Besetzung der Kreisdienststelle-mehr als ein Erlebnisbericht

 

Autor: Hinrich Kuessner

 

Greifswald im Herbst ´89

1989 war Greifswald eine etwas heruntergekommene Stadt mit einer kleinen Universität und einem großen Atomkraftwerk. 1945 war die Stadt kampflos der Roten Armee übergeben worden. Die Altstadt zerfiel erst in den letzten DDR-Jahren. Greifswald lag nicht im Westfernsehbereich und war von daher kein begehrter Arbeitsort. Weil Fachkräfte auch im Kernkraftwerk fehlten, beschloss die SED, dass Greifswald Westfernsehen erhalten soll. Die ersten Anschlüsse wurden1989 gelegt.Greifswald hatte 1989 rund 68.000 Einwohner.

Wie in vielen Orten der DDR beobachteten und beanstandeten Bürger die Auszählung der Wahlen im Mai. Am 11. Juni wurde der Dom nach umfangreichen Renovierungen mit vielen Gästen aus Ost und West eingeweiht. Sogar Erich Honecker erschien. Die Häuser um den Dom zerfielen, zum Teil waren sie leer gezogen. In den Straßen, die Honecker zu Gesicht bekam, wurden Fassaden gestrichen. Ausreisewillige Greifswalder mussten die DDR kurzfristig verlassen. Die kirchliche Presse äußerte sich kritisch zur Domeinweihung. Als Bischof Gienke sich bei Honecker in einem Brief, der im Neuen Deutschland veröffentlicht wurde, für seinen Besuch bedankte und sich gegen kritische kirchliche Stimmen aussprach, brachte der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen. Im Herbst entzog die Synode dem Bischof das Vertrauen und er trat zurück. Das war ein außergewöhnlicher Vorgang in einer Kirche.

Am 3. Oktober traf sich eine erste Gruppe des Neuen Forums in Greifswald. Am 26. Oktober wurde der Ortsverein der Sozialdemokratischen Partei(SDP)gegründet.In Greifswald lebte einer der Initiatoren für die Gründung der SDP in der DDR, der Studentenpfarrer Arndt Noack. Studenten trafen sich als Gruppe „Unabhängiger Studenten“. Das erste Friedensgebet mit anschließender Demonstration fand im Dom am 18. Oktober statt. Bei der Demonstration wurde mit den Stadtoberen der erste Mensadialog für den nächsten Tag verabredet. Friedensgebete, Demonstrationen, Kundgebungen auf dem Marktplatz und der Mensadialog waren die zentralen Veranstaltungen, die die Greifswalder Demokratiebewegung voranbrachten.

Am 20. Oktober war die erste öffentliche Veranstaltung des Neuen Forums. Auf ihr wurde ein Sprecherrat gewählt. Ich wurde einer der beiden Ersten Sprecher. Von Anfang an kam sein Greifswald zum Dialog zwischen den alten und neuen Kräften. Neues Forum und Volkspolizei hatten bald guten Kontakt. Am 26. Oktober lud die SED-Kreisleitung den Sprecherrat des Neuen Forums zu einem Gespräch ein. Das war kein freundliches Gespräch. Die gegensätzlichen Auffassungen wurden deutlich. Nach dem Gespräch gab es eine kurze abgestimmte Presseerklärung. Die Leser der SED-Zeitung erfuhren so, dass das Neue Forum eine anerkannte Größe ist. In den Stasiakten lasen wir später eine Beurteilung des Gespräches durch den Stasichef. Er war nicht dabei gewesen, hatte aber wohl zugehört.

Ein Höhepunkt beim Mensadialog war der 22. November zum Thema Struktur und Arbeitsweise des Staatssicherheitsdienstes. Auch die Demonstration und Kundgebung am gleichen Tag standen unter diesem Thema. Der Mensadialog wurde durch eine Gruppe vorbereitet. Diese Gruppe benannte einen SED-Vertreter als Gesprächsleiter. Daran merkten wir, dass die alten Kräfte die Mehrheit in der Vorbereitungsgruppe hatten. Wie sich später zeigte, gehörten Stasi-Informanten zur Gruppe. Im Neuen Forum verabredeten wir, dass wir den Gesprächsleiter zu Beginn der Veranstaltung durch Zuruf abwählen lassen und einen von uns als Gesprächsleiter einsetzen. Das gelang auch. Zur Vorbereitung dieses Mensadialoges hatten wir Fragen formuliert und sie vorher dem Leiter der Greifswalder Stasistelle übergeben. Mit ihm sollte die Diskussion geführt werden. Er meinte, dass er bis auf zwei Fragen alles beantworten kann. Bei den zwei Fragen ging es um die Anzahl der haupt-und „ehrenamtlichen“Mitarbeiter.2

Bei der Demonstration wurden auf Plakaten ein Volksentscheid zu Artikel 1 der Verfassung-Streichung des Einbürgerungsanspruch SED -und ein Stasi-Untersuchungsausschuss gefordert. Auf der Kundgebung sprach ich für das Neue Forum:

Im Podium des Mensadialoges saßen zu unserer Überraschung der Chef des Bezirksamtes der Stasi Rudolf Mittag und der Leiter der Untersuchungsabteilung Werner Mehlitz. Der Greifswalder Stasichef Peter Erfurth stand im Publikum. Rund 1500Teilnehmerstanden in und vor der Mensa. Herr Mittag schätzte die Situation völlig falsch ein. Er glaubte noch an seine Autorität. Er stellte sich hin und machte wortreiche nichtssagende Aussagen. Die Menge brüllte und buhte ihn aus. Schließlich setzte er sich völlig irritiert hin und sank in sich zusammen. Ich saß neben ihm im Podium. Er schwitzte fürchterlich. Ich befürchtete, dass er einen Herzinfarkt bekommt. Wenn ein Bürger das Wort ergriff, stieß es aus ihm heraus:„Wie war der Name? Aufschreiben, aufschreiben!“ Neben ihm saß sein Abteilungsleiter. Er schrieb fleißig, aber sehr unkonzentriert vieles auf. Das Ergebnis der Veranstaltung waren keine neuen Erkenntnisse zur Organisation der Stasi. Aber diese leitenden Stasileute haben wohl verstanden, dass 3 ihre Macht gebrochen ist. Nach Vorwürfen zu Folterungen im Stasikeller wurde eine Besichtigung des Kellers gefordert. Die Stasi ließ sich darauf ein. Die Versammlung benannte eine kleine Gruppe. Um Mitternacht betraten wir das Stasigebäude. Im Keller fanden wir zwei Zellen und eine Sauna. Alles sah so aus, als wenn es seit längerer Zeit nicht genutzt wurde.

Am 2. Dezember spitzte sich die Lage zu. Aus Rostock kam ein Anruf, ob wir uns dem Aufruf zum Generalstreik aus Karl-Marx-Stadt am 6. Dezember anschließen. Die Vorstände vom Neuen Forum und der SDP trafen sich. Wir waren nicht für einen Generalstreik. Zur SDP gehörte der Mitarbeiter des KKW Norbert Meyer.Er war als Leiter im Forschungsbereich technische Sicherheit tätig. Er kannte Störfälle und Sicherheitsrisiken des KKW. Er warnte uns, dass es im Kernkraftwerk bei einem Streik zu einem schwerwiegenden Unfall kommen könnte. Wie sich die Leitung des KKW bei einem Streik verhält, konnten wir nicht einschätzen. Von Bekannten hatte ich einige Zeit vorher auf einer Tonbandkassette einen Mitschnitt der SED-Parteigruppe der Volkskammer vom 18. Oktober bekommen. In einem Diskussionsbeitrag hatte sich der SED-Bezirksparteichef von Schwerin für Gewalt gegen Demonstranten ausgesprochen. Die Leitung des KKW zählten wir zu den Hardlinern, die wir nicht für berechenbar hielten. Wenn es aber zu einem DDR-weiten Generalstreik kommen sollte, wollten wir nicht abseits stehen. Wir bereiteten ein Flugblatt vor.4

Bei unserer Diskussion an diesem Tag ging es auch um die Schaffung stabiler Strukturen der Demokratiebewegung. Wir hielten einen Machtwechsel für möglich. Dazu war die Bildung von neuen Parteien notwendig. Das Neue Forum hielten wir in dieser Situation weiter für sinnvoll. Die öffentliche politische Diskussion unter uns, den DDR-Bürgern, war die Voraussetzung für eine demokratische Umgestaltung. Der nächste Schritt war nötig,die Schaffung von Parteien, die die Umgestaltung der Gesellschaft vorantrieben. Es kam dann anders. Der Generalstreik war nicht mehr das Thema. Auf Anregung von Bürgern aus unserer Region bildeten am Sonntag, 3. 12.,Hunderttausende eine Menschenkette durch die DDR. Die Nachrichten marktbeherrschend Verschwinden von Alexander Schalck-Golodkowski und die kriminellen Machenschaften seiner Ko-Ko-Firmen. In Kavelstorf bei Rostock wurde ein Waffenlager entdeckt. Die DDR hatte mit Waffen Geschäfte und Politik gemacht. Am Abend trat das SED-Politbüro zurück. Das waren sichtbare Zeichen für den Zerfall des DDR-Machtapparates. Am 1. Dezember hatte die Volkskammer den Führungsanspruch der SED aus dem Artikel 1 der Verfassung gestrichen.

Am Montag, 4. 12.,kamen Greifswalder Bürger früh in mein Büro und berichteten, dass aus dem Schornstein der Stasi Papierasche fliegt. Wenn wir vom Neuen Forum nichts tun, dann wollten sie aktiv werden. Ein anderes Mitglied vom Sprecherrat des Neuen Forums, der Physiker Dr. Jürgen Drenckhan,bekam aus Erfurt einen Anruf. Die Erfurter berichteten, dass sie an diesem Tag die Stasi besetzen wollen und baten uns zu überlegen, ob wir das auch in Greifswald tun können. JürgenDrenckhan rief mich an. Ich telefonierte mit Norbert Meyer. Das taten wir mehrmals. Wir verabredeten, dass wir die SED-Kreisleitung und das Kreisamt der Stasi in Greifswald umstellen und wenn möglich besetzen. Für uns war die SED der Arbeitgeber der Stasi. Darum mussten beide Dienststellen lahmgelegt werden.

Ich hatte einen Computer und Drucker. Darum sollte ich ein Flugblatt schreiben, durch das Menschen für die Besetzungen mobilisiert werden. Norbert Meyer wollte im Kernkraftwerk die Besetzung der Gebäude der SED und Stasi organisieren. Wir rechneten damit, dass unsere Telefongespräche abgehört werden. Das hinderte uns damals nicht mehr, uns am Telefon zu verabreden. Als ich beim Schreiben des Flugblattes war, bekam ich einen Anruf des 1. Stellvertreters des Oberbürgermeisters. Er berichtete, dass der Oberbürgermeister mit den Ratsherren die aktuelle Situation diskutiert. Sie überlegten, ob ein Untersuchungsausschuss der Bürger gebildet werden soll. Dazu wollte er meine Meinung hören. Ich ging davon aus, dass er wusste, was wir am Telefon verabredet hatten.Ich erzählte ihm unser Vorhaben. Wir verabredeten, dass wir uns um 12 Uhr im Rathaus zu einer Beratung treffen. Ich fand diese Verabredung gut, weil wir nicht wussten, wie wir die Besetzung der SED-und Stasigebäude anstellen sollten. Es gab keine Vorbilder. Und ob die Stasileute sich einer Besetzung widersetzen würden, wussten wir nicht. So fand ich den Gedanken angenehm, dass die Genossen der SED uns die Tür besonders in das Stasi-Gebäude öffnen.

Ich rief noch einmal verschiedene Leute an, teilte ihnen dies Vorgehen mit. Auch die Volkspolizei, zu der wir inzwischen ein gutes Verhältnis hatten, rief ich an und bat sie um Mithilfe, um Gewalt zu verhindern. Ich schrieb das Flugblatt und druckte198 Exemplare.

Kurz vor 12 Uhr besuchte ich die Redaktion der Ostsee-Zeitung, der SED-Zeitung,und überreichte ein Flugblatt mit der Bitte, auch zu kommen und zu berichten. Ich wurde etwas erstaunt angesehen. Die Journalisten dieser Zeitung konnten damals mit solchen Anfragen nicht umgehen. Berichtet wurde nur, was die Herrschenden der SED zuließen oder wünschten.

Die Flugblätter wollte ich auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Rathaus verteilen. Als ich mit dem Verteilen begann, sprach mich eine Marktfrau an und sagte, dass ich ihr die Flugblätter geben könne. „Wir werden alle verteilen“,sagte sie unter Zustimmung von Frauen, die neben ihr standen. So geschah es dann auch.

Um 12 Uhr saßen wir, Vertreter der neuen Gruppen mit dem Oberbürgermeister und Vertretern der Blockparteien zusammen und besprachen unser Vorgehen. Wie ich später hörte, wurden aus dem Rathaus Leute angerufen. Das waren nicht nur SED-Leute, sondern auch solche, von denen sie sich erhofften, dass sie mäßigend auf uns einwirkten. Der Oberbürgermeister bot an, dass wir auch in den Gebäuden des Rates der Stadt Schriftgut sichern. Dies Angebot nahmen wir an. Mein Eindruck war, dass der Oberbürgermeister hoffte, dass er durch das gemeinsame Vorgehen die Sache lenken konnte. Außerdem war spürbar, dass er Zeit gewinnen wollte. Denn –das erfuhren wir später –vor allem die Stasi wollte ihr Schriftgut unserem Zugriff entziehen. Der Stasi gelang das nicht, weil wir uns von unserem Zeitplan nicht abbringen ließen.

Wir bildeten damals drei Gruppen.Die Gruppe für die Besetzung der SED-Kreisleitung führte Dr. Jürgen Drenckhan vom Neuen Forum an, die für die Besetzung des Rates der Stadt Pfarrer Dr. Reinhard Glöckner und ich die Gruppe für die Stasibesetzung. Zu ihr gehörten der Kreisstaatsanwalt Schwanke, der 1. Stellvertreter des Oberbürgermeisters Dr. Jonas und drei weitere Bürger, ein Mitglied der SED und zwei vom Neuen Forum. So waren wir drei vom Neuen Forum und drei SED-Mitglieder. Die starke Beteiligung der SED-Vertreter störte uns nicht. Denn wir wussten, was wir wollten. Vor allem wussten wir die Greifswalder hinter uns und das machte uns stark.

Die Gruppe der SED-Besetzer holte sich Unterstützung aus der Mensa. Rund 100 Studenten kamen mit. 50 Menschen erwarteten sie vor dem SED-Gebäude. Nach heftiger Diskussion mit dem 1. Sekretär der Kreisleitung versiegelte der Direktor des Kreisgerichtes Schränke. Wir hielten uns damals an das DDR-Recht. Der Direktor hatte die Verfügungsberechtigung für Siegel ebenso wie der Staatsanwalt. 6 Darum waren beide mit dabei und mussten die Versiegelung vornehmen.

Kontrolle der Stasi-Kreisdienststelle

Zur gleichen Zeit zog ich am 4. Dezember mit meiner Gruppe zum Gebäude der Stasi.Dort erwarteten uns rund 200 Menschen. Wir klingelten und die Tür öffnete sich. Der Stasichef erwartete uns schon. Er wollte uns in sein Zimmer bitten. Das lehnten wir ab. Wir wollten sofort das Material sicherstellen. Der Stasichef erklärte, dass er seinen Vorgesetzten befragen müsse. Das versuchte er telefonisch. Aber die Verbindung kam nicht zustande. Auch das war sicher nur ein Verzögerungsmanöver. Denn dass die Besetzung bevorstand, wusste er seit etwas über zwei Stunden. Mit seiner vorgesetzten Dienststelle hatte er vorher genügend Zeit zu reden. Als wir noch verhandelten, riefen mich Bürger heraus. Sie hatten festgestellt, dass aus dem Schornstein Papierasche flog. Wir gingen in den Keller zum Heizungsofen. Dort wurde Papier verbrannt. Wir räumten die brennenden Papierstücke aus dem Ofen. Einzelne angebrannte Papierstücke wurden herausgenommen und in einem Panzerschrank verschlossen. Wie sich später herausstellte, war aber nichts Interessantes mehr zu erkennen.

Später wurde ich noch einmal herausgerufen. Vor dem Haus standen immer mehr Menschen. Ein Volkspolizist berichtete, dass es bei dem Gebäude noch einen Hinterausgang zum Untersuchungsgefängnis gibt und dass dort ein Lastauto hinfährt. Daraufhin stellten wir in jeden Flur des Stasigebäudes zwei Bürgerinnen und Bürger, die jede Bewegung im Haus beobachteten. Wir verhinderten so den Abtransport von Schriftgut. Denn die Stasi hatte alles schon in Säcken verpackt und wollte das Schriftgut so unserem Zugriff entziehen. Den Stasimitarbeitern sagten wir, dass sie auf ihrem Zimmer zu bleiben haben. So saßen sie ihren letzten Arbeitstag an ihren leeren Schreibtischen ab und verließen am Nachmittag mit grimmigem Gesicht zum letzten Mal das Gebäude.

Wir gingen durch alle Zimmer und der Kreisstaatsanwalt versiegelte rund 70 Panzerschränke, die fast alle aus der Vor-DDR-Zeit stammten. Auch einige Türen wurden versiegelt.Den Posteingang dieses Tages ließ ich mir von der Briefträgerin geben. Dabei war ein Brief einer Haftanstalt. Sie stellten eine künftige Informantin der Stasi vor. Die Frau sollte in den nächsten Tagen entlassen werden und als Reinigungskraft in einem Wohnheim für ausländische Mitarbeiter des KKW`s arbeiten. So ein Brief kam über den normalen Postverkehr.Er kam noch zu diesem Zeitpunkt. Der Absender hatte noch nicht begriffen, dass die Zeit der Stasi vorbei war.

Das Stasigebäude wurde von uns dann rund um die Uhr bewacht. Dazu meldeten sich viele Bürger. Essen und Getränke wurden von Greifswaldern gebracht. Diese Bewachung wurde Tag und Nacht vom 4. bis 16. Dezember durchgehalten. Danach wurden die Akten anders vor dem Zugriff der Stasi gesichert.

Bei der Besetzung gab es eine brenzlige Situation. Als wir in das Zimmer des einen Stellvertreters des Stasichefs kamen, griff er zur Pistole. Der Stasichef ermahnte und beruhigte ihn. Und die Situation entspannte sich. Dieser Stellvertreter war studierter Physiker. Er erzählte uns, dass er sich Sorgen mache um eine Jugendgruppe, die er bisher in einer Kampfsportart trainierte. Dieser Stasimann wurde später Unternehmer wie auch die anderen leitenden Leute der Dienststelle. Der Stasichef Erfurth wurde Immobilienhändler, die Frau des einen Stellvertreters eröffnete in Greifswald ein Unternehmen, das bis heute erfolgreich ist.

Von dem Material der Stasi sahen wir bei der Besetzung fast nichts. Die Schreibtische waren leer. Nur der Aufruf „Für unser Land“, unterschrieben unter anderem von Konrad Weiss, Friedrich Schorlemmer, Bischof Demke, Christa Wolf und Sebastian Pflugbeil lag in vielen Exemplaren herum. Den Unterzeichnern ging es in dem Aufruf um einen politischen Weg, der auf der Eigenständigkeit der DDR beruhte und die Vereinnahmung durch die Bundesrepublik Deutschland verhinderte. Sie riefen auf, sich „auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind“, zu besinnen. Unklar blieb uns damals, ob die Stasi uns mit diesen Unterschriftslisten für den Aufruf zeigen 7 wollte, dass sie zu den Kräften gehörte, die die Erneuerung der DDR wollten. Oder missbrauchte die Stasi diesen Aufruf, um die Neuerungsbewegung in Misskredit zu bringen?

Wir fanden viele Vorlesungsverzeichnisse westdeutscher Universitäten. Die wissenschaftlichen Kontakte der Greifswalder Universität waren ein wichtiges Betätigungsfeld der Stasi.

Wir fanden sehr viele Schnapsflaschen. Waren die Stasimitarbeiter den Anstrengungen der letzten Wochen nicht mehr gewachsen und hatten zur DDR-Drogen-. 1, dem Schnaps, gegriffen? Oder war der Schnaps schon immer ein Begleiter der Arbeit der Stasi gewesen?

In einige Räume ließ man uns nicht hinein. Angeblich waren dort besonders geheime Unterlagen. Diese Räume wurden versiegelt. Wie sich später herausstellte, waren das die Räume mit den Personenakten, Karteikarten, der Telefonabhöranlage, die Waffenkammer und ein Raum, wo rund 70 Säcke mit Schriftgut eingeschlossen waren. Ein Teil der Stasiunterlagen war schon einige Zeit vorher auf Befehl von Minister Mielke aus den Kreisdienststellen der Stasi abtransportiert worden. Alles Restliche war jetzt zum Abtransport in die Säcke gestopft worden.

Ein Schriftstück der Stasi an den 1. SED-Kreissekretär legte uns Stasichef Erfurth vor, um zu beweisen, dass die Stasi wichtige und wertvolle Arbeit für die Allgemeinheit leistete. Es ging dabei um die Greifswalder Abwasseranlage, die völlig veraltet war und große Umweltschäden verursachte. Die Stasi wies in diesem Schreiben auf dringenden Handlungsbedarf hin und behauptete, dass wegen dieser Unzulänglichkeit das Vertrauen der Bürger zum Staat gestört sei. Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Köhler hatte dieses Schreibender Stasi zurückgeschickt mit der Auflage, den Bericht zu verändern. Der SED-Chef hielt, wie man aus Randbemerkungen nachvollziehen konnte, nichts von der Gesellschaftskritik der Stasi. Der Stasichef wollte uns sagen: Auf die „gute Stasi“ war nicht gehört worden. Dieses Schreiben und seine Randbemerkungen machten deutlich, wer in der DDR das Sagen hatte. Die SED gab der Stasi die Richtung vor, auch wenn dieser Geheimdienst manchmal seine eigenen Wege ging.

Wir führten damals lange Gespräche mit Stellvertretender. Sie wollten uns immer wieder deutlich machen, dass sie eine wichtige und notwendige Arbeit zum Wohle des Volkes gemacht haben. Ein Unrechtsbewusstsein bei den Stasimitarbeitern habe ich nicht erlebt. Nach ihrer Auffassung waren sie eine notwendige Institution, die von der SED und dem Staatsapparat nur falsch eingesetzt worden war.

Die Besetzung der Stasi-und SED-Räume im Kernkraftwerk in Lubmin bei Greifswald gelang am 4. Dezember nicht. Norbert Meyer (SDP) bat mich um einen kurzen schriftlichen Bericht über die Stasibesetzung in Greifswald. Er wollte ihn im Kernkraftwerk am nächsten Tag aushängen. Ich schrieb diesen Bericht noch in der Nacht. Am 5. 12. konnte die Versiegelung der Schränke in der Stasi-Objektdienststelle des KKW durchgeführt werden.Das meiste Material (14 Kisten) war im November nach Rostock gebracht worden. 11/2Kistenmit Material wurden noch vorgefunden. Schränke der Diensträume der SED-Betriebsparteiorganisation des KKW wurden am 6. 12. versiegelt,am 7. 12. die der Grundorganisationsleitung der SED auf der Großbaustelle. Großbaustelle und Betreiber des KKW waren zwei getrennte Betriebe. Beide Betriebe hatten viele Mitarbeiter mit SED-Parteibuch: Großbaustelle ca. 770 Mitglieder und Betreiber 1368 Mitglieder (Stand 1988).8 Der Lehrer Werner Kipp war als Vertreter der SED bei der Stasibesetzung. In einem Interview schilderte er 2009 seine Eindrücke von der Besetzung: „Und dann hat das Neue Forum mit einem Flugblatt zur Besetzung der Staatssicherheit aufgerufen. Ich bekam bloß einen Anruf vom Bürgerkomitee(eine SED-Gruppe), da trafen wir uns dann. Ich hab dann Herrn Kuessner gefragt: ‚Und wie stellt ihr euch das vor?‘9 -‚Na, wir haben doch ein Flugblatt heraus gegeben!‘-‚Ja, und?‘ -‚Na, dann werden wir sehen, wie viele Leute kommen und dann werden Staatssicherheit besetzen.‘ Und da hab ich auch gesagt: ‚Und, wollt ihr es drauf ankommen lassen, dass es knallt?‘-‚Wir sagen: Keine Gewalt!‘Das ist auch ein bisschen das Lustige an der Sache: Das Volkspolizeikreisamt war der Patenbetrieb meiner Schule, daher kannte man sich. Daraufhin bin ich mit Achim Jonas (1. Stellvertreter des Oberbürgermeisters) hingefahren und habe den VPKA-Chef gefragt: ‚Wo steht die Volkspolizei?‘Der Chef hat sich kurz beraten mit seinen Stabsoffizieren und hat gesagt: ‚So, wir stellen euch die Toniwagen zur Verfügung. Wenn die Demonstranten vor der Staatssicherheit auftauchen, ist die Polizei dabei und zwar auf deren Seite!‘ Dann bin ich also bei der Staatssicherheitsbesetzung dabei gewesen, die anderen haben in der Zwischenzeit die SED-Kreisleitung besetzt. Lubmin hat ja nicht geklappt. In Greifswald sollten wir de facto ja auch verladen werden: Der Chef der Staatssicherheit begrüßte einen freundlich und war bereit, sich mit uns zu unterhalten: ‚Ja, wie viele Bürger würden Sie denn …?‘Und: ‚Wir bitten Sie hier zum Gespräch!‘Aber unten im Keller waren die Öfen noch an und oben aus dem Schornstein flogen noch die Glutfetzen raus, weil unten immer noch verbrannt wurde. Ich habe dann später von Offizieren der Staatssicherheit im Nachhinein auch erfahren, dass die Besetzung natürlich dort bekannt war und eine gewaltige Diskussion ausgelöst hat. Dort gab es einige Hardliner, so dass die dort ihre eigenen Leute zur Ruhe gebracht, entwaffnet und eingesperrt haben, während die Demonstranten noch drin waren, damit es nicht zum Konflikt kommt.“1

An den Erinnerungen von Herrn Kipp wird deutlich, dass die SED nicht mehr das Sagen hatte. Der Stellvertretende Oberbürgermeister und er fragen die Polizei,auf welcher Seite sie steht. Die Polizei überlegt und antwortet ohne auf eine Anweisung der SED zu warten. Das war nicht mehr typisches DDR-Verhalten. Es hatte sich ausgezahlt, dass wir uns vom Neuen Forum für ein gutes Verhältnis zur Polizei eingesetzt hatten. Mein Eindruck Anfang Dezember war, dass wir uns auf die Führung der Volkspolizei in Greifswald verlassen konnten.

Später habe ich gehört, dass ein Greifswalder Student nach unserer Stasibesetzung nach Stralsund gefahren ist und die Vertreter des Neuen Forums dort aufgefordert hat, die Stasi in Stralsund zu besetzen. Das ist dann noch am Abend geschehen.

Untersuchungsausschuss

Am 5. und 6. Dezember konstituierte sich abends ein Untersuchungsausschuss im Rathaus. 87Bürger gehörten am Anfang zum Ausschuss. 31 verließen den Ausschuss bis Februar 1990. Einige verkrafteten die Materialsichtung bei der Stasinicht, andere mussten sich aus beruflichen Gründen zurückziehen. Die meisten, die wegblieben, hatten mit Westreisen zu tun und keine Zeit mehr für diese Arbeit. Aber die Unterstützung der Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt noch groß und ungebrochen.

Am 6. Dezember wurde ich Mitglied der Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP). Mir war damals wichtig, Mitglied einer Partei zu werden, die politische Verantwortung in der DDR übernehmen wollte. Wir mussten zeigen, dass wir nicht nur kritisieren, sondern bereit waren,Verantwortungzu übernehmen.

Der Greifswalder Untersuchungsausschuss konnte nicht sofort mit seiner Arbeit loslegen.So wie wir es in Deutschland zu tun pflegen, haben wir erst einmal einige Grundsatzfragen geklärt. Die Mitgliedschaft im Untersuchungsausschuss sollte verbindlich sein. Wer Mitglied werden wollte, musste einen schriftlichen Antrag beim Oberbürgermeister stellen. Er berief schriftlich die Mitglieder und verpflichtete sie zur Verschwiegenheit. Die Liste der Mitglieder wurde im Rathaus öffentlich ausgehängt. Wir wollten damit verhindern, dass sich Stasi-Mitarbeiter einschlichen. Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses brauchten die Akzeptanz durch die Bevölkerung.

Auf Vorschlag des Oberbürgermeisters wurde ich Vorsitzender des Untersuchungsausschusses. Zum Vorstand gehörten vier Leiter der Arbeitsgruppen (SED-Kreisleitung, Kreisdienststelle der Stasi, Rat der Stadt und SED und Stasi im KKW und auf der Großbaustelle) und zwei Rechtsanwälte. Für unsere Arbeit erhielten wir die Räume der Nationalen Front. Die Stadt gewaltigen hatten wohl eingesehen, dass diese Institution nicht mehr benötigt wurde.

Kaum hatten wir unser Büro eröffnet, kamen Bürger zum Gespräch, Opfer des DDR-Systems, aber auch Täter. Ein junger Stasimitarbeiter beschwerte sich, dass er keinen Lohn mehr erhält. Es kamen Hinweise, dass die Stasi geheime Verstecke in der Region habe. Manchen Hinweisen sind wir nachgegangen. So bekamen wir zum Beispiel eine Zeichnung von einer Schule mit dem Hinweis, in dem aufgezeichneten Raum stehe eine Kiste mit Unterlagen der Stasi. Bei der Kontrolle fanden wir die Kiste. Der Inhalt erwies sich als harmlos. Der Hausmeister, der uns dorthin führte, war vorher ein hauptamtlicher Stasimitarbeiter. Seine Frau war die Schulleiterin. Er war als zusätzlicher Hausmeister eingestellt worden.Vielleicht sollten wir darauf aufmerksam gemacht werden.

Oder wir wurden auf Waffenschiebereien am Raketenstandort im Wald von Hanghasen hingewiesen. Auch dort sind einige Untersuchungsausschussmitglieder hingefahren. Wir waren aber überfordert, um uns auf dem großen Gelände ein Urteil zu bilden, was dort vor sich ging. Auch dort den Untersuchungsausschuss arbeiten zu lassen, überstieg unsere personellen Kräfte. Wir haben damals die Arbeit im Untersuchungsausschuss neben unserer beruflichen Arbeit geleistet.

Die Hinterlassenschaft der Stasi

Eine Woche nach der Besetzung (11. Dezember) wurden von uns die Siegel im Stasigebäude geöffnet. Davor unterschrieben wir eine Verpflichtung zur GVS (Zulassung zum Lesen der geheimen Verschluss-Sachen). Dazu gab es eine Beratung beim Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres. Er wies uns auf die gesetzlichen Bestimmungen der DDR (Anordnung über den Geheimschutz und Anordnung zum Schutz des Staatsgeheimnisses aus den Jahren 1987/88) hin. Früher bekamen Geheimnisträger keine Erlaubnis in den Westen zu reisen. Das galt nicht für diese Verpflichtung, wurde uns gesagt.Der Oberbürgermeister erklärte, dass er nur für seinen Verantwortungsbereich die Verpflichtung für die Geheimhaltung abnehmen kann. Der Stasichef stimmte nach Diskussion zu, dass die Verpflichtung durch den Oberbürgermeister auch für den Bereich der Staatssicherheit gilt. In der Verpflichtungserklärung hieß es: „Ich verpflichte mich, das mir entgegengebrachte Vertrauen durch Zuverlässigkeit, Wachsamkeit, Verschwiegenheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Disziplin zu rechtfertigen. Ich verpflichte mich, die Rechtsvorschriften und die anderen mich betreffenden Festlegungen zum Schutz der Staatsgeheimnisse und insbesondere die mir als Geheimnisträger auferlegten Pflichten einzuhalten.“

Heute klingt es seltsam, dass wir uns damals von den Vertretern der alten Macht, die wir ablösen wollten, zur Geheimhaltung verpflichten ließen. Es zeigt, dass im Dezember 1989 in unseren Köpfen noch nicht völlig klar war, dass der radikale Machtwechsel möglich war. Noch gab es in Greifswald keinen, der den Oberbürgermeister beiseiteschob und sagte: „Das mache ich.“ Man merkt an diesem Verfahren, dass wir noch ganz DDR-Bürger waren und auch damit rechneten, die DDR zu reformieren. An eine schnelle deutsche Einheit dachten wir damals nicht.

Direkt nach der Geheimhaltungsverpflichtung gingen wir in das Stasigebäude, um das Material zu sichten. Fast alle Panzerschränke waren leer. Für zwei Räume gab es angeblich keine Schlüssel im Haus. Der Stellvertreter des Stasichefs, der uns durch das Haus begleitete, schmiss sich in die Tür und wir konnten die Räume betreten. In den Räumen war die Telefonabhöranlage. Sie war der Bezirksdienststelle zugeordnet.Die Abhöranlage bestand aus vier Kabelnder Deutschen Post mit einer Gesamtkapazität von 235 Amtsadern. 98sollen noch ungenutzt gewesen sein. Die Abhörleistungen der Stasi konnten also noch erhöht werden. Die überwachten Telefonanschlüsse wurden mit einer speziellen Übertragungstechnik nach Stralsund in die dortige Dienststelle der Staatssicherheit geleitet. 11 In einem anderen Raum fanden wir Waffen, die wir der Polizei übergaben. Auch hier bewährte sich die Kooperation mit der Volkspolizei. Bei den Waffen handelte es sich um 45 Pistolen, 33 Maschinenpistolen, 4 Panzerfäuste, 1 Kleinkaliber-Gewehr, 1 Luftgewehr,20 Handgranaten und Munition.

In einem weiteren Raum standen rund 70 Säcke mit zum Teil zerrissenen Akten und Karteikarten. Das Lastauto, das sich am Tag der Besetzung der Hintertür des Stasigebäudes näherte, sollte sie wegschaffen. Es war zu spät gekommen.

Im Haus der Staatssicherheit schien uns das Material nicht sicher zu sein. Wir wollten es zum Volkspolizeikreisamt bringen. Aber dort gab es nur freie Räume im Keller. Sie waren feucht und so für Aktenlagerung nicht geeignet. Auch die Feuerwehr konnte uns keine sicheren Räume anbieten. So setzten Handwerker der Johanna-Odebrecht-Stiftung, deren Leiter ich damals war, ein Gitter vor die Tür.

Als wir die Kreisdienststelle der Stasi besetzten, hatte sie 58 hauptamtliche Mitarbeiter. Diese führten rund 500 Informanten. Sie waren für die Bespitzelung des Stadt-und Landkreises Greifswald zuständig, also für rund 93.000 Einwohner, ein Informant kam auf 186 Einwohner. Dazu kamen noch einmal rund 200 Informanten, die durch die Objektdienststelle der Staatssicherheit des Kernkraftwerkes in Lubmin geführt wurden. 114 Informanten waren 1989 allein im Bereich der Universität tätig. Hierbei sind nicht die Wissenschaftler berücksichtigt, die zum Reisekader gehörten und sich von der Staatssicherheit missbrauchen ließen. Die Stasi entschied, ob ein Wissenschaftler Reisekader der Universität wurde und blieb. Sie nutzte diese Möglichkeit, um sich informelle Mitarbeiter zu beschaffen. Sie war gut über alle Mitarbeiter der Universität unterrichtet, da sie über alle Wissenschaftler, die in sicherheitspolitisch bedeutsamen Funktionen der Universität tätig waren, eine Überprüfung über die„politische Zuverlässigkeit“ durchführte. Sicherheitspolitisch war für die Stasi fast alles bedeutsam.Die technische Ausrüstung der Stasi war auf der Kreisebene noch nicht so perfekt, dass sie mit den vielen Materialien wirklich umgehen konnte. In der Kreisdienststelle fanden wir nur einen Computer vor, mit dem nicht viel gemacht werden konnte. Mein Laptop aus dem Westen war wesentlich leistungsfähiger.

Die Entlassung der Stasimitarbeiter erfolgte über die Bezirksstelle der Stasi. Bis zum 23. 1. 1990 waren erst 16 hauptamtliche Mitarbeiter der Greifswalder Stasi entlassen worden. Der Untersuchungsausschuss und der Runde Tisch in Greifswald machten Druck, damit die Entlassungen durch die Bezirksverwaltung der Stasi in Rostock beschleunigt wurden. Die meisten Stasimitarbeiter erhielten damals andere Arbeitsplätze. Das wollten wir auch, weil sie nicht auf dumme Gedanken kommen sollten. Unsere Forderung war immer: Stasi in die Produktion!

Zwei Tage nach der Materialsichtung wurde das Amt für Nationale Sicherheit offiziell in Greifswald aufgelöst. Panzerschränke und Aktenschränke wurden verschenkt. Die neuen Parteien konnten ihre erste Ausstattung zusammensuchen. Uniformen, Politbücher von Marx, Engels, Lenin, Honecker und anderen lagen auf den Fluren und wurden zu Altstoffhändlern gebracht. Diese Aktion machte deutlich: Die Ära der Stasi ist vorbei. Die Stasimitarbeiter haben diese Räumung nicht miterlebt. Sie hatten das Gebäude schon am 4. Dezember verlassen. Aber aufgegeben hatten sie noch nicht.Das Gebäude wurde dem Rat der Stadt zur Nutzung übergeben. Zum gleichen Termin wurde die Stasi im Kernkraftwerk in Lubmin aufgelöst.

Am 8. 12. traf sich der Vorstand des Untersuchungsausschuss mit Vertretern der Einrichtungen, die untersucht werden sollten. Dabei waren auch der Kreisstaatsanwalt und der Leiter des Volkspolizeikreisamtes. Besonders die Vertreter der beiden SED-Parteileitungen im KKW, Betreiber und Großbaustelle,waren harte Gegner unseres Vorhabens. Wir informierten über unser Vorgehen und ließen uns davon nicht abbringen.12

Damals wurden auch alle SED-Funktionäre bis 10. 12. und zwei Tage später die Kampfgruppen entwaffnet. Die SED-Funktionäre trugen Pistolen. Brauchten sie diesen Schutz vor der Bevölkerung? Ob die Entwaffnung wirklich bei allen geschah, haben wir nicht kontrollieren können.

Auch die Mitarbeiter der Stasi wollten sich an der Arbeit des Untersuchungsausschusses beteiligen. In der Ostsee-Zeitung vom 12. 12. 1989 konnten wir lesen: „Enttäuscht müssen wir ... feststellen, dass unser ehrlicher Wille unbeachtet bleibt. Die Nichteinbeziehung von Vertretern des Amtes für Nationale Sicherheit im Rahmen des am 6. Dezember gebildeten Untersuchungsausschusses kommt politisch einer vorweggenommenen Schuldzuweisung gleich.“

Immer wieder wurde versucht, uns von der Durcharbeitung der Stasiunterlagen abzubringen. Ein Vertreter der Modrow-Regierung kam nach Greifswald und setzte uns unter Druck. Eines Tages erhielt ich einen Anruf mit der dringenden Bitte, sofort zu einer Besprechung nach Bad Doberan zu kommen. Ein Regierungsvertreter wolle mit uns über die Starbesetzungen im Bezirk Rostock reden. Ich fuhr hin, traf dort auch Joachim Gauck, der in Rostock bei der Stasibesetzung beteiligt war.In der Doberaner Kreisverwaltung war ein heilloses Durcheinander. Kein Regierungsvertreter erschien. Ich fuhr bald wieder nach Greifswald zurück.

Zwischen Weihnachten und Silvester bekam ich einen Anruf von Herrn Rentmeister, der uns als Beauftragter von Ministerpräsident Modrow von der Durchsicht der Stasiunterlagen abbringen wollte. Er machte mich auf Schwierigkeiten und Gefahren unserer Untersuchungen aufmerksam. Es ginge um Staatsgeheimnisse. Beim Ausplaudern könnten wir mit Gefängnis bestraft werden. Erstaunlich ist, dass auch damals noch der Überwachungsapparat gut funktionierte. Sie beobachteten auch so kleine Städte wie Greifswald und wussten, wen sie dort ansprechen mussten. Ich hatte damals auf der einen Seite den Eindruck, dass in der SED-Führung einiges durcheinander ging. Auf der anderen Seite spürten wir, dass die Organisation weiterhin gut klappte. Sie versuchten immer noch, alle Fäden in der Hand zu behalten.

Damals bekamen wir immer wieder anonyme Drohungen per Telefon. Auch die Greifswalder Stasimitarbeiter waren weiter aktiv. Die Ostsee-Zeitung stand ihnenfür Erklärungen zur Verfügung. Sie versuchten uns in Misskredit zu bringen. So behaupteten sie, dass bei der Besetzung der Stasi angetrunkene Bürger mitgewirkt haben und dass wir unser „eigenes, ganz persönliches Süppchen kochen wollen“.

Die Demonstrationen mit anschließender Kundgebung gingen weiter. Am 13. Dezember stand sie unter dem Motto „40 Jahre Parteiwirtschaft –Was nun?“. Erstmals sprach auf der Kundgebung ein Vertreter 13 der Volkspolizei. Am 11. Dezember hatte sich der Runde Tisch in Greifswald konstituiert.

Nach der Durchsicht der Stasiunterlagen wurden sie am 5. Januar 1990 ins Zentralallager in Waldeck bei Rostock übergeben. Bis zum März 1990 erstellten die Arbeitsgruppen ihre Berichte, die durch die Vollversammlung des Untersuchungsausschusses bestätigt wurden. Wir berichteten regelmäßig mit Presseerklärungen über unsere Arbeit. Diese Erklärungen wurden von der Ostsee-Zeitung wörtlich gebracht.

Am 29. März 1990 stellten wir die Ergebnisse in der Mensa vor. Den Abschlussbericht hatte eine Ostberliner Druckerei vervielfältigt. Die Druckerei veröffentlichte nicht ihren Namen. Das hielt sie damals noch für zu gefährlich.

Eins, was viele ahnten, wurde bei unseren Untersuchungen bestätigt. Nach dem Bericht der Wahlkommissiongab es bei der Wahl im Mai 1989 in Greifswald 426 Nichtwähler.Bei der Stasi fanden 14 wir in einer Kartei aber 1.109 Nichtwähler. Die Kartei war nicht vollständig. Die Zahl der Nichtwähler war wahrscheinlich noch höher. Ebenso stimmte nicht die Zahl der Nein-Stimmen.

Herr Ewald, der ehemalige Oberbürgermeister und Vorsitzende der Wahlkommission, wurde von der Staatsanwaltschaft angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Er kam danach zu mir und erzählte, dass er auf Anweisung des Bezirkes die Wahl gefälscht habe. Er sehe seine Schuld ein. Allerdings haben ihn bei der Gerichtsverhandlung seine früheren Mitgenossen und Mittäter im Stich gelassen. Sie behaupteten, dass nur er so etwas gemacht habe. Er sei von seinen ehemaligen Kollegen und Genossen maßlos enttäuscht. Die Genossen retteten ihre Haut und zeigten keine Solidarität. Ein SED-Richter sprach das Urteil. Es war noch nicht die Zeit, wo wir auf Rechtsprechung in Gerichten vertrauen konnten.15 Fünf Mitglieder des Vorstandes übernahmen später politische Funktionen als Bürgerschaftspräsident, Dezernent in der Greifswalder Verwaltung, Mitglied der Volkskammer, des Landtages und des Bundestages.

Neues Forum und evangelische Kirchen schufen in Greifswald und vielen anderen Orten in der DDR die Grundlage für eine friedliche Revolution. In den schützenden Mauern der Kirchen konnten sich die Menschen versammeln und Mut tanken für den Aufbruch auf den Straßen. In den Foren, die allen Willigen offen standen, wurde die Sprachlosigkeit der DDR-Bevölkerung beendet. Unter Nennung des Namens und Zeigen des Gesichtes startete ein Diskussionsprozess, aus dem Neues in unserer Gesellschaft entstehen konnte. Demokratie wird immer so gut gelingen, wie wir sie gemeinsam in einem transparenten Prozess gestalten.

 

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Anmerkungen:

1(Dirk Mellieses/Frank Möller (Hg.), Greifswald 1989. Zeitzeugen erinnern sich, Tectum Verlag Marburg, 2009, S. 99 ff.)