Die Besetzung der Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Erfurt

Bürgerinnen und Bürger bei der Besetzung am 4. 12. 1989 im Gespräch mit dem Leiter der Stasi Erfurt, Generalmajor Schwarz (in der Mitte):
(vlnr. hinten): Rolf Tanz, unbekannte Person (Günther Richter?), Gabi Stötzer (Kachold), Barbara Sengewald (Weisshuhn), (vlnr. vorn): Tely (Petra) Büchner (unten), Kerstin Rakuna Schön (v. hinten), Arthur Wild (v. hinten), unbekannte Person, Johannes Staemmler.
(Foto: S. Fromm. Zum vergrößern auf das Foto klicken.) 

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Die Besetzung der Stasi am Morgen des 04.12.19889 in Erfurt war eine spontane Aktion, die von mutigen Frauen eingeleitet wurde: Einerseits von Kerstin Schön und Sabine Fabian, andererseits Angelika Schön. Zu den weiteren ersten Akteuren gehörten Gabi Kachold, Petra (Tely) Büchner, Claudia Bogenhardt, Almuth Falcke, Barbara Weisshuhn, Elisabeth Kaufhold, Verena Kyselka, aber auch Manfred Ruge, Ulrich Scheidt, Heino Falcke und viele andere. Denn ohne die große Menge an Menschen, die schnell zusammenkamen, hätten alle die Schritte nicht zum Erfolg geführt . Deshalb gebührt auch den vielen ungenannten die Ehre, an der ersten Stasi-Besetzung beteiligt gewesen zu sein.

Warum aber waren gerade Frauen die ersten? Sowohl in der Bürgerinneninitiative "Frauen für Veränderung", als auch im Neuen Forum und in unterschiedlichen Kreisen der Evangelischen Kirche gab es politisch aktive Frauen die sich untereinander kannten. Sie waren mutig und entschlossen, einen aktiven aber, und das ist besonders hervorzuheben, friedlichen, gewaltlosen Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung der DDR zu leisten.

Dass dieses Engagement und die einzelnen Aktionen bei allen Beteiligten nicht ohne Angst abliefen ist verständlich. „… Wenn das schief geht, landen wir alle im Keller!...“, erinnerte sich Frau Falcke. Diese Angst war zutiefst berechtigt. Nach den aufgefundenen Unterlagen in der Erfurter Außenstelle der BStU existierte ein Verteidigungsplan der BV Erfurt des MfS, der den Besetzern allerdings nicht bekannt war. In diesem Plan wurde der gesamte Bereich der BV in vier Verteidigungssektoren eingeteilt. Jeder Sektor enthielt Verteidigungspunkte, die mit Maschinengewehren und Maschinenpistolen ausgerüstet werden konnten und von denen aus genaue Beobachtungs- und Schusssektoren abzudecken waren.Die Besetzung der Bezirksverwaltung des MfS/AfNS war ein in der Geschichte der DDR bislang beispielloser Vorgang. Das Ende des MfS begann nicht mit der Erstürmung der Berliner Zentrale in der Normannenstraße, sondern mit der Besetzung der Bezirksverwaltung des MfS/AfNS in Erfurt, deren Versiegelung und schließlich Lahmlegung. ”Die Tabuzone wurde in der Erfurter Andreasstraße durchbrochen”.

Dass die Erfurter Aktion den Anfang für eine endgültige Kampfunfähigkeit der Krake Stasi bedeutete, war am 4.12.1989 keineswegs sicher. ”Natürlich konnte damals noch niemand ahnen, dass mit der Besetzung in der Andreasstraße eine gewaltige Unterdrückungsmaschinerie beseitigt werden konnte.”

Zweifelsfrei ist die Signalwirkung, die von der Erfurter Besetzung ausging. Noch am gleichen Tag erfolgten gleichartige Aktionen in Leipzig (nach der Montagsdemo), in Suhl, Schwerin und Rostock. Diese setzten sich am 5.12 in Dresden, Frankfurt/O, Magdeburg und vielen anderen Städten der DDR fort.

Bei aller Widersprüchlichkeit die in den verschiedenen Aktionen des Bürgerkomitees zu erkennen waren, das eigens zur Auflösung der STASI gegründet wurde; bei allen personellen und fachlich-sachlichen Schwächen; bei dem oftmals plötzlichen, der aktuellen Situation angemessenem spontanen Handeln; bei aller Naivität und Unentschlossenheit, die Macht in der Stadt Erfurt zu übernehmen; bei allen Versuchen der Irreführung und psychologischen Beeinflussung durch die ehemaligen Mitarbeiter der MfS/AfNS war die mühevolle und engagierte Arbeit aller politisch bewussten Bürger aus den alten und neu gegründeten Parteien und oppositionellen Gruppen, die sich im Bürgerkomitee vereinigt hatten, ein absoluter Höhepunkt in dem geschichtlichen Prozeß des Herbstes 1989 und des Jahres 1990.

„Aus den Fesseln der Angst befreien“ – mit diesem Text auf der Gedenktafel wird an die erste Besetzung einer Zentrale des MfS erinnert. Diese erste mutige spontane Aktion am 4.12.1989 in Erfurt war die Initialzündung für alle anderen Besetzungen und war mit ihrer Organisationsform einzigartig und beispielgebend für die viele andere Städte. Sie war ein Signal und Fanal für die gesamte DDR und darüber hinaus.

Dem tatkräftigen Einsatz der Mitglieder des Bürgerkomitees ist es zu danken, daß die Vernichtung der Akten und Unterlagen, die das MfS akribisch über die Bürger der DDR angelegt hatte, im Dezember weitgehend eingestellt wurde. Damit stehen sie heute im Rahmen des STASI-Unterlagengesetzes zur Einsichtnahme, Überprüfung, Forschung und Rehabilitierung zur Verfügung. Auch die Überprüfung der Volkskammerabgeordneten im Frühjahr 1990 auf Zusammenarbeit mit der STASI sind der Hartnäckigkeit des Erfurter Bürgerkomitees zu verdanken. Damit wurde auch die bis heute weiter gehende Überprüfung von Parlamentsabgeordneten möglich.

Mit der Besetzung und der Aufarbeitung dieses Teils der DDR-Vergangenheit wurde ein neuer Abschnitt im Prozeß der gesellschaftlichen Umwandlung in der DDR in Gang gesetzt, der historische Dimension als Beispiel für den ganzen ehemaligen Ostblock erhalten sollte.Erstmals in der Geschichte wurde ein Geheimdienst, der als Machtinstrument einer Diktatur gegen das eigene Volk gerichtet war, von diesem Volk selbst aufgelöst. Die Mittel der Repressionen wie die Bespitzelung in allen ihren Ausmaßen, die Planung der Internierungslager für Andersdenkende, das Durchdringen der Gesellschaft mit „Inoffiziellen Mitarbeitern“ (IM) und „Offizieren im besonderen Einsatz“ (OibE), Methoden der psychischen und auch physischen Zerstörung von Menschen wurden öffentlich gemacht. Die Methoden und Arbeitsweise eines diktatorischen Geheimdienstes sind damit in all seiner Brutalität, aber auch seiner Begrenztheit sichtbar geworden.

Es ist damit ein Stück wahrscheinlicher geworden, dass hier nie wieder die elementaren Menschenrechte so mit Füßen getreten werden.