Count-Down einer Stasi-Enthüllung

Die  Aufdeckung der Stasi-Verstrickungen des prominenten Oppositionspolitikers, Wolfgang Schnur, war folgenreich. Während auch Bürgerrechtler zunächst skeptisch bei der Öffnung der Personendossiers der Stasi waren, änderte sich dies nach dieser Enthüllung. Die Meinung der Öffentlichkeit kippte, das neue Parlament, die Volkskammer votierte für Stasi-Überprüfungen. Die Akte Schnur lag in Rostock, wo der Anwalt lange gewirkt hatte. Doch die ersten Hinweise gab es anonym an den Zentralen Runden Tisch in Berlin.

Fritz Petermann. Schreiben an Runden Tisch. 12.1.1990, RHG, Nfo 78

Denunziationsschreiben zum Fall Schnur an das Neue Forum, vermutlich falscher Name

Den Bürgern, die in Rostock die Stasi im Dezember lahm gelegt hatten, kam eine wichtige Funktion bei der Faktenüberprüfung vor. Zunächst wollten sie aus Datenschutzgründen nicht an die personenbezogenen Daten herangehen. Doch der öffentliche Druck erzwang die Aufklärung. Zumal als mehr oder minder zufällig klar wurde, dass in Rostock die IM-Akte zu Schnur lag. Der Unabhängige Untersuchungsausschuss präsentierte schon 1990 seinen Bericht zum Ablauf der Aufdeckung:

Der "Fall“ Schnur

Aus Sicht des ehemaligen Unabhängigen Untersuchungsausschusses Rostock, Rostock 1990

Dokumente werden gefunden

Am Vormittag des 5.3.90 begannen Sichtungs - und Sortieraufgaben bei den Materialien der Abt. XX. Die Akten und Dokumente der Abt. XX waren bereits vom 9.-12.1.90 umsortiert in den Archivbereich verbracht worden und mußten noch hinsichtlich Quellen - und allgemeinem Schriftgut getrennt werden. Diese Arbeiten geschahen durch 3 Mitglieder des UUA, 3 Staatsanwalte und im Beisein von Mitarbeitern des Archivbereiches.

Entsprechend dem Verständnis des UUA hinsichtlich der Behandlung von Quellenmaterial wurden die als IM -, OV - und OPK - Vorgänge gekennzeichneten Akten sowie die von der ZMA unbesehen den Mitarbeitern des Archivs zur Einordnung in die vorhandenen Regale übergeben. Bei den restlichen Unterlagen erfolgte die Prüfung der Archivierungswürdigkeit durch Einsichtnahme in die vorliegenden Ordner und Aktendeckel. Hierbei fanden sich in einem nicht näher gekennzeichneten Aktendeckel Dokumente über verliehene militärische Auszeichnungen aus den Jahren 1975 bis 1989, ausgeschrieben auf Rechtsanwalt Schnur, Wolfgang sowie einige wenige Treffberichte und Informantenberichte mit Quellenangabe ”Dr. Ralf Schirmer" aus der Zeit Okt./Nov. 1989. Diese Unterlagen wurden durch die Staatsanwälte zunächst einbehalten und in Verwahrung genommen. In der Mittagszeit erhielten die weiteren im Bezirksamt anwesenden UUA - Mitglieder Kenntnis vom Auffinden der Dokumente. Zur gleichen Zeit informierten die im Amt tätigen zivilen Staatsanwälte ihre Vorgesetzten telefonisch über den Sachverhalt. Der Anlaß dazu stand offenbar im Zusammenhang damit, daß bei der Staatsanwaltschaft bekannt war, daß Herr Schnur im Januar beim Generalstaatsanwalt der DDR eine Verleumdungsklage gegen Unbekannt eingereicht hatte.

Der Ausschuss muss reagieren

Die Mitglieder des Ausschusses waren erstmalig damit konfrontiert, eine im öffentlichen Leben stehende Person als früheren Informanten des MfS offengelegt zu sehen. Damit soll gesagt werden, daß über den Kreis der Mitglieder des UUA hinausgehend die Tatsache, daß Herr Schnur Informant des MfS gewesen ist, nun plötzlich bekannt war. (Es muß an dieser Stelle eingefügt werden, daß durch Mitglieder des Ausschusses am 28.2.90 eine Überprüfung des Karteibereiches der Abt. XII mit dem Ziel erfolgte, dessen Vollständigkeit festzustellen. Diese Überprüfung wurde in der Weise vorgenommen, daß wir eine Reihe von in der Rostocker Öffentlichkeit bekannten Personen, von denen wir wußten, daß sie ehemals inoffizielle Mitarbeiter des MfS waren (dazu zählte auch Herr Schnur), auf ihre Präsens innerhalb des Karteibereiches untersuchten. Es stellte sich heraus, daß alle einbezogenen Personen in Karteibereich als IM erfaßt waren. Das gab uns eine gewisse Sicherheit anzunehmen, daß die Findmittel der Akten noch vollständig vorhanden sind, da wir davon ausgehen können, daß die betreffenden Personen einflußreich genug waren, dafür zu sorgen. daß wenigstens die Karteikarten gezogen und vernichtet wurden.) Der Ausschuss war sich schnell darüber im klaren, daß „er in dieser Angelegenheit reagieren mußte. Er wußte auch um die politische Brisanz des ”Vorfalls". Eigenes Handeln war auch nötig zum Schutze des UUA vor Verdächtigungen, Verleumdungen u. dg1..Wir entschlossen uns daher dazu, noch am 5.3.90 mit Herrn Schnur persönlichen Kontakt über seine Berliner Kanzlei aufzunehmen. Seinen dort anwesenden rechtsanwaltlichen Partner (Herr Schnur war im Bezirk Frankfurt/0. unterwegs.) baten wir um Rückruf durch Herrn Schnur in einer dringenden persönlichen Angelegenheit. Die gleiche Nachricht hinterließen wir am späten Nachmittag des 5.3.90 im Büro des Parteivorstandes des DA in Berlin. Herr Schnur rief am 6.3.90, früh gegen 6.00 Uhr zurück. Ihm wurde bei dieser Gelegenheit lediglich gesagt, daß es nach unserer Auffassung dringend erforderlich sei, ein persönliches Gespräch zu führen. Herr Schnur stellte keine Rückfragen zum beabsichtigten Gesprächsgegenstand; das Problem bestand darin. einen Termin zu finden. Sein Vorschlag war, das Gespräch am Freitag, den 9.3.90 zu führen. An diesem Tag wollte er mit Bundeskanzler Kohl in Rostock auftreten. Mir drängten ihn auf einen früheren Zeitpunkt, und so verständigten wir uns auf Mittwoch, ca. 21.00 Uhr.

Ebenfalls gab es eine Terminvereinbarung mit dem Rostocker Vorstand des DA für Dienstag, 12.30 Uhr. Bei diesem Gespräch wurde von uns darüber informiert, daß Dokumente gefunden wurden, die auf Herrn Schnur als ehemaligen IM hinweisen. Details zu Anzahl und Inhalt der Dokumente wurden nicht gnenannt. Wir machten jedoch deutlich, daß unsererseits keine Zweifel an der Echtheit- der Unterlagen bestehen. Wir hatten bei dem Gespräch jedoch den Eindruck,'daß unsere Informationen die Anwesenden nicht unvorbereitet trafen. Dies bestätigte sich dann auch am späten Nachmittag, als Herr Eppler uns im Bezirksamt aufsuchte und erklärte, daß er bereits vormittags gegen 11.00 Uhr von einem Vertreter einer befreundeten Partei darüber informiert worden war, daß Dokumente gefunden wurden.

Durch den Parteivorstand wurde dann bestimmt, einen Bilkurier nach Magdeburg zu schicken, um Bundeskanzler Kohl über den Sachverhalt zu informieren. Zu diesem Zeitpunkt befand sich auch Herr Schnur in Magdeburg. Am späten Abend erhielten wir dann eine entsprechende Rückinformation durch ein Vorstandsmitglied des DA aus Magdeburg. Herr Schnur rief ebenfalls noch einmal bei uns in Rostock an, um sich den vereinbarten Gesprächstermin für den nächsten Tag bestätigen zu lassen. Der folgende Tag (7.3.90) war gekennzeichnet durch hektische Betriebsamkeit, aus der sich der Ausschuss nicht völlig heraushalten konnte. Der für diesen Tag geplante normale Dienstablauf desUUA konnte nur mit Mühe aufrechterhalten werden. Etwa ab Mittag liefen ununterbrochen Telefonanrufe von Medienvertretern aus aller Welt auf, die um Auskunft baten. Leiter und ehemalige Mitarbeiter des Bezirksamtes Rostock des AfNS baten um Aufklärung des Sachverhaltes. Herr Eppler vom DA kündigte an, daß die Herren Eppelmann und Wutzke auf dem Weg nach Rostock seien. um in die Akte Schnur einzusehen. Herr Rechtsanwalt Vormelker überbrachte im Beisein von Vertretern des Neuen Forum einen Antrag an den Bezirksstaatsanwalt Rostock, die Akte Schnur sicherzustellen (zur Information des UUA)!

Neben dem geplanten Dienstprogramm wurde an diesem Mittwoch durch Staatsanwälte und UUA entschieden, die Akten Schnur auszusondern und getrennt zu verwahren. Diese Arbeit wurde am 7.3. und 8.3.90 durchgeführt. Es lagen damit insgesamt 33 Aktenordner (davon 31 mit Schriftgut gefüllt) mit Registriernummer 1628 / 83 vor, Deckname "Torsten" bzw. seit Januar 1988 "Dr. Ralf Schirmer“.

Außerdem wurde noch ein operativer Vorgang (Reg. Nr. 974 / 80, Deckname "Heuchler"), der sich auf Herrn Schnur bezog, gesondert sichergestellt. Die sich bis dahin noch in Verwahrung der Staatsanwälte befindlichen Dokumente (Auszeichnungen u.a.) wurden diesem Aktenpaket beigefügt.

Am Nachmittag des 7.3.90 kam es zwischen dem UUA und den Herren Eppelmann, Wutzke und Ebeling zu einem einstündigen Gespräch im Hause Ernst-Barlach-Str.2. Wir machten dabei deutlich, daß wir uns als genügend sachkompetent ansehen, echte von falschen Dokumenten zu unterscheiden und nicht den geringsten Zweifel haben, daß Herr Schnur Informant des MfS war. Die Frage nach Akteneinsichtnahme durch die anwesenden Herren des DA beantworteten wir abschlägig. Wir brachten zum Ausdruck, daß die Prüfung der Unterlagen über die Staatsanwaltschaft im Rahmen des laufenden Ermittlungsverfahrens erfolgen müsse.

Gegen Ende dieses Gespräches um 15.30 Uhr kam die Nachricht, daßnHerr Schnur von Hagenow aus auf dem Weg nach Rostock sei. Für den Fall, daß Herr Schnur dann noch das Gespräch mit dem UUA wünsche, würden wir zur Verfügung stehen, erklärten wir bei der Verabschiedung. Das Gespräch fand dann gegen 19.00 Uhr im Hause Ernst-Barlach-Str.2 statt. Anwesend waren neben Herrn Schnur die Herren Eppelmann, Wutzke und Eppler. Wir wiederholten kurz, was wir am Nachmittag bereits gesagt hatten und gingen dabei wiederum

nicht auf Details ein. Es gab einige Fragen dazu, wie zuverlässig unsere Information sei, ob es sich bei den Akten nicht um Fälschungen handeln könne usw. Herr Schnur beteiligte sich bis dahin nicht an der Unterredung. Er wurde dann schließlich von uns direkt angesprochen mit der Bitte um Auskunft, wie er nun reagieren werde. Er erklärte sinngemäß: Die aufgefundenen Akten können sich nicht auf ihn beziehen, da er nie Informant des MfS gewesen sei. Es müsse sich um Fälschungen handeln. Die Handlungsweise des UUA empfinde er als 'fair `und er danke ausdrücklich dafür, daß wir uns bemüht hätte, die Sache intern zu behandeln. Wir müssen aber verstehen, daß er nun seinerseits reagieren müsse, um die Vorwürfe aufzuklären. Er denke daran, Anzeige gegen die eigene Person zu erheben bzw. seine frühere Verleumdungsklage zu bekräftigen.

Bemerkenswert war eine beiläufig von ihm gemachte Behauptung, seine Sekretärin hätte ihm erklärt, wir hätten schon seit einer Woche versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Wir stellten dazu eindeutig klar, daß wir erstmals am 5.3.90 versucht hatten, Kontakt mit ihm aufzunehmen.

Öffentlichkeitsarbeit des Ausschusses

Der nächste Tag, 8.3.90, begann wie der vorherige geendet hatte. Das Thema war in den Medien, und wir wurden ununterbrochen um Auskünfte, Interviews usw. gebeten. Wir waren schließlich ab 8.3.90 gezwungen, um nicht ständig in Diskussionen verwickelt und Fangfragen ausgesetzt zu werden, die Telefone mit vorbereiteten Presseauskünften zu bestücken, die verlesen wurden:

8.9.90
Auf Anfrage der Medien/Presse usw. gibt der UUA bitte nur folgende Mitteilung:

1. Nur melden mit Unabh(ngiger Untersuchungs – Ausschuss Rostock, keine Namen.

2. Der UUA kenn hierzu keine Erklärung abgeben und keine Auskünfte bzw. Informationen geben.

3. Die Auskunfts - Ersuchenden möchten sich bitte an die Militärstaatsanwaltschaft Rostock bzw. die Bezirksstaatsanwaltschaft Rostock wenden. Diese Institutionen sind die zuständigen Rechtsorgane!

12.3.90

Bei Anfrage der Presse bitte antworten:

1. Verfahren Verleumdungsklage liegt beim Generalstaatsanwalt

2. Nach unserer Information soll heute eine Akteneinsichtnahme in Berlin erfolgen. Näheres
dazu nicht bekannt.

3. Auf alle weiteren Fragen:

- Davon ist uns nichts bekennt!

- Zur Zeit ist auch kein Sprecher des Ausschusses im Haus.

- Wir warten selbst auf Nachrichten.

13.3.90

Der Presse kenn auf Anfrage folgendes mitgeteilt werden:

1. Der Generalstaatsanwalt hat im Archiv des Bezirksamtes Rostock im Beisein des UUA in Akten eingesehen. Es handelt sich dabei um 1l Aktenordner zur Person, 21 Ordner mit Treffberichten und eigenen Berichten des Informanden und 1 Ordner mit Quittungen über empfangenes Geld.

2. Der Staatsanwalt hat den Ordnern einige Dokumente entnommen, um deren Echtheit zu prüfen. Die Prüfung erfolgt durch einen Sachverständigen sowie auf der Grundlage von Zeugenbefragungen zu den in den Dokumenten enthaltenen Sachinformationen.

3. Sobald Erlebnisse vorliegen, wird die Öffentlichkeit durch den Generalstaatsanwalt der DDR informiert. Der UUA rechnet damit, daß dies bereits heute abend möglich ist.

4. Bereits am Freitag war durch die Bezirksstaatsanwaltschaft eine Einsichtnahme in die o. g. Akten vorgenommen worden. Der Bezirksstaatsanwalt äußerte sich gestern gegenüber der Rostocker Fresse dahingehend, daß Dokumente mit hoher Beweiskraft vorgefunden wurden.

14.3.90

Bei Anrufen/Anfragen der Presse:

Bitte an den Generalstaatsanwalt wenden. Wir selbst warten auf des Ergebnis der Prüfung der Dokumente, die der Staatsanwalt von uns bekommen hat.

Aus gegebenem Anlaß übergab der Ausschuss am 9.3.90 um 10.00 an ADN eine Erklärung (s. Seite 23). Sie wurde auch interessierten weiteren Pressevertretern am Telefon verlesen bzw. persönlich übergeben.

Der Ausschuss wurde in diesen Tagen auch in eine in Wismar vorgefallene Sache verwickelt. Am Runden Tisch in Wismar was am 5.3.90 die den Bürgermeister vom Runden Tisch zur Seite gestellte Frau Czery als ehemalige-IM des MfS offengelegt worden. Die Kenntnis darüber hatten Vertreter des Wismarer Neuen Forum bei der Sichtung von MfS - Unterlagen im Rostocker Bezirksamt erlangt. Der UUA konnte glaubhaft machen, daß er seinen Verpflichtungen auf Wahrung des Personendatenschutzes nachkommt und an jenem Vorfall nicht beteiligt war. Am 9.3.90 hatten auch die Bürgerkomitees in Berlin turnusmäßig beraten. Unser Vertreter war dort zahlreichen Fragen ausgesetzt.

Begleitung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen

Seit den 5.3.90, als die Dokumente gefunden wurden, gab es mehrere Gespräche mit der Bezirksstaatsanwaltschaft. Das besondere Interesse des UUA lag daran, die Ermittlungen zur Verleumdungsklage von Herrn Schnur zu beschleunigen. Am 9.3.90 kam es in Begleitung des UUA zu einer Akteneinsichtnahme durch den amtierenden Bezirksstaatsanwalt und weitere drei Staatsanwälte. Bei dieser Gelegenheit legte der Bezirksstaatsanwalt eine Verfügung des Generalstaatsanwaltes vor, die Akten zu beschlagnahmen, was eine Verlagerung nach Berlin bedeutet hätte. Der UUA lehnte dies mit Hinweis auf das Transportrisiko und die nicht gegebene Notwendigkeit ab. In Anschluß an die Einsichtnahme wurde vereinbar, daß der UUA auf Presseauskünfte verzichtet und auf den Bezirksstaatsanwalt verweist. Die Akten wurden wiederum gesondert unter Verschluß genommen.

Widersprüchliche Meldungen in den Medien veranlaßten uns am Wochenende, mehrfach mit der Bezirksstaatsanwaltschaft Kontaktaufzunehmen (l0.3. und 11.3.90).

Hervorgehoben werden soll auch die Hilfe, die wir in diesen Tagen durch unseren Rechtsbeistand, Herrn Vormelker, erhielten. Durch mehrere klärende Gespräche waren wir dadurch recht gut in der Lage, die zeitweilig verwickelte Situation zu beherrschen und ohne Schaden für den Ausschuß zu überstehen.

Am Montag, den 12.3.90, waren gegen 10.00 Uhr Vertreter des Generalstaatsanwaltes der DDR in Amt, um die Akten einzusehen und Beweismittel zu entnehmen. Die Einsichtnahme dauerte bis in den Nachmittag hinein. Den Staatsanwälten und den Schriftsachverständigen aus Berlin wurden Originalhandschriften sowie Kopien von Informantenberichten übergeben. Kopien der Handschriften wurden in die Akten wieder eingefügt. Die Untersuchungen sollten nach Auskunft der Staatsanwaltschaft in zwei Richtungen gehen: kriminaltechnischer Schriftenvergleich der entnommenen handschriftlichen Informantenberichte mit authentischem Vergleichsmaterial sowie außerdem sachbezogene Überprüfung der in den Berichten enthaltenen Informationen durch Zeugenbefragungen. Nach Aussagen des Sachverständigen könne die Schriftenprüfung Dienstagabend abgeschlossen sein. Insgesamt wurden 17 Blatt handschriftliches Material sowie 14 Blatt Kopien von Berichten übergeben. Anschließend wurde vereinbart, mit welchen Informationen gegenüber der Presse aufgetreten werden soll. (Seite 303)

Am 12.3.90 erreichten den UUA noch die folgenden Meldungen: Das Bürgerkomitee Berlin informierte, daß Herr Eppelmann Einsicht in Akten genommen hat, die in. Berlin- vorliegen. Die Reaktion unsererseits war: dies wäre des Herrn Eppelmann bei uns nicht gestattet worden. Diese- Verfahrensweise widerspricht unserer Auffassung zum Personendatenschutz Dritter.

Weiterhin kam die Nachricht aus Berlin, daß den UUA durch die Regierungsbevollmächtigten bis auf weiteres die Akteneinsicht und der Zugang zum Bezirksamt untersagt werden soll. Ein entsprechendes Schreiben sei unterwegs (Seite 306 ). Dieses Schreiben hat uns aber nie erreicht. Auch diese auf uns eventuell zukommende Situation mußten wir mit unserem Rechtsbeistand vorbeugend beraten, da wir mit einer einstweiligen gerichtlichen Anordnung rechnen mußten und die Möglichkeiten zu Prüfen hatten, in welcher Form dagegen Beschwerde eingelegt werden könne. Herr Vormelker klärte uns dahingehend auf, daß eine einstweilige Anordnung sich nur gegen Personen und nicht gegen den Ausschuss insgesamt richten kann, es sei denn, es kann bewiesen werden, daß der Ausschuss insgesamt gegen Rechtsnormen verstoßen hat. Nun, diese "Festlegungen" (Seite ) kamen nicht in Rostock an. Der diesem Schreiben zugrunde liegende Anlaß war auch sachlich unrichtig. Der UUA hat am 1.3.90 einen entsprechenden Antrag an die Regierungsbevollmächtigen zur Legalisierung der Akteneinsichtnahme gestellt. Dieser war jedoch wegen "Formfehler" nicht genehmigt worden. Die Rückinformation hierzu kam aber auch nie in Rostock an. Hinzu kommt, daß die Regierungsbevollmächtigten keine Weisungsbefugnis gegenüber dem UUA haben, ebensowenig gegenüber der VP und den Staatsanwälten, mit denen der UUA in Sicherheitspartnerschaft zusammenarbeitet. Im Nachhinein verwundert uns dieses Schreiben von 9.3.90 doch einigermaßen.

Im weiteren erhielten wir die Nachricht aus Berlin, daß Herr Wutzke vom DA mit Rechtsanwalt Kurzhals die Genehmigung der Regierungsbevollmächtigten hätte, in die Akten Schnur einsehen zu können. Der UUA erklärte daraufhin, daß er Akteneinsichtnahme nur Vertretern von Rechtsorganen. nicht Privatpersonen gestatten wird. Schließlich reisten die angekündigten Herren jedoch nicht in Rostock an.

An dieser Stelle muß eingefügt werden, daß die hier beschriebene Angelegenheit später mehrfach zu Versuchen benutzt wurde, den Untersuchungsausschuß zu disziplinieren (s. ̎Festlegungen" der Regierungsbevollmächtigten vom 9.3.1990) und in der Öffentlichkeit zu diffamieren, wie es zuletzt während eines Forums bei der Bezirksstaatsanwaltschaft am 23.4.1990 seitens der anwesenden Vertreter des Generalstaatsanwaltes der DDR und des Komitees zur Auflösung des MfS geschah. Die "Vorwürfe" gegen den UUA seitens dieser Rechts - und Staatsorgane konzentrierten sich auch in der Vergangenheit immer wieder darauf, daß wir zwar Herrn Schnur persönlich, aber nicht den Parteivorstand des DA hätten in Kenntnis setzen dürfen. Dazu möchten wir folgendes feststellen:

1. Der Parteivorstand des DA war schon vor dem ersten Gespräch mit dem UUA über den konkreten Sachverhalt informiert.

2. Herr Schnur selbst als Betroffener hat sich über die Vorgehensweise des UUA weder gegenüber den Ausschußmitgliedern noch in der Öffentlichkeit mißbilligend geäußert. Es stellt sich hiermit berechtigterweise die Frage nach dem Grund der "Betroffenheit" der zuständigen Rechtspflege - und Staatsorgane.

3. Unter dem Eindruck einer in Wismar bekannt gewordenen Offenlegung eines früheren IM fand an Vormittag des 6.3.1990 eine Beratung zwischen UUA, Regierungsbeauftragten, Staatsanwälten und dem Leiter des Auflösungsstabes des Bezirksamtes statt. Dabei wurde Einigung darüber erzielt, daß künftig, wenn es ähnliche Fälle geben sollte, der Weg der direkten und persönlichen Information der Betroffenen die Fragen des Personendatenschutzes ausreichend garantiert.

4. Der UUA kann nicht erkennen, wem er mit der geübten Verfahrensweise persönlichen Schaden zugefügt hat.

5. In der Öffentlichkeit wurde mehrfach die Frage erörtert, wohin die Regierung der DDR unter Umständen mit einem Ministerpräsidenten oder Innenminister Wolfgang Schnur gesteuert wäre. Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses könnten darauf eine Reihe von Antworten geben!

6. In Berlin ist, ohne daß unseres Wissens der Generalstaatsanwalt Protest eingelegt hätte, in aller Öffentlichkeit Bürgern der DDR Einsicht in auf die eigene Person bezogenes Schriftgut bzw. solches Dritter gewährt worden (Beispiele Herr Eppelmann und Herr Böhme). Eine solche Verfahrensweise widerspricht nach Auffassung des UUA eindeutig geltenden gesetzlichen Bestimmungen; in Rostock wären solche Absichten durch den UUA verhindert worden.

7. Der UUA kann sich aus guter Kenntnis der einschlägigen "Informationslinien" im damaligen Staatsapparat ein Bild davon machen, auf welchem Wege die auf Herrn Schnur bezogenen Informationen so schnell in die Öffentlichkeit gelangten.

Der Fortgang der Angelegenheit

Zahlreiche Presseartikel und Medienbeiträge widmeten sich dem "Fall Schnur". Dabei war der UUA ins Gerede gekommen, insbesondere bei solchen Pressevertretern, die nur wenig Vorstellungskraft aufbringen können über Art und Inhalt der Arbeit, die von den Bürgerkomitees in den Bezirksämtern für nationale Sicherheit geleistet wird. Es gab zum Teil wenig schmeichelhafte öffentliche Bemerkungen über uns. Wir haben diese Dinge mit Geduld ertragen, wußten, was wir wußten, behielten dies für uns und vertrauten darauf, daß die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ihren Fortgang nehmen.

Die Staatsanwälte und unser Rechtsbeistand machten uns deutlich, daß die Verleumdungsklage von Herrn Schnur nur solange gegen Unbekannt besteht, wie kein "Angriffsobjekt" sichtbar ist. Wir mußten also damit rechnen, daß sich die Klage nun gezielt gegen den Ausschuss richtet. Aus diesem Grunde hatten wir bereits am 11.3.90 erwogen, eine Gegenklage des UUA gegen Herrn Schnur auszulösen, um eine Beschleunigung des Ermittlungsganges zur Klärung des Sachverhaltes zu erreichen. Unklar bleibt uns auch bis heute, warum Herr Schnur keine Klage gegen das ehemalige MfS wegen Aktenfälschung angestrengt hat. Das wäre nach unserem Verstand "logisch" gewesen. Aber er wußte wohl, was er tat! Schließlich haben wir auf die Gegenklage verzichtet, sie hätte uns nur von unserer eigentlichen Aufgabe, der Auflösung des Bezirksamtes, abgehalten.

Festlegungen zum Schutz von Personendaten

1. Aus gegebenem Anlaß wird unter Hinweis auf Ziffer 3. Der “Grundsätze zum Umgangmit dienstlichem Schriftgut und Archivgut ..." (Anlage zum Beschluß des Ministerrates Nr. 13/4/90 vom 6. .Februar 1990) der Untersuchungskommission des Bezirkes Rostock der Zutritt zu den Objekten und die Einsichtnahme in Schriftgut des ehemaligen MfS/AfNS bis auf weiteres untersagt, da die laut Ministerratsbeschluß von 8.2.1990 erforderliche Genehmigung seitens der Regierungsbevollmächtigten bisher nicht eingeholt wurde.

2. Die Regierungsbeauftragten der Bezirke werden aufgefordert, nochmals die unbedingte Einhaltung der Regierungsfestlegungen zum Personendatenschutz zu kontrollieren und jeglichen unbefugten Zugang zu entsprechendem Schriftgut zu unterbinden.

gez. Dr.Böhm Fischer Schröter Peter
- Regierungsbevollmächtigte -

Berlin, 9. März 1990

Gegendarstellung des Rostocker Unabhängigen Untersuchungsausschusses (UUA) zu Pressemitteilungen, betreffend Herrn Wolfgang Schnur.

Der UUA ist grundsätzlich den Personen - und Datenschutz verpflichtet. Er hat keine Informationen zu Einzelpersonen an die Öffentlichkeit gegeben. Das geht auch aus den Äußerungen von Herrn Eppelmann in der Pressekonferenz von 8.3.1990 in Berlin hervor.

Der UUA hat niemanden beschuldigt, sondern lediglich den Parteivorstand des Demokratischen Aufbruch am 6.3. bzw. 7.3. 1990 intern darüber informiert, daß im Archiv des ehemaligen Rostocker Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Akten lagern und Dokumente aufgefunden wurden, die auf eine Tätigkeit von Herrn Schnur als inoffizieller Mitarbeiter des früheren Ministeriums für Staatssicherheit hinweisen. Auf diesen Sachverhalt wurde der Untersuchungssusschuß im Beisein von Mitarbeitern des Staatsarchivs und der mit des UUA zusammenarbeitenden Zivil – und Militärstaatsanwälte am Montag, dem 5.3.l990, aufmerksam.

Der UUA verwahrt sich dagegen, mit seiner Arbeit, die im Interesse von Gerechtigkeit und Demokratie geschieht, in Wahl - kampfauseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Er arbeitet unabhängig von alten und neuen Parteien.

Rostock, den 9.3.1990

Am Mittwoch, dem 14.3.90, kam die Meldung: Schnur gibt auf! Sie kam früher als die Pressemitteilung des Generalstaatsanwaltes, daß die Prüfung der Dokumente ergeben hätte, daß sie zweifelsfrei echt seien. Es kann hier nur vermutet werden, daß die Dokumentenprüfung bereits am Dienstag abgeschlossen war und den unmittelbar Betroffenen (Schnur, DA – Vorstand, CDU - Bundesvorstand) Zeit gelassen wurde, das Ergebnis zu bewerten und darauf zu reagieren. Bei einem Anruf teilte der Bezirksstaatsanwalt an Nachmittag mit, daß die Pressemitteilung in Vorbereitung wäre und sagte dem UUA den ausdrücklichen Dank des Generalstaatsanwaltes für die kooperative Zusammenarbeit.

Für Donnerstag, den l5.3.90, lud der UUA die Presse zu einem Gespräch ein und hatte dazu eine Erklärung vorbereitet. Der Ausschuss verzichtete auch bei dieser Gelegenheit auf die

Offenlegung von Detailkenntnissen und bestätigte lediglich bereits in der Presse genannte Informationen. Die Teams von ZDF und ARD kamen von Berlin aus mit zweistündiger Verspätung in Rostock an, so daß Kameraaufnahmen nicht stattfanden. Wir waren darüber froh, da wir unseren in den letzten Tagen immer geübten Grundsatz, nicht vor die Kamera zu gehen, einhalten konnten. Diese selbst auferlegte Abstinenz sollte letztlich auch dem Schutz der Mitglieder des Ausschusses dienen.

Wir nahmen während des Pressegespräches jedoch auch Gelegenheit, unsere Positionen zum Umgang mit Akten, insbesondere zur Frage Aktenvernichtung, zum Schutz der persönlichen Daten der Bürger und zur öffentlichen Diskussion der Überprüfung von Abgeordneten usw. hinsichtlich früheren Verbindungen zum MfS zu sagen.

Eine weitere Gelegenheit dazu bestand am 16.3.90 während einer Lifesendung des DFF, Nord - Journal. In Kurzfassung:

- Akten dürfen solange nicht vernichtet werden, wie Rehabilitationsverfahren betroffener Bürger zu erwarten sind sowie eine Überprüfung des strafrechtlich relevanten Inhaltes von personenbezogenen Akten nicht erfolgt ist. .

- Der UUA bekennt sich grundsätzlich zum Personendatenschutz.

- Eine Überprüfung von Personen, die in öffentliche Leben stehen, ist notwendig zum Schutze dieser Personen gegen Verleumdungen und Erpressungsversuchen.

- Der UUA unterstützt alle Bürger und möchte sie ermutigen, sich gegenüber Personen ihres Vertrauens, Arbeitskollektiven usw. hinsichtlich früherer Verbindungen zum MfS zu offenbaren.

Abschließende Feststellungen

Es wird möglicherweise noch über einen längeren Zeitraum hin Spekulationen geben dahingehend, aus welchen Beweggründen heraus Herr Schnur die Offenlegung zu seiner Person, die ja bereits im Januar hätte fällig sein müssen, als am Runden Tisch in Berlin die Verdächtigungen gegen ihn laut wurden, bis zum 14.3.90 hingezögert hat. Er hat mit Sicherheit gewußt, daß seine politische Laufbahn eines baldigen Tages zu Ende sein wird, denn zu viele ehemalige Mitarbeiter des MfS wußten um seine Verbindungen zur Staatssicherheit. Hat er darauf spekuliert, daß seine Akten vor jedem Zugriff sicher sind? Hat er eventuell damit gerechnet, daß, seine Akten bereits vernichtet sind oder auch damit, daß eine Vernichtung personenbezogener Akten, z.B. auf der

…Regierungsbeschlüssen, noch zur rechten Zeit

…er nur einfach seinen ihm gestellten Auftrag

…schließlich bitteren - Ende ausführen wollen, ausführen

…Die Antwort darauf, sofern es auf diese Fragen

…ßende Antworten geben kann, wird man aus den bei der Staatssicherheit gesammelten und vorgefundenen Akten zu einem

…ten Teil entnehmen können. Man kann davon ausgehen, daß die dort lagernden 11 Aktenordner zur Person und 21 Ordner mit Berichten aus seiner Hand in einem breiten Maße die persönliche Entwicklung und Persönlichkeitsstruktur des Informanten sowie sein besonderes Verhältnis zu den Organen der Staatssicherheit, auch zur Partei - und Staatsdoktrin der letzten 2 l/2 Jahrzehnte, erhellen.

Ergänzende Bemerkungen

Nun ist es raus: "Mein Leben für die Stasi" und "Für Gott und die Stasi“ lauten die Titelzeilen der "Lebensbeichte des Wolfgang Schnur“ im STERN vom 5. April 1980.

Es ist ein eindrucksvoller Bericht, der da der Öffentlichkeit präsentiert wird, aber sagt er schon die ganze Wahrheit? Sofern es eine solche überhaupt gibt: Es drängt sich beim Lesen der Eindruck auf, daß die Beweggründe, die Herrn Schnur in all den Jahren rastlos für die Staatssicherheit haben tätig werden lassen, nicht nur im Geld oder in seiner Anerkennungsucht liegen. Es muß vielmehr vermutet werden, daß Herr Schnur mit seiner ganzen Person dem früheren Staats - und SED - Gefüge immanent war. So klingt es wenig glaubhaft, wenn er behauptet, daß er nur eines der vielen Opfer des ehemaligen Systems gewesen sei.

Er spricht davon, daß es auch militärische Auszeichnungen für seine Informantentätigkeit gegeben hätte und beklagt sich, daß man' sein 25 - jähriges "Dienstjubiläum" vergaß. Möglicherweise hatten in diesem Falle seine Führungsoffiziere ein besseres Gedächtnis als Herr Schnur, was den Beginn seiner aktiven Tätigkeit für das MfS betrifft. Aus unserer Kenntnis werden Jubiläen solch wichtiger Leute, wie Herr Schnur einer war, in der Regel nicht übersehen. Der Gerechtigkeit halber muß aber gesagt werden: Herr Schnur bekam seine Auszeichnung. Schließlich feierte die Republik im Oktober 1989 ihren 40. Geburtstag, und da konnte und wollte man eine so eifrige und erfolgreiche Stütze der Politik der Partei der Arbeiterklasse nicht übersehen!

Einige Fragen bleiben offen: Herr Schnur hatte Kontakt zu vielen Menschen, gerade auch in den stürmischen Zeiten des vergangenen Jahres. Sollte er tatsächlich nur Informationen über solche Menschen weitergetragen haben, gegen die er einen ̎Groll" hegte?

Und schließlich war er eingeweiht in interne Ziele und Absichten weiterer Oppositionsgruppen; nicht nur in die des "Demokratischen Aufbruchs ̎.

Der Bericht bringt zum Ausdruck, daß Herr Schnur "glänzend im Geschäft“ war. Sind all diese eingenommenen Gelder tatsächlich korrekt versteuert worden?

Dem STERN - Bericht zufolge tat es Herrn Schnur gut, sich ̎nach all den Jahren“ mal richtig ausquatschen zu können. Gewiß ist Herr Schnur, aus seiner persönlichen Sicht nach der revolutionären Umgestaltung im Lande, eines der Opfer. Ist er aber damit auch Opfer des früheren Systems? Bestimmt haben andere mehr Schuld auf sich geladen: aber Täter war er doch wohl allemal!