Stasientmachtung 1989 in Suhl

Bernd Winkelmann

Rede zum Gedenken Stasientmachtung 1989
am 4. Dezember 2017
Gedenkstätte Andreasstraße Erfurt

Vielen Dank für Ihre Einladung. Sie baten mich, heute zur Eröffnung dieser Gedenkveranstaltung an die Entmachtung der Stasi 1989 in Suhl zu erinnern.
Anlass gibt es dafür, denn ein entscheidender Anstoß zur Besetzung der Stasizentrale in Suhl kam von Euch hier in Erfurt.

1) Am Montagvormittag, den 4. Dezember erreichte uns ein Anruf unserer Freunde aus Erfurt. Sie erzählten, dass in der Bezirksstelle der Staatssicherheit Erfurt Akten vernichtet werden: Sie versuchten, es durch ein Bürgerkomitee zu verhindern. Wir sollten in Suhl ähnliches versuchen.
Gita Wurschi und Lutz Stieler vom Neuen Forum fuhren daraufhin zum Rat des Bezirks und forderten, mit Hilfe des Bezirksstaatsanwaltes einen Kontrollgang in der Bezirksstelle der Staatssicherheit Suhl durchführen zu können. Sie wurden abgewiesen.

Gegen Abend fuhr eine Zehnergruppe des Neuen Forums hoch zur „Stasiburg“, um mit Generalmajor Lange direkt zu verhandeln.

Unabhängig davon war für den Abend des 4. Dezember eine Vollversammlung des Neuen Forums in der Stadthalle angesetzt. Es kamen annähernd 3000 Menschen. Die Sache mit der Aktenvernichtung hatte sich rumgesprochen. Wir teilten gleich zu Beginn der Versammlung mit, dass eine Gruppe des Neuen Forums mit der Bezirksleitung der Stasi verhandle.

Als gegen 21.15 Uhr diese Gruppe in den Saal kam und berichtete, dass sie nichts erreichte hätten, brach der Tumult los: Die Menschen sprangen auf, forderten eine sofortige Besetzung der „Stasiburg“. Einige riefen: „Nehmt Stricke mit, hängt sie auf!“

Ich bat die Anwesenden mit beschwörenden Worten, sich für einige Minuten noch einmal hinzusetzen. Mein Vorschlag, am Mittwoch in einer geordneten Demonstration zur Stasizentrale hochzuziehen, wurde abgelehnt. Der sofortige Protestmarsch zur Stasiburg wurde durchgesetzt. Die Masse strömte auf die Straße. Wir versuchten, mit den Mitgliedern des Neuen Forums das irgendwie zu ordnen. Wir baten die Volkspolizei, uns dabei zu helfen. Sie verweigerte es, weil sie gegen die Stasi nicht aktiv sein dürfe. Der Bezirksstaatsanwalt Dr. Schulz sollte geholt werden, damit er die von uns kontrollierten Räume versiegelt.

Als wir oben an der „Stasi-Burg“ ankamen, war unser Zug auf fast 5000 Menschen angewachsen.

Vor uns das drei Meter hohe verriegelte Eisenplattentor; daneben eine schmale Gittertür. Dahinter Uniformierte mit Maschinenpistolen, Handgranaten und Feuerwehrschläuchen im Anschlag.

Gita Wurschi, Siegfried Geißler und ich versuchten, durch lautes Rufen mit der Stasi zu verhandeln. Keine Reaktion.
Nach einer Stunde wurden die Massen hinter uns immer aggressiver. Unser Ruf: "Keine Gewalt!" wurde kaum noch aufgenommen. Dafür erklangen Rufe wie „Drückt das Tor ein!“ oder „Hängt sie auf!“ Die ersten Gegenstände flogen. Das große Platteneisentor drohte unter dem Druck der Massen nachzugeben. Wir befürchteten das Schlimmste. 

Da hatten wir eine rettende Idee. Wir stellten der Stasi ein Ultimatum: Wenn wir nicht in 5 Minuten ein Megaphon bekämen und in 10 Minuten nicht eine Gruppe von 15 Bürgervertretern hineingelassen würde, würde sich die Leitung des Neuen Forums zurückziehen und dem Geschehen seinen Lauf lassen.
Sofort wurde uns durch die Gittertür ein Megaphon gereicht. Eine Gruppe von knapp 20 Vertretern des Neuen Forums wurde ins Stasigelände eingelassen.

Zunächst wurden wir wieder hingehalten: die Räume seien streng geheim, es gäbe keine Aktenvernichtung... - bis draußen vor dem Tor erneut ein Tumult ausbrach: Einige hatten versucht, über das Tor zu klettern. Ein Soldat warf eine Tränengasgranate in die Menge. Ich lief mit dem Megaphon ans Tor und versuchte, die Massen zu beruhigen.

Unsere Freunde vom Neuen Forum jenseits des Tores, riefen mir zu, die Leute wüssten nicht, was die Stasi mit uns da drin mache, sie könnten die Situation nicht länger ruhig halten. Wir sagten ihnen zu, dass wir alle 15 Minuten über den Fortgang unserer Verhandlungen Nachricht nach draußen geben. Das explosive Geschehen vor dem Tor half uns, von Generalmajor Lange den Rundgang durch das Gebäude zu erzwingen.

Dieser Rundgang durch die Räume des Stasi war gespenstisch: die endlosen bunkerähnlichen Archivkeller bis an die Decke mit uferlosen Aktenregalen gefüllt. Mit Hilfe des Bezirksstaatsanwalts versiegelten wir wenigstens symbolisch einen Teil der Archive, Kellerräume, Computerräume, Luftschutzbunker. Schließlich fand eine Teilgruppe von uns einen Kellerraum mit Reißwolf und Aktenresten.

Generalmajor Lange verschwand plötzlich, kam dann mit versteinertem Gesicht wieder. Wir erfuhren am nächsten Tag, dass ein hoher Offizier sich in dieser Stunde in seinem Dienstzimmer erschossen hatte; auf seinem Schreibtisch hinterließ er einen Zettel mit der Aufschrift: "Ich schieße nicht auf mein eigenes Volk." 

Gegen 2.3o Uhr morgens verließen wir das Gelände der Stasi.

Doch die eigentliche Entmachtung der Stasi gelang erst am kommenden Tag.

Busfahrer hatten beobachtet, wie durch das Tor der Stasi LKW´s rein und rausfuhren. Ein Busfahrer fuhr seinen Bus einem LKW so dicht auf, dass das Tor nicht wieder geschlossen werden konnte. Sofort strömten viele Menschen in das Gelände der Stasi.
Generalmajor Lange rief uns im Büro des Neuen Forums an, das wir im evangelischen Superintendentur eigerichtet hatten: wir sollten sofort hoch kommen, sonst könne er für nichts garantieren.

Als wir oben ankamen, standen sich einige hundert wütende Bürger und schwerbewaffnete Uniformierte gegenüber. Lange kündigte den Einsatz von Waffen an, wenn die Menschen gewaltsam in die Gebäude eindrängen.

Inzwischen hatte die Volkspolizei die Anweisung von Markus Wolf in Berlin, mit uns zusammenzuarbeiten. So konnten wir jetzt wesentlich bestimmender auftreten. Wir organisierten die erste Zusammensetzung des „Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit“. Generalmajor Lange wurde durch ein Telefonat mit „Amt für Nationale Sicherheit“ in Berlin beurlaubt. Eine spontan eingesetzte „Bürgerwache“ übernahm mit der Volkspolizei die Kontrolle aller Zugänge zur Stasizentrale. Bis auf das technische Personal sollten alle Mitarbeiter der Stasi das Gelände bis zum Abend verlassen.

Jetzt gab es eine grandiose Umkehrung der Situation: Die etwa 600 Funktionäre der Staatssicherheit mussten sich, ihre Aktentaschen und Autos von denen kontrollieren lassen, die sie Jahrzehnte lang mit den infamsten Methoden überwacht und eingeschüchtert hatten. Ihre Macht war gebrochen.

Wir wissen, in dieser Woche zwischen dem 4. und den 9. Dezember 1989 lief es ähnlich hier in Erfurt und in fast allen Bezirks- und Kreisämtern der Staatsicherheit. Die wohl gefährlichste Situation der Herbst-Revolution 1989 war ohne Blutvergießen bewältigt.

 

2) Warum diese Erinnerungen?

Ein nostalgisches Schwärmen von unseren vermeintlichen Heldentaten damals?

Nein, viel Wichtigeres ist zu begreifen und zu bearbeiten.
In vier Stichworten will ich es zusammenfassen:

1. Stichwort: Wahrheits- und Machtmonopol und Opportunismus: Die Stasi in der DDR war schlimm. Aber das eigentliche Übel war das Macht- und Wahrheitsmonopol des SED-Staates - und die Kehrseite jeder Diktatur: Angst und Opportunismus einer Mehrheit des Volkes. Beides lässt ein Gemeinwesen tödlich erkranken. Das vor allem gilt es zu begreifen und für heute auszuschließen.

2. Stichwort: Zivilcourage: Gerade in Zeiten tiefster Stagnationen gibt es Aufbrüche und Wenden. Sie gehen zu allen Zeiten von Einzelnen und zivilgesellschaftlichen Gruppen aus, die dem Opportunismus nicht erliegen. Es sind Menschen, die mit Zivilcourage gegen Unrecht und Lüge aufstehen. Es sind Menschen, die von der Vision einer gerechten, befriedeten und wahrhaft demokratischen Gesellschaft inspiriert sind. Es sind Menschen, die darin ihrem Gewissen folgen und es wagen, gegen den Strom zu schwimmen. Gott sei Dank gibt es auch heute diese Menschen.

3. Stichwort: Zivilgesellschaft und Beteiligungsdemokratie: Wir brauchen heute durchaus profilierte Politiker, vielleicht auch Berufspolitiker. Aber daneben brauchen wir als zweites Standbein einer wachsamen Demokratie das Aufstehen zivilgesellschaftlicher Gruppen und Bewegungen. Wir brauchen eine organisierte und geförderte Bürgerbeteiligungsdemokratie. Ansonsten fühlen sich die Bürger zu Recht „abgehängt“ und von einer vom Lobbyismus unterwanderten Funktionärsdemokratie betrogen. Sie werden abgestumpfte Opportunisten oder Wutbürger. Dem gilt es entgegenzutreten!

4. Stichwort: Gewaltlosigkeit: Das Grundprinzip gesellschaftlicher Erneuerung und Umbrüche muss Gewaltlosigkeit sein - und der Widerstand gegen Hassideologien aus welcher Richtung auch immer. Gewaltlosigkeit und Dialog sind keine Garantie, dass es gelingt; aber sie sind die einzige Chance, damit nicht aus alter Gewalt neue Gewalt wird.

Die Gedenkstätte Andreasstraße kann hierfür eine hilfreiche Bildungsstätte sein.