich hauptamtlich der Stasi-Auflösung zu widmen, wo sie alsbald zur stellvertretenden Leiterin der Koordinierungsgruppe avancierte. Anderen war es zu diesem Zeitpunkt dagegen nicht möglich, sich für diese Tätigkeit freistellen zu lassen. Schon Mitte Dezember hatte Fuchs nicht mehr das Vertrauen des Neuen Forum. Erste Versuche, sie zurückzuziehen, scheiterten allerdings. 

An den ersten Sitzungen der Bürgerkomitees der DDR, im Januar 1990, nahm sie als Delegierte des Neuen Forum Frankfurt für das „Bürgerkomitee" teil, das es in dieser Form nie gegeben hat. Auch an der Übernahme der MfS-Zentrale in Berlin durch die DDR-Bürgerkomitees am 15. Januar 1990 nahm sie teil.

Manchem Beteiligten, der zur Stasi-Auflösung nach Frankfurt kam, wie der vom Runden Tisch nominierte Kirchenvertreter, Pfarrer Justus Werdin, fiel ihre teilweise ungewöhnlichen Positionen und Handlungen auf. Werdin berichtet, wie Frau Fuchs eines Tages, mit dem Bezirksstaatsanwalt im Schlepptau, die Mitarbeiter der Koordinierungskommission damit überraschte, dass sie diese für die Akteneinsicht unter Geheimnisverpflichtung stellen wollte. Als Kommissionsangehörige dies ablehnten, weil sie dadurch in der öffentlichen Kontrolle behindert würden, wirkte Frau Fuchs konsterniert. Im Februar eskalierte die Situation, als Pfarrer Matthias Gürtler, der zweite Kirchenvertreter, wie geschildert, Akten fand, die in einer Verkollerungsmaschine vernichtet werden sollten. Die Ermittlungen dazu verliefen im Sande. Nach diesem Vorfall bekam Frau Fuchs sogar noch die Schlüsselgewalt für das Archiv. Fuchs verwehrte Pfarrer Gehlsen am 22. Februar auch noch den Zutritt zum Archiv. Daraufhin kündigte dieser seine Mitarbeit auf und forderte eine unabhängige Kontrolle der Koordinierungskommission, was aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr durchzusetzen war. Im Mai 1990 ergriffen erneut Mitglieder des Neuen Forum die Initiative, um Frau Fuchs an der weiteren Ausübung ihrer Tätigkeit zu hindern. Clemens Hansch und andere suchten sogar das Gespräch mit dem damaligen Innenminister, Peter-Michael Diestel. Sie wurden jedoch abgewiesen. Der Innenminister war für die Anhänger des Neuen Forum aus Frankfurt/Oder nicht zu sprechen. Frau Fuchs hatte noch bis zum 18. März 1991 Zugang zum Archiv.12 Wegen der immer wieder gegen Frau Fuchs erhobenen Vorwürfe, sie habe Stasi-Akten vernichten lassen und mit ehemaligen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit zusammengearbeitet, leitete die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Oder 1993 gegen sie ein Verfahren wegen des Verdachts des schweren Gewahrsamsbruches ein. Beweise für die Vorwürfe fanden sich nicht, die Ermittlungen gegen Frau Fuchs wurden Anfang 1995 endgültig eingestellt.

Positionen des Koordinierungskomitees zu den Stasi-Unterlagen

Erklärtes Ziel des Bürgerkomitees war von Anbeginn, die Akten zu sichern, ihre weitere Vernichtung zu unterbinden, und später Akteneinsicht und die Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu ermöglichen. Einige wenige verlangten, dass ihre Akte vernichtet werden sollte. Im Gegensatz zu der Forderung der Mehrheit nach Aktensicherung stand die geschilderte Entdeckung fortgesetzter Aktenvernichtung während der Sitzung der Koordinierungskommission am 15. Februar 1990.

 

Anmerkungen:

1 Kowalczuk, Ilko Sascha: Endspiel, München 2009

2 Engelhardt war kurz zuvor nach Berlin abkommandiert worden, wo er schließlich zum letzten Geheimdienstchef der DDR avancieren sollte. Da sein amtierender Vertreter mit der Siutation überfordert schien, war er von Berlin nach Fraunkfurt geeilt. Interview Link in Arbeit.

3 Link in Arbeit

4 Presseoffizier Hoffmann, Oberstleutnant Weckener

5 erster Runder Tisch in Frankfurt/Oder am 19.12.

8 von jeweils 8.00-18.00 Uhr im Haus der Demokratie

10 Akte 256/90

11 Jüngere IM-Unterlagen hatten beim MfS in der Regel organe-rote Einbände.

12 Damals wurde Hannelore Köhler, ehemals, Bürgerkomitee Normannenstraße, als Leiterin der Außenstelle Frankfurt durch die Stasi-Unterlagenbehörde eingesetzt. Rosemarie Fuchs hatte auch gute Kontakte zum damaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Stasi-Auflösung, Eckart Werthebach. Ab Herbst 1990 war sie Abgeordnete im Brandenburgischen Landtag für die FDP. Hier fiel sie durch ein fingiertes Attentat auf sich selbst auf. Später versuchte sie zusammen mit einem MfS-Mann ein Import-Exportunternehmen aufzubauen.