Handlungsstränge und Akteure

Es wäre auch zu kurz gegriffen, das Geschehen am 15. Januar nur aus dem Ereignis selbst heraus und den vor Ort Handelnden zu erklären. Mindestens genauso so wichtig ist der gesellschaftliche und politische Rahmen. 1

Die Geschehnisse rund um das Stasi-Hauptquartiers am 15. Januar 1990 waren von sehr unterschiedlichen Akteure mit verschiedenen Zielen und Politikstilen geprägt. Jedoch waren diese teilweise unkoordiniert,und sogar gegensätzlich motiviert. Doch fanden sich diese Protagonisten kurioserweise am Abend alle auf dem Gelände der Stasizentrale wieder - was am Morgen vermutlich kaum einer von ihnen für möglich gehalten hatte. Dazu gehörten der Regierungschef Hans Modrow, die eher aktionistischen Oppositionellen und Demonstranten, der inzwischen amtierende neue Geheimdienstchef, Heinz Engelhardt, Akteure des Zentralen Runden Tisches, die konzilianten aber konsequenten Vertreter der Bürgerkomitees aus der „Provinz“ und auch die Polizei. Sie alle hatten am Ende ihren Anteil daran, dass es an diesem teilweise chaotisch verlaufenden Abend friedlich blieb, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven.

 

Die Demo

Vordergründig erstürmten Berliner Demonstranten, die einem Aufruf des Neuen Forum Berlin, die Zentrale symbolisch zuzumauern, kurz nach 17.00 Uhr2 das Gelände. Angeblich waren es Zehntausende,3 die sich an diesem Montag, etwa zur gleichen Zeit wie die Montagsdemonstranten in Leipzig, in Lichtenberg versammelt hatten. Das dazugehörige Flugblatt forderte für 17 Uhr zu kreativem Protest mit "Fantasie gegen Stasi und NASI"4 auf.

Ablaufprotokoll zum 15. Januar 1990, Bl. 2

 

Von den damaligen Mitgliedern der Oppostionsgruppe Neues Forum machen mehrere geltend, die Idee zur Demo gehabt zu haben. Horst Prillwitz, der sich spät dieser Gruppierung angeschlossen hatte, arbeitete in der Gegend der Stasi-Zentrale. Er drängte Mitstreiter vom Neuen Forum, etwas zu tun. Denn ihm fiel um die Jahreswende 1989/90 auf, dass die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, in der Zentrale ein- und ausgingen und nur lasch kontrolliert wurden.

Film Horst Prillwitz, damals Neues Forum Berlin

Die eigentliche Idee zur Demonstration hatten wohl Reinhard Schult und Ingrid Köppe. Beide kamen am 6./7. Januar von einem DDR-weiten Forum-Treffen in Leipzig zurück, wo für den 15. Januar ein DDR-weiter Aktionstag zur Auflösung der Staatssicherheit beschlossen worden war. Beide gehörten eher dem eher linken und aktionistischen Flügel des Neuen Forum an, für das sie beide auch am Zentralen Runden Tisch saßen.5 Für Berlin planten sie auf dem Rückweg von Leipzig die Demo in Lichtenberg.

Film Reinhard Schult , damals Neues Forum. Veranstaltung vom 15.1.2005. BStU

Foto Reinhard Schult

Der Demonstrationsaufruf  (s.o.) warb doppeldeutig dafür, "Kalk und Mauersteine" mitzubringen, um das MfS symbolisch zuzumauern. Doch die beiden Initiatoren kalkulierten, wie sie später zugaben, insgeheim ein, das Gelände zu besetzen, sofern genügend Demonstranten kämen.7 In den Ohren anderer klang ein derartiger Demoaufruf wie ein Vabanquespiel.

Film Hans Modrow, damals Regierungschef der DDR

Film Martin Montag, damals Bürgerkomitee Suhl

Andere Demonstranten sahen dem Demonstrations-Ereignis deutlich unbekümmerter entgegen, da der SED-Staat weitgehend entmachtet und die Stasi schon stark in der Defensive war.

Film Christian Halbrock, damals Demonstrant

Foto: Christian Halbrock, damals Demonstrant

 

Bürgerkomitees in den DDR-Bezirksstädten

Die Bürgerkomitees der DDR-Bezirksstädte waren die zweite Akteursgruppe. Sie hatten seit Dezember 1989 mit großem Engagement die Bezirksdienststellen des MfS/AfNS in Beschlag genommen, zumindest begangen und großenteils lahmgelegt. Erst nachdem vor Ort wesentliche Schritte, wie Entwaffnung und Aktenversiegelung, abgeschlossen waren, fanden die Bürgerkomitees ab der Jahreswende Zeit, sich auch überregional zu vernetzen.

Protokoll des überregionalen Treffens der Bürgerkomitees vom 12. Januar 1990, Bl.2, Bl. 3, Bl. 4, Bl. 5

Bei diesen Treffen in Schwerin, Leipzig und Berlin zeigte sich, dass die Medienberichte aus Berlin selbst bei den Bürgerkomitees Wirkung erzielt hatten. Meldungen und Fernsehbeiträge von der BV Berlin und dem alten MfS-Gelände, über Bürgerbesuche und Aktivitäten dort, hatten suggeriert, dass auch die Zentrale des Geheimdienstes unter Bürgerkontrolle aufgelöst würde.

Erst im Laufe der Zeit, v.a. beim Treffen vom 12. Januar in Berlin, wurde den Bürgerkomitees wirkliche bewußt, dass die Berliner Zentrale des MfS/AfNS weiter aktiv war.

Film Martin Montag, damals Bürgerkomitee Suhl.

Auf dem Berliner Treffen am 12. Januar beschlossen die Bezirksbürgerkomitees daher, die Initiative zur Auflösung der MfS-Zentrale zu ergreifen. Am Vorabend, dem 14. Januar traf erneut eine Gruppe aus den Bezirken in Berlin zusammen. Mitgebracht wurde ein Vorschlag des Bürgerkomitees Dresden. Dieser scheint in die Diskussion eingeflossen zu sein.

Die Versammlung der Bürgerkomitee-Vertreter legte schließlich  ein eigenes Vorgehen für den 15. Januar fest: Einige Akteure sollten am Morgen um 9 Uhr Partner bei Polizei und Staatsanwaltschaft suchen, eine zweite Gruppe in der Normannenstraße vor Ort mit Verhandlungen zur Beendigung der Geheimpolizeiarbeit beginnen. Eine Dritte Gruppe sollte Rederecht am Zentralen Runden Tisch einfordern, um die Aktion politisch und über die Live-Fernsehübertragung öffentlich abzusichern. Dazu wurde eine Erklärung für den Runden Tisch ausgearbeitet.

Film Martin Montag, damals Bürgerkomitee Suhl 

Ergebnis des überregionalen Treffens der Bürgerkomitees vom 14. Januar 1990, Bl. 2

Überregionale Bürgerproteste

Auch für die Berliner Abläufe ist nicht zu unterschätzen, welcher Druck, der von der Volksbewegung der gesamten DDR in diesen Tagen ausging. Meldungen über einen angeblichen Putsch-Plan der Stasi in Gera8 , hohe Abfindungen für ausscheidende Stasi-Mitarbeiter, Versuche, den Geheimdienst neu zu legitimieren und die schleppende Auflösung des MfS/AfNS allgemein hatten noch einmal zu einem Aufflammen der Proteste geführt. Überall kam es zu Streiks und Demonstrationen und zur Androhung weiterer Aktionen.

Das Lagezentrum der Regierung Modrow ließ sich laufend aus den Regionen über die Proteste berichten. Beunruhigen musste den SED-PDS-Ministerpräsidenten auch, dass sich die Aktionen und Aufrufe immer stärker gegen seine eigene Partei wendeten.

Lageinformation vom 12. Januar 1990Bl. 2, Bl. 3, Bl. 4, Bl. 5, Bl. 6

Allein am 15. Januar waren DDR-weit wieder 700.000 Menschen auf den Straßen oder legten die Arbeit nieder: In Berlin hatten schon am 12. Januar die Milchfahrer - eine vergleichsweise kleine Gruppe jedoch mit Wirkung für fast jeden in Ostberlin - gestreikt. Ihre Hauptforderungen richteten sich gegen die SED/PDS und auf die vollständige Auflösung des MfS/AfNS.

Lageinformation vom 16. Januar 1990, Bl.2, Bl. 3

Am 11. u. 12. 1. 1990 hatte die Volkskammer getagt, die wegen der manipulierten Wahlen unter Honecker jedoch nur wenig legitimiert war. Der Palast der Republik in Berlin-Mitte, wo sie tagte, wurde von ca. 10.000 Demonstranten bedrängt. Der Polizeibericht vermeldete: “Sprechchöre richteten sich in hysterischer Weise gegen die SED-PDS“9. Mitglieder des Erfurter Bürgerkomitees gelang es die Berliner Taxifahrer zum Streik zu mobilisieren. Es gelang ihnen, am Rande der Volkskammertagung Ministerpräsident Modrow anzusprechen und ihm eine Resolution zu überreichen. Mehr zur Aktion der Erfurter in Berlin... 

Zurückweichen der Regierung vor dem 15. Januar und Volkskammer

Ministerpräsident Hand Modrow (SED/PDS) hielt lange die Fiktion aufrecht, er sei der von der Volkskammer gewählte Ministerpräsident einer Koalitionsregierung.10 Am 11. Januar war er noch mit dem Vorsatz in die zweitägige Volkskammersitzung gegangen, sich dort einen Beschluss zur Bildung eines Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes einzuholen. Er musste aber feststellen, dass ihm seine „Koalitionspartner“ unter dem Eindruck der Volksbewegung zunehmend die Gefolgschaft versagten.11 Zudem musste er auf die Proteste im Lande reagieren, wenn er nicht die Kontrolle verlieren wollte. Modrow musste zudem befürchten, dass er auch bei den Oppositionsgruppen keine Ansprechpartner mehr finden würde.

 

Daher änderte der Ministerpräsident noch am 12.1. seine Haltung und erklärte, dass bis zu den nächsten Volkskammerwahlen keine neuer Inlandsnachrichtendienst mehr gegründet werden sollte.13 Dabei spielten sowohl die genannten innenpolitische Gründe eine Rolle, aber auch, dass sich der Gang hin zu Deutschen Einheit immer mehr beschleunigte.

Film: Regierungserklärung von Hans Modrow (SED/PDS) vor der DDR-Volkskammer. 12.1.1990. Akutelle Kamera, Fernsehen der DDR

Film Hans Modrow, damals Regierungschef (SED/PDS)

 

 

 

 

Die Geheimdienstler aus dem ehemaligen MfS, hatten Den Regierungschef seit einiger Zeit bedrängt, ihnen angesichts der Bürgerangriffe eine neue Legitimation zu verschaffen. Sie hofften, dass  durch  Beschlüsse am 11./12 Januar in der Volkskammer die Bildung eines Verfassungsschutzes abgesichert würde. Für sie kam der plötzliche Schwenk des Regierungschefs vollkommen unerwartet.

Film  Heinz Engelhardt, letzter Geheimdienstchef der DDR.

Der Zentrale Runde Tisch

Druck ging auch vom Zentralen Runden Tisch (ZRT)aus. Seit seiner ersten Sitzung am 7. Dezember 1989 hatten die Oppositionsgruppen immer wieder eine Auflösung des MfS/AfNS gefordert. Die von der Linkspartei vertretene Option eines reformierten Dienstes war jedoch zunächst noch nicht vom Tisch. Aber Ende Dezember/Anfang Januar verschärfte sich auch am Runden Tisch der Ton. Die Aufdeckung der angeblichen Geraer Stasi-Putschpläne am 8.Januar, die hohen Stasiabfindungen, die Bürgerproteste im Lande zeigten auch hier Wirkung.

Um die Jahreswende war daher eine eigene Arbeitsgruppe zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS gebildet worden, die „AG Sicherheit“. Diese konstituierte sich Anfang Januar unter Vorsitz Vertretern der neuen Gruppierungen, zunächst von Ibrahim Böhme (SDP), später von Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt, DJ).14 Obwohl auch in diesem Gremium die Blockparteien vertreten waren, formulierte die AG sogleich eine Vorlage für den Zentralen Runden Tisch, in der eine ersatzlose Auflösung des MfS/AfNS gefordert wurde.

Der Antrag 5 der AG Sicherheit, Bl. 2

Auf Grund der Zuspitzung der Lage gelang es den Oppositionsvertretern des Zentralen Runden Tisches, Modrow für den 15. Januar vor das Gremium zu zitieren. Er sollte zu diesem Datum endlich einen Bericht zum Stand der Stasi-Auflösung liefern. Lange hatte sich Modrow geziert, den Zentralen Runden Tisch als eine Art Ersatzparlament zu akzeptieren. Da Modrow drei Tage zuvor jedoch einen Linienschwenk vollzogen hatte, versuchte er jetzt, nicht ungeschickt, den Runden Tisch als Tribüne für sich zu nutzen.

 

Anmerkungen

1 Das MfS war im November zum Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umbenannt worden, im Dezember firmierte es teilweise schon als `Verfassungsschutz im Aufbau`.

2 Worst nennt 17. 15 Uhr. Andere etwas abweichend. Worst, Anne: Das Ende eines Geheimdienstes, Berlin 1991 , S: 33, nach Gill zwischen 17 und 18 Uhr, Gill, David; Schröter, Ulrich: Das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1991, S. 185

3 Kowalczuk, Ilko-Sascha. Das Endspiel, Berlin 2009, S.512ff

4 NASI bezieht sich auf die Umbenennung zum Amt für Nationale Sicherheit (AfNS)

5  Schult war später von März bis Oktober 1990 Abteilungsleiter im Staatlichen Komitee zur Auflösung des MfS. Leitete dort die sogenannte operative Gruppe und war Mitglied des Bürgerkomitees Normannenstraße. https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html (Zugriff 5.7.2018)

6 Ende einer Dienstzeit. Dokumentationsvideo zur gleichnamigen Veranstaltung des BStU vom 15. 1.2005. Transskribiert in: Link in Arbeit

7 Diskussionsbeitrag Reinhard Schult. Transsribiert in: Link in Arbeit

8Der Geraer Aufruf stammte zwar von Anfang Dezember 1989, wurde aber erst am ZRT vom 8. Januar vor laufenden Kameras am Runden Tisch publik gemacht.

9 MDI. Information. 12. 1. 1990. BArch, DC 20/9726 S. 17ff

10Die Volkskammer war noch unter Honecker in manipulierten Wahlen „gewählt“ worden. Die Parteien, die unter Vorherrschaft der SED damals einen Block bildeten, fanden sich nunmehr in einer „Koalition“ zusammen, darunter die CDO-Ost unter dem neu gewählten Ministerpräsidenten Lothar de Maiziaire.

11 14. Tagung der Volkskammer. 9. WP. 11./12. 1.1990. BArch, DA 1/ 18429, DA 1/15758 (nicht digitalisiert)

12U.a. waren Mitglieder aus Erfurt wie Matthiasd Büchner und Barbara Weisshuhn dabei.

13 Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999, S. 596ff

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