Die Vorgeschichte der Demonstration vom Neuen Forum

Christian Booß: Stellte den Zeitzeugen Reinhard Schult vor.[1] Er ist ein Urgestein der Berliner oppositionellen Szene. Er war einer der Erfinder der Demonstration am 15. Januar, die unabhängig von dem Aktivitäten der Bürgerkomitees im Gelände vor der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg stattfand. In der Revolution war er aktiv für die Oppositionsbewegung „Neues Forum“ und für diese am zentralen Runden Tisch.

Zusammen mit Ingrid Koeppe[2] hat Schult die Demonstration vom 15. Januar ausgeheckt. Es stellt sich die Frage, warum eigentlich? Schult saß ja eigentlich am Drücker, am Runden Tisch. Oder war dieser Schult, der eher am linken Flügel vom Neuen Forum stand, nicht forsch genug? Oder wollten die beiden die Regierung Modrow vorantreiben? Warum die Idee zu dieser Demonstration? Im Grunde genommen, war vieles zur Abwicklung des Apparates, wie erwähnt, schon eingetütet. Es gab schon den Beschluss des Ministerrates vom 13. Januar 1990, dass vor den Wahlen kein Ersatz für das AfNS geschaffen werden sollte. Warum also dennoch diese Demo? Und warum diese Parole? „Bringt Steine mit“, dann Punkt, Punkt, Punkt, „zum Zumauern“. Aber das wirkte natürlich für viele doppeldeutig. Was hat also Reinhardt Schult wirklich im Schilde geführt?

 

Reinhardt Schult: Also, die Vorgeschichte ist ja schon ein bisschen dargestellt worden von den Vorreferenten. Es gab das Treffen zum republikweiten Sprechertreffen des „Neuen Forum“ vom 6./7. Januar in Leipzig. Da ging es um die Wahlen. Aber parallel dazu fanden Treffen der Bürgerkomitees statt, wo auch diese Zustände in Berlin, dass dort noch nichts passiert war, dargestellt worden sind. Und es ist in Leipzig beschlossen worden, meines Wissens in Abstimmung mit dem Bürgerkomitee, aber jedenfalls als ein Beschluss des Neuen Forums, am 15. Januar einen DDR-weiten Aktionstag zur Auflösung der Staatssicherheit zu machen. Dieser sollte dezentral organisiert werden, in allen Orten oder Städten – jedenfalls, wo Leute da waren, die an dem Thema interessiert waren: Ingrid Köppe[3] und ich haben auf dem Rückweg nach Berlin im Trabant gesessen. Wir haben gesagt: „“Was machen wir jetzt mit dem Beschluss?“ Bis zum 15. Januar waren noch ungefähr acht Tage. Und diese Idee der Demonstration oder Aktionsdemonstration ist auf dieser Rückfahrt entstanden. Der Hintergrund war der, dass, im Gegensatz zu den an­deren Städten, Berlin relativ demonstrationsfaul war. Wir konnten nicht einschätzen konnten, wie viele Leute würden wir mobilisieren können. Deshalb haben wir auf Grund der Größe des Objektes nicht zur Besetzung aufgerufen, sondern haben gesagt, wir blockieren die Tore. Und mal sehen, wie viel Leute da hinkommen, wenn es genug Leute sind, und man schafft es vielleicht zur Besetzung oder ein Bürgerkomitee zu installieren, dann ist es o. k.. Aber vorsichtshalber wollen wir mal den Mund nicht so voll nehmen. Wir haben dann diese – ja – Flugblätter verteilt, die Presserklärungen gemacht; und es ging dann relativ schnell, dass sich die Nachricht verbreitete.

 

Am 12. waren dann die Treffen der Bürgerkomitees. Und die Taxidemonstration vor der Volkskammer, wo dann Modrow vor laufenden Kameras sagte, dass bis zu den Wahlen kein neuer Nachrichtendienst gegründet wird. Dies war für uns aber kein Grund, die Demonstration abzusagen, weil wir die Erfahrungen der Monate vorher hatten, wie versucht wurde, sowohl am zentralen Runden Tisch durch Tricks, durch inkom­petente Mitarbeiter, als auch durch Verzögerungstaktik immer wieder gemachte Versprechungen zu unterlaufen. Es gab ja schon die erste Begegnung mit dem damaligen Chef der Staatssi­cherheit, Schwanitz, am 4. Dezember hier auf dem Gelände am Sitz des Ministers. Mit Schwanitz ist von einigen Leuten der Op­positionsbewegung verhandelt worden, dass am Abend des 4. Dezember in Leipzig Leute in die Stasi-Zentrale Leipzig hineingelassen werden sollten. Auch dieses ist versucht worden, zu unterlaufen, und erst durch massiven Druck dann doch geschehen. Also, von da aus waren unsere Erfahrungen so, dass wir diesen Beschlüssen misstraut haben. Und wir haben gesagt, wenn die Straße hier nicht weiter in Bewegung bleibt, dann wird das ein schönes Papier werden oder eine schöne Erklärung, aber da passiert weiter nichts.

 

Christian Booß: Sie haben mit mehr Deutlichkeit als zumindest mir das bisher bewusst war, erläutert, dass es Vorabsprachen in Leipzig gegeben hatte zwischen den Bürgerkomitees und dem „Neuen Forum“. Und sie haben auch gesagt, das fand ich ja nun wirklich bemerkenswert, sie haben nicht zur Besetzung aufgerufen, weil sie nicht wussten, bei diesen demonstrationsfaulen Berlinern, wie viele Leute kommen. Wenn aber genügend Leute kommen, dann o. k.. Um das noch mal zuzuspit­zen, wie der Jurist sagen würde, haben sie es billigend in Kauf genommen, dass, wenn genügend Leute kommen, eine Besetzung stattfindet.

 

Reinhardt Schult: Ja, so haben wir es zumindest gesagt,  wenn genug Leute da sind, dann sind wir dafür, dass wir nicht nur davor stehen bleiben und die Sachen blockieren oder Mahnwachen aufstellen, sondern schon, dass ein Bürgerkomitee sich installiert und die Zentrale lahm legt. Das war natürlich das Ziel dieser Aktion.

 

Christian Booß: Ich glaube, wir haben das alle verstanden. Ich habe trotzdem noch einmal eine Nachfrage zu der Motivation, als sie da im Trabbi saßen, Ingrid Koeppe und Sie: Ging es ihnen eigentlich wirklich nur um die Stasi-Auflösung? Oder war diese Demo nicht auch ein Stück ein Vehikel, um Modrow niederzuringen? Ein Stück der Machtauseinandersetzung zwischen dem alten System und den Oppositionsgruppen. Oder, um es noch einmal zu verschärfen: Es gab ja die ersten Krisensymptome auch im „Neuen Forum“, das ausgerechnet im Vorfeld der Volkskammerwahlen[4] zu bröckeln anfing. Wollten Sie nicht auch einfach ihre Gruppe, das „Neue Forum“, mit dieser Aktion profilieren?

 

Reinhardt Schult: Da gab es keine Hintergedanken. Die Auseinandersetzungen innerhalb des „Neuen Forum“ waren mit solcher Art von Profilierung nicht zu kitten. Mir war es klar, dass manche Leute auf Teufel komm raus unbedingt an Wahlen teilnehmen wollten, in den Parlamenten sitzen wollten, während ein anderer Teil der Auffassung war, dass es wichtiger ist, die Inhalte weiterhin auf der Straße zu transportieren. Von daher  war diese Demonstra­tion nicht mit irgend solchen Zielen verbunden. Es war klar, dass die Staats­sicherheit nach wie vor eine Gefährdung für die Revolution war. Das, was wir heute wissen, wussten wir damals nicht. Es gab einen Aufruf am 8. Dezember in der Bezirksverwaltung Gera des MfS, nun endlich der Konterrevolution Widerstand zu leisten und die führenden Kräfte zu liquidieren. Es gab die Umwandlung des MfS in das AfNS. Die Zusage war: Die Stasi wird jetzt aufgelöst. Aber dann, per Zufall über Briefkopfbögen mit dem Stempel „Verfas­sungsschutz und Nachrichtendienst der DDR“, haben wir wieder mitgekriegt, dass hier doch wie­der gemauschelt wird. Auch die Entwaffnung war bis dahin für meine Begriffe un­vollständig, bzw. hat sich am zentralen Runden Tisch da nachher festgestellt, dass mehr Waffen[5] abgeliefert worden sind, als überhaupt registriert waren. Und, ja auch selbst Engel­hardt behauptet ja in seinem heutigen „Tagesspiegel“ -Artikel[6], dass die Stasi schon ent­waffnet war, doch seine Waffe lag im Panzerschrank. Den Schlüssel hat er dann wahrscheinlich wohl weggeschmissen!  Das war dann vielleicht die Entwaffnung. Also es war für uns in der Situation schon wichtig, dass dieser Apparat weiter angegriffen wird und endgültig zerschlagen wird, weil der für uns die größte Bedrohung war. Während die anderen, die Volkspolizei und andere Sicherheitsorgane sich schon doch nach und nach absetzten. Sie und in dem Sinne auch die NVA[7] war nicht mehr als die Akteure eines Versuches anzusehen, die Richtung noch einmal rumzureißen.

 


[1] War unter anderem bei der Untergrundzeitschrift „Friedrichsfelder Feuer­mel­der“ engagiert, bei der ‚Kirche von unten’, die sich sehr stark mit unangepassten Jugend­lichen beschäftigt hat, und mit denen zusammen gearbeitet hat.

 

[3] Ingrid Koeppe war Sprecherin des Neuen Forums Berlin und war für das NF am Zentralen Runden Tisch, später Bundestagsabgeordnete, heute Rechtsanwältin.

[4] Die Volkskammerwahl 1990 war die letzte Parlamentswahl der DDR und die einzige, die demokratischen Grundsätzen entsprach. Sie fand am 18. März 1990 statt.

[5] Am 11. Januar 1990 wurde die Waffenkammer des MfS geräumt.

[6] Engelhardt´s Artikel im Tagesspiegel: Loy, Thomas (2005): „Einige rochen nach dem Westen“. Heinz Engelhard, letzter Stasi-Chef, hielt in seinem Büro die Stellung. http://www.tagesspiegel.de/politik/einige-rochen-nach-dem-westen/577440.html. Letzter Zugriff am 20.11.15.

 

[7] Die NVA war die Nationale Volksarmee der DDR.