Der sogenannte Geraer Stasi-Putsch- in Wirklichkeit ein Hilfeschrei?

von Christian Booß

7.1.2021

Es schlug wie eine Bombe ein, als der oppositionelle DDR-Anwalt, Rolf Henrich, am 8. Januar 1990 vor laufenden Fernsehkameras über einen drohenden Putsch von Stasi-Leuten berichtete. Henrich saß damals für die Oppositionsgruppe Neues Forum am sogenannten Runden Tisch.

Foto: Der Zentrale Runde Tisch bei der Konstituierungsversammlung im Dezember 1989

 

Hier sollten Vertreter der alten DDR-Parteien und der Opposition einen friedlichen Übergang in die Demokratie aushandeln. Die Auflösung der Stasi war damals noch eines der wichtigsten Probleme. Die alte Geheimpolizei der SED war nur teilweise aufgelöst und entwaffnet, die SED wollte aus ihren Resten einen neuen Geheimdienst, einen sogenannten Verfassungsschutz, aufbauen. Die Opposition war mehrheitlich dagegen.

Und dann dieses Putschpapier aus der Stasi-Bezirksverwaltung Gera. „Heute wir morgen- Ihr“- lautete die Überschrift. Das Pamphlet war über das immer noch funktionierende geheime Telexnetz von Regierung und Partei breit in die DDR gestreut worden und richtete sich an Stasi-Kollegen in den anderen Dienststellen und höhere Funktionäre im Partei- und Staatsapparat. Er appellierte daran, gemeinsam gegen die Volksbewegung vorzugehen.

Foto. Bezirksverwaltung Gera der Stasi 1989

Der sogenannte Geraer Putsch-Aufruf. 9.12.1989

Die Empörung am Runden Tisch über die Enthüllung dieses Papiers war groß. Der Oppositionsvertreter interpretierte den Text als Aufruf zum „Staatsstreich“, forderte von der Regierung Aufklärung und strafrechtliche Ermittlungen. Die Regierungsvertreter gaben sich ahnungslos, die übrigen am runden Tisch zeigten sich „betroffen“.

Protokoll des Zentralen Runden Tisches. 8.1.1990, Barch-Digitalisat

Da die Sitzungen Januar live im Fernsehen übertragen wurden, war das Echo in der DDR-Bevölkerung gewaltig. Ohne die Veröffentlichung des Geraer Putschaufrufes, hätte es den Sturm von Demonstranten auf die Stasi-Zentrale in Berlin Lichtenberg am 15. Januar, nur sieben Tage später, vielleicht gar nicht gegeben.

Vor Ort, in Gera, waren die Bürgerrechtler, die dort Mitte Dezember ein Bürgerkomitee zur Auflösung der Stasi gebildet hatten, in Panik. Sie fürchteten, dass die Bevölkerung überreagieren könnte. Und sie wussten: die Meldung war vollkommen veraltet. Der sogenannten Putsch-Aufruf war in Wirklichkeit schon einen Monat alt, als er publik wurde- und er hatte keinerlei praktische Folgen gehabt.

Foto: Bürgerkomitee Gera bei Verhandlungen mit der Staatsseite. Links Roland Geipel, Michael Beleites, Jörn Mothes

Bei genauer Sicht auf den Text und die Umstände, unter denen er erschien, fragt sich ohnehin, ob die Putsch-Interpretation die Sache richtig trifft. Der Text war am 9.12. 1989 entstanden, also fünf Tage nachdem die ersten Bürger in die Verwaltungen der Stasi eingedrungen waren, die Akten dort versiegelt hatten. Einen Tag zuvor, am 7.12., hatte der zentrale Runde Tisch unter Beteiligung der immer noch regierenden SED die Auflösung des alten Stasiapparates, damals schon Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) genannt, beschlossen. Viele Stasi-Mitarbeiter, nicht nur in Gera, fühlten sich vor den Kopf gestoßen, abgehängt, von „ihren“ einstigen Genossen verraten.

Hinzu kommt, dass die sogenannten „Stasi-Besetzungen“, die faktisch oftmals nur Begehungen waren, keineswegs überall so friedlich verliefen, wie es heute oft behauptet wird. Vor allem in manchen der über 200 Kreise der DDR gerieten die Kreisdienststellen des MfS durch die aufgebrachte Bevölkerung schwer unter Druck. Auch 1989 wurde z.B. in Ueckermünde eine Kreisdienststelle zwei Tage lang regelrecht belagert. Derartige Dienststellen mit nur ein paar dutzend Mitarbeitern, oft in alten Villen untergebracht, waren schlecht geschützt, die Stasi-Leute in Kleinstädten großenteils bekannt. Schon beim Volksaufstand vom 17. Juni 1953 hatten sich diese Außenposten als Schwachstelle erwiesen, manche waren gestürmt worden. Gerade im Süden der DDR, wo der Volkszorn heftiger war, gab es 1989 mehrere ähnliche Vorfälle. In Dresden schwärmten Demonstranten ins Wohngebiet der Stasi an der Bautzener Straße. Laut einer schwer zu überprüfenden Quelle wurde einem MfS-Mann sogar eine Schlinge um den Hals gelegt und diese an einem Trabbi festgebunden. Die Sache drohte zu eskalieren, so dass die Stasi, das ist verbürgt, den Superintendenten der evangelischen Kirche und das Neue Forum um Deeskalation bat. In Schmalkalden wurde die Stasi-Kreisdienstelle von der Bevölkerung mehr oder minder über den Haufen gerannt. Angeblich sollen Stasi-Leute sogar in den Wald geflüchtet sein. Schmalkalden liegt in der Nähe von Gera, dem Ort des sogenannten Putsch-Planes. Laut einem Stasi-Bericht drangen auch in Gera selbst am 6.12. „200-250 Personen [ins] Wohnhaus der Mitarbeiterfamilie, verbale Drohungen, sie aufhängen zu wollen; Sachbeschädigungen, Durchsuchungen, Verwüstungen; Diebstahl kleiner Sachwerte im Haus; Mitnahme persönlicher Schriftstücke und Fotos der Familie.“ Die Eindringlinge gingen wohl erst, als die Polizei kam. Auch in Betrieben, wo entlassene Stasisten eingestellt worden waren oder Ehepartner arbeiteten, kam es des Öfteren zu Übergriffen. In Rostock soll eine Ehefrau „in ihrem Betrieb geschlagen“ worden sein. Angesichts einer 16-Millionen-köpfigen Bevölkerung, die dabei war, das Joch einer 40-jährigen Diktatur abzuschütteln, sind das für den Historiker, der andere derartige Zusammenstöße kennt, eher kleine Kollateralschäden. Für die Mitarbeiter einer Organisation, vor der zwei Monate zuvor noch alle in der DDR gezittert hatten, müssen das traumatische Ereignisse gewesen sein, zumal für die, die sie unmittelbar erlebten. In dem sogenannten Putsch-Aufruf ist denn auch davon die Rede¸ dass sich „heute […] der Hass eines Teiles unseres Volkes […]gegen das ehemalige MfS“ richten würde. Die Autoren warnen, der „Volkszorn“ könne sich „schnell auf die Strukturen und Kräfte der anderen bewaffneten Organe zu lenken, um sie ebenfalls zu zerschlagen“, die würde sich gegen Staat und Regierung insgesamt wenden.

Aus dieser Perspektive muss man sich fragen, ob der sogenannte „Putsch“-Aufruf nicht auch ein Hilfeschrei war. Die Stasi-Leute in der Provinz fühlten sich von der SED und den regionalen Räten und der Polizei, mit denen sie jahrelang eng zusammengearbeitet hatten, im Stich gelassen. In der Tat waren der letzte SED-Regierungschef Hans Modrow zusammen mit dem Meinungsführer seiner Partei am Runden Tisch, Gregor Gysi, offenbar eher bereit, die Stasi zu opfern, als sich mit der eigenen Bevölkerung anzulegen. Allerdings, so verteidigt sich Modrow heute, er hätte auch nachgegeben, weil er den Eindruck hatte, nur so die Stasi-Leute und ihren Angehörigen vor der aufgebrachten Bevölkerung schützen zu können. Er habe durch Nachgeben, Druck aus dem Kessel nehmen wollen.

Fest steht. Dem Putschaufruf folgten keine Putsch-Aktivitäten, keiner griff zu den Waffen, nicht einmal zu Wasserwerfern und Schlagstöcken. Der neue Leiter der Bezirksdienststelle Gera, Michael Trostorff, setzte auf im Gegenteil geradezu auf Deeskalation und Kooperation. Um sich und seine Leute zu schützen, suchte er von sich aus die Nähe zur Staatsanwaltschaft und zu Bürgerrechtlern. Er lud zum Kompromiss. In diesen Tagen, Gera ist da kein Einzelfall, entdeckten viele Stasi-Leute, dass ihre einstigen Feinde nun die einzigen Partner waren, die sie gegen das aufgebrachte Volk schützen könnten. Den Bürgerrechtler, das ist zweifelsohne eines ihrer wichtigsten Verdienste, kam in diesen Tagen (einmal wieder) die Funktion zu, zu deeskalieren, damit die Revolution friedlich und gerade dadurch erfolgreich blieb. Das erklärt die plötzliche Kompromissbereitschaft vieler Stasi-Verantwortlicher, i de nicht nur in Gera anzutreffen war. Für die Befriedung der Lage sei „das enge Zusammenwirken [...]mit Vertretern der politischen Gruppierungen und konstruktiven Kräften der Bürgerinitiativen“, hieß es nun in einer zentralen Stasi-Analyse. Trostorff war auch Anfang Januar, nach der spektakulären Veröffentlichung des Geraer Aufrufes schnell bereit, ein Dementi für die Medien zu veröffentlichen.

Die Regierung der DDR erstellte später einen Bericht.

vermutlich: Ministerrat der DDR. Bericht zum Fernschreiben vom 9.12. 1989,  RHG Wifi 30

So gesehen, verpuffte der Aufruf. Aber er erhöhte auch noch einmal den Druck auf die Regierung, dass kein neuer Geheimdienst, auch kein sogenannter Verfassungsschutz, mehr in der DDR entstehen sollte. Vier Tage nach Bekanntwerden des Putschaufrufes heizte das Erfurter Bürgerkomitee zusammen mit Berliner Taxifahrern vor dem Parlamentsgebäude in Ostberlin der Regierung noch einmal tüchtig ein. Hans Modrow musste endgültig nachgeben und am 12. Januar seine Verfassungsschutzpläne offiziell aufgeben. Damit war die Stasi endgültig erledigt. Der 15. Januar mit der sogenannten Erstürmung der Stasi-Zentrale war, so gesehen nur noch ein, wenn auch dramatischer, Nachklapp.

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