Der Mythos von der zweiten Stasi-Besetzung vom 4. September 1990

Autor Christian Booß

Der Mensch mag Mythen. Sie lassen sich gut erzählen. Sie machen Menschen zu Helden und Geschichte griffig. Ob sie wirklich stimmen, ist oft gar nicht so wichtig. Die sogenannte zweite Besetzung der Stasi-Zentrale vor 30 Jahren, am 4. September1990 ist so ein Mythos. Er besagt, die Besetzung hätte die Stasi-Akteneinsicht gebracht und im Prozess der deutschen Einheit gegen den Westen durchgesetzt. Schon die Bezeichnung zweite Besetzung ist problematisch. Die Aktion vom 15. Januar, wo tausende Demonstranten auf das Gelände stürmten, war insofern keine wirkliche Besetzung, da das Objekt schon vorher Bürgerkomitees und der Volkspolizei übergeben worden war. (Mehr...)

An der Geschichte vom 4. September stimmt immerhin so viel: Das Ereignis hat stattgefunden. Rund zwwei dutzend Bürgerrechtler und Stasiauflöser drangen in Teile des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit ein, das im Zuge der Revolution faktisch aufgelöst worden war. Mit dabei die Ikone der friedlichen Revolution, Bärbel Bohley und der Barde aller Andersdenken, Wolf Biermann. Dass sie alsbald noch in den Hungerstreik traten und sich Journalisten und Politiker bei den Besetzern die Klinke gaben, verschaffte dem Ereignis Theatralik und große Aufmerksamkeit. Richtig ist auch: Die Vorstellungen, wie mit der Stasi-Erbschaft, den Akten, umzugehen sei, war kurz vor der deutschen Vereinigung höchst umstritten. Die damalige Bundesregierung wollte die Akten zentral im Bundesarchiv für die Öffentlichkeit möglichst verschlossen halten. Das demokratisch gewählte DDR-Parlament, die Volkskammer, wollte die Akten, möglichst ostdeutsch dezentral verwaltet, für die Aufarbeitung der SED-Diktatur zur Verfügung stellen. Die Volkskammer hatte selber kurz zuvor ein entsprechendes Aktengesetz verabschiedet. Die Regierung Kohl blockierte dessen Übernahme in den Einigungsvertrag. Besetzung und Hungerstreik skandalisierten diesen Konflikt medienträchtig. Schließlich kam es Mitte September zum Kompromiss. Der Einigungsvertrag wurde ergänzt. Ein künftiges Bundesgesetz sollte sich an den Aufarbeitungsprinzipien der Volkskammer orientieren. Die Stasi-Akten sollten in einer Sonderbehörde unter Leitung eines Ostdeutschen verbleiben, der späteren Gauckbehörde.

So weit so schön, doch nun zu den Fakten jenseits des Mythos. Der Ostwest-Kompromiss stand im Kern schon vor der Besetzung fest. Die DDR-Volkskammer hatte am 30. August in einem fast einstimmigen Beschluss die Berücksichtigung ihrer Vorstellungen gefordert. Mehrere Abgeordnete drohten andernfalls gegen den Einigungsvertrag zu stimmen. Ein Scheitern dieser Abstimmung, die eine 2/3 Mehrheit erforderte, wollte keiner riskieren. Schon am Abend nach der Volkskammersitzung wurde daher ein Ausweg ersonnen. Auch die Akteneinsicht brachte die Aktion auf dem Stasigelände nicht. Die Besetzer hatten die Aushändigung der Akten an die Betroffenen gefordert. Wäre das geschehen, der Aktenbestand wäre zerpflückt und für Historiker und die Aufarbeitung unbrauchbar geworden. Die Volkskammer selbst hatte nur ein restriktives Auskunftsrecht für die Betroffenen gefordert. Die liberale Akteneinsicht, wie sie später mit dem Stasi-Unterlagengesetz kam, war kurioser Weise eine Folge des (westdeutschen) Datenschutzes. Wenn schon rechtsstaatswidrig erhobene Akten aufgehoben würden, sollen sie zuallererst den Betroffenen zugänglich sein. Immerhin hatte der Medienhype um die Besetzung auch sein Gutes. Er hatte allen noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig den Ostdeutschen die Stasi-thematik war. Und so wird man sich den Mythos wohl auch künftig gerne weitererzählen.