Der „Aufruhr“ der Stasi-Mitarbeiter in den Kreisen vom 8. Dezember
Protest gegen den Runden Tisch
Ab dem 8. Dezember 1989 ging eine Aufschrei durch die Kreisdienststellen der Stasi. Mit Protesten reagierten sie auf den Beschluss des Zentralen Runden Tisches in Ostberlin vom Vortag. Den Aufschlag machte die kleine Kreisdienstelle Lübz in der Nähe von Schwerin, heute Mecklenburg-Vorpommern. Mit „Empörung und großer Besorgnis“1 protestierte sie gegen die Maßnahmen, die gegen das Amt für Nationale Sicherheit gerichtet waren, wie die in diesen Tagen umbenannte ehemalige Stasi hieß.
Schon im November war die AfNS-Führung in Berlin daran gegangen, die über 200 Kreisdienstellen in der DDR abzubauen. Angesichts der Bürgerproteste im Herbst `89 waren sie nicht mehr sicher und konnten auch nicht mehr im Geheimen wirken. Die ersten Mitarbeiter waren bereits entlassen. Warum für die Geheimpolizisten aus Lübz an diesem Datum das Fass überlief, war wohl die erste Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom Vortage, am 7. Dezember, geschuldet. Unter dem Druck der Stasi-Besetzungen ab dem 4. Dezember hatte dieser grundsätzlich die Abwicklung der Geheimpolizei beschlossen. Das Ganze wurde Live im Fernsehen übertragen. Die Regierung der DDR wurde vom Runden Tisch aufgefordert, „das Amt für nationale Sicherheit unter ziviler Kontrolle aufzulösen.“2 Was die Genossen in Lübz besonders verärgern musste, war, dass in diesem Gremium nicht nur Oppositionelle saßen, sondern auch Vertreter der alten Parteien und Gruppierungen, die hinter der Regierung Modrow standen, allen voran die SED. Auf letztere was dass MfS eigentlich eingeschworen gewesen und man konnte gegenseitig Loyalität erwarten. Dass auch Gregor Gysi, der Hoffnungsträger der SED, der Abwicklung zugestimmt hatte, wurde in anderen Kreisdienststellen, so in Cottbus, besonders übel aufgenommen. Sie seien damit „nicht einverstanden“3 Gegenüber der Partei, der sie jahrzehntelang als "Schild und Schwert" gedient hatten, eine unglaubliche Unbotmäßigkeit. Der Beschluss des Runden Tisches eröffnete der Regierung -nicht zuletzt auf Grund Gysis Intervention- zwar noch die Hintertür, einen Vorschlag für einen neuen Sicherheitsdienst zu unterbreiten. Aus Sicht der abgehängten Stasi-Leute in der Provinz war das aber eine schwache Perspektive.
Sie hatten schon mitansehen müssen, dass die SED und ihre Regierung unter Hans Modrow sie nur lau gegenüber den Bürgerprotesten verteidigt hatte. Das Zurückweichen der Regierung ab dem 4. Dezember, das zunächst wie eine taktische Finte wirkte, sah angesichts des Beschlusses vom Runden Tisch wie das endgültige Bergräbnis des MfS aus. Kein Wunder, dass sich die Lübzer Erklärung in der Stasi wie ein Lauffeuer verbreitete. Der Kreisdienstellenleiter hatte es per Telex an alle Stasi-Dienstellen verschickt. Prompt schlossen sich, ebenfalls per Telex, zahlreiche Kreisdienstellen an, so die in Greifswald, Guben, Grimmen, Calau, Königswusterhausen, Hoyerswerda, Spremberg, Luckau, Hagenow und Cottbus. Das später als sogenannter Geraer Putsch-Aufruf bekannt gewordene Pamphlet vom 9. Dezember war nur noch die Zuspitzung dieses Aufschreis aus den Kreisdienstellen. Die Geraer Bezirksverwaltung nebst Kreisdienststellen protestierte allerdings nicht nur, sondern rief sogar zum „gemeinsamen Handeln auf“4, was immer das damals heißen konnte.
Da vom Rückbau des Überwachungspparates zunächst vor allem die Kreisdienstellen betroffen waren, kulminierte hier der Unmut. Sie forderten auch den „Schutz der Mitarbeiter des AfNS sowie deren Familienangehörigen“5. In mehreren Kreisdienstellen, so in Schmalkalden, Gera und an anderen Orten, war es zu Angriffen und Übergriffen gekommen. Dass Belegschaften in Betrieben sich weigerten, demobilisierte Stasi-Mitarbeiter als Kollegen in ihre Kollektive aufzunehmen, war ohnehin an der Tagesordnung. Insofern ist fraglich, ob die Protestwelle aus der Stasi-Provinz nicht eher ein Hilfeschrei wegen solcher Übergriffe war und weniger ein Aufruf zum letzten Gefecht.
Ganz zurück in alte Zeiten wollten selbst viele Stasi-Leute nicht. Auch sie sahen Defizite im ehemaligen Führungspersonal, forderten Reformen im eigenen Apparat, akzeptierten gesellschaftliche Kontrolle und bekannten sich zum „Prozess der revolutionären Erneuerung“.6 Aber sie wollten grundsätzlich den Apparat erhalten, "Handlungsfähigkeit" zurückgewinnen. Zudem zeigen die Protesttexte, wie sehr sie noch im alten Denken befangen waren. Sie baten ihre Dienste gegen „Anarchie und Chaos in der DDR sowie aller Verratshandlungen von korrupten und sozialismusfeindlichen Personen“ an und appellierten an die Unterstützung durch alle „Mitarbeiter und patriotischen Kräfte“, womit die Inoffiziellen Mitarbeiter, die verhassten Stasi-Spitzel, gemeint waren.
Der "Aufstand" der Kreisdienststellen der Stasi blieb weitgehend wirkungslos. Der Regierung Modrow war es inzwischen wichtiger, den Versuch zu unternehmen, Bürger und wenn möglich, Bürgerrechter, als Partner zu gewinnen. Eine Konzession machte sie jedoch. Die Regierung beschloss entlassene Stasi-Leute fürstlich abzufinden. Die Regelung analog zur NVA konnte bis zu drei Jahresgehälter umfassen. Was als Beruhigungspille für den alten Machtapparat gedacht war, entfachte jedoch um die Jahreswende 89/90 den Volkszorn von neuem.
Anmerkungen:
1AfNS, KD Lübz. Die staatliche Sicherheit ist nicht mehr gewährleistet. Telex. 8.1.1989. Bundesarchiv, Stasiarchiv. Außenstelle Leipzig. BVfS Leipzig
KDfS Leipzig-Stadt Nr. 34, Bl. 5-7
2Uwe Thaysen (Hrsg.): Der zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokolle, Buch I, Wiesbaden 2000, S. 88
3AfNS, KD Cottbus, Telex, Bundesarchiv, Stasiarchiv. Außenstelle Leipzig. BVfS Leipzig
KDfS Leipzig-Stadt Nr. 34, Bl. 15
4MfS, BA Gera: Aufruf zum Handeln. Heute Wir- morgen Ihr. Telex 9.12.1989. Dokument....
5AfNS, KD Lübz. Die staatliche Sicherheit ist nicht mehr gewährleistet. Telex. 8.1.1989. Bundesarchiv, Stasiarchiv. Außenstelle Leipzig. BVfS Leipzig
KDfS Leipzig-Stadt Nr. 34, Bl. 5-7
6Ebd.