Die Nacht vom 4. zum 5. Dezember 1989- Erlebnisbericht

 

Autor: Gerhard Rogge

 

Textgliederung:

Vor den Toren der ehemaligen Bezirksverwaltung

Verhandlungen beginnen

Die Besetzung-Versiegeln

Konflikt um die Nachrichtenzentrale

Außenstelle in Waldeck-eine fragwürdige Festnahme

Sicherung für die Folgetage

 

Text

Die Nacht vom 4. zum 5. Dezember 1989- Erlebnisbericht

Autor: Gerhard Rogge

Vor den Toren der ehemaligen Bezirksverwaltung

Mit einem Anruf gegen 20.00 Uhr beginnt für uns alles: „Könnt Ihr in die August-Bebel-Straße kommen,1 zum Ablösen, unsere Leute stehen schon seit 15.00 Uhr an allen Ausgängen rund um den Stasi-Komplex? Wir wollen verhindern, dass noch weitere Akten vernichtet werden, es wird schon verhandelt, bringt was zu essen mit, ruft noch weitere Leute an. Kommt schnell!“ So klingt die Stimme aus dem Telefonhörer. Wir, meine Frau und ich, sehen uns an: „Wir gehen hin.“ Tee kochen, Brote schmieren, Freunde und Bekannte anrufen, deren Fragen beantworten; „Kommt mit, wir treffen uns am Haupteingang . . .“ Gegen 21.00 Uhr sind wir da, vor dem Haupteingang viele Menschen, ca. 60 - 80, darunter viele Bekannte. An einer Eingangstür hängt ein Transparent mit der Aufschrift „Sicherheit für unsere Akten“. Gruppen stehen zusammen, es wird informiert, dass Verhandlungen mit dem Leiter der Bezirksverwaltung, Generalleutnant Mittag, laufen. Wer verhandelt? Namen werden genannt, der Landessuperintendent Dr. Joachim Wiebering und Rechtsanwalt Hans-Joachim Vormerker haben sich als Vermittler zur Verfügung gestellt, weiterhin sollen Oberst Birkholz und Oberst Lorenz von der BdVP sowie Bezirksstaatsanwalt Müller und Staatsanwalt Wiggers an der Verhandlung teilnehmen. Die Teilnahme von Polizei und Staatsanwaltschaft ist ein erster Erfolg, beide Institutionen sind dazu von Abordnungen der Demonstranten nachdrücklich und andauernd aufgefordert worden und nach langem Zögern endlich gekommen. Der Vorschlag, den der Leiter der Bezirksverwaltung gegen 20 Uhr am Eingang Grüner Weg unterbreitet hat, mit einer Gruppe von 10 Bürgern zu sprechen, ist von den Versammelten zunächst abgelehnt worden: Stattdessen werden erste Forderungen gestellt, unter anderem, die Bezirksverwaltung an die Volkspolizei zu übergeben. Wir stehen im kalten Licht der Eingangsbeleuchtungen, die Überwachungskameras hinter dem Licht mehr ahnend als direkt wahrnehmend. Wer sitzt da wohl am Monitor, ist so ein flüchtiger Gedanke. Gruppen lösen sich aus dem Gedränge am Haupteingang und setzen sich zu den anderen Eingängen in Bewegung, auch hier Menschen am Eingang zur Untersuchungshaftanstalt, etwa 20-30 Personen, auf dem Parkplatz vor dem aufragenden antennenbewehrten Zwischenbau und Zehngeschosser ebenfalls kleine Gruppen von Menschen. In der entgegengesetzten Richtung, die Hermannstraße entlang, das gleiche Bild. Am Tor gleichfalls viele Menschen, das Wachhäuschen dunkel, die Wachen kaum zu erkennen, die Menge steht im hellen Licht der Lampen am Tor. Weiter an den Häusern entlang! Hier wohnen nur Stasi-Leute, sagt jemand. Hermannstraße, Augustenstraße, rund um das Stasi-Gelände, überall kleine Gruppen, stehend, diskutierend, gehend; einzelne Personen kommen uns entgegen oder überholen uns eilig. Am Hintereingang Grüner Weg angelangt, sehen wir eine große Menge am Ende dieser Gasse vor dem Tor, hier helles Licht, das graugestrichene Blech des geschlossenen Tores hat etwas Kaltes an sich. Dichtgedrängt stehen Menschen davor, hier Grüppchen, Gespräche; Studenten singen ein Lied, ich erinnere mich noch an den Teil des Refrains: „. . . Stasischergen, was habt ihr zu verbergen . . .“. Auch hier Bekannte, viele junge Leute, einer hat heißen Tee, dort wird Kuchen verteilt, hier gibt es Stullen; die Stimmung ist fast heiter. Ich spüre die Doppelbödigkeit der Situation, fast ausgelassenes Treiben direkt vor dem Tor, das uns von denen trennt, den Stasileuten, der anonymen Macht, dem riesigen Häuserkomplex, der wie ein Fremdkörper mitten in der Stadt liegt, stetig gewachsen in den Jahren, Stück für Stück, Haus für Haus, torbewehrt, kamerabewehrt, mauerbewehrt, unnahbare Häuserfassaden, angsteinflößend schon die Namen August-Bebel-Straße, Grüner Weg. Ich hatte früher beim Vorbeigehen immer so ein komisches Gefühl in der Magengegend, und jetzt unmittelbar neben mir das Tor.

Verhandlungen beginnen

Umstehende teilen mit, dass gegen 22.00 Uhr eine Gruppe von etwa 10 - 15 Leuten zur Verhandlung eingelassen worden ist, dabei Leute vom „Neuen Forum“, Dietlind Glüer, Axel Peters, Dr. Ohf, Wolfram Vormelker und Pastor Fred Mahlburg vom „Bürgerrat“2. Drei Forderungen liegen auf dem Tisch: Bürger der Stadt zur Kontrolle einlassen, die Übergabe des Objektes an die Volkspolizei und das Versiegeln aller Räume durch die Staatsanwaltschaft sowie die Einsetzung eines Unabhängigen Untersuchungsausschusses.

In kurzen Abständen erscheinen Verhandlungsteilnehmer an den Eingängen und teilen den jeweils erreichten Verhandlungsstand mit, der Druck auf die Eingänge wird immer größer, auch am Tor Grüner Weg. „Wir wollen rein!“, einzelne Rufe, dann Sprechchor „Wir wollen rein!“ Im Wachhäuschen Bewegung, eine Tür geht auf, Axel Peters erscheint, es werden Leute gebraucht, Fachleute, Techniker, Kellerräume sollen überprüft werden. Ich dränge mich zur Tür, ein Freund ist auch dabei, wir gehen durch die Wachbude an zwei Posten vorbei. „Warten Sie am Tor, Sie werden abgeholt.“ Ich stehe mit etwa zehn Leuten auf dem dunklen Hof im Objekt drinnen. Die Augen gewöhnen sich langsam an das Dunkel, ich erfasse die Hofkonturen. Da stehen auch Menschen in zwei Gruppen im Dunkeln, Stahlhelme reflektieren matt das Licht von den Lampen an der Mauer; die sind voll ausgerüstet, Kampfanzug, Helm auf dem Kopf oder am Koppel, zwei Gruppen, etwa 10 - 30 Mann stark; ich habe plötzlich Angst.

Draußen vor dem Tor wird es lauter. „Wir wollen rein!“; lauter und lauter schallt es, Hände fassen auf die Mauerkante, Köpfe tauchen auf, an manchen Stellen wollen junge Leute über die Mauer und das Tor. Wenn jetzt einer durchdreht, denke ich Die Lampen am Tor tauchen diese gespenstische Szene in kaltes Licht, die Behelmten im Dunkeln, wenn jetzt einer die Nerven verliert, nur ein Schuss: Mir ist schlecht vor Angst. Sekunden später ist draußen die kräftige Stimme von Axel Peters zu hören: „Leute, kommt runter von der Mauer, das bringt nichts.“ Köpfe und Oberkörper verschwinden, Hände lassen los, Entspannung: Ich fühle, wie diese Welle auch die im dunklen Hof erreicht, Flüstern wird hörbar, Bewegung kommt in die beiden Gruppen. Gott sei Dank, ein Stoßgebet oder besser Stoßdank!

Die Besetzung-Versiegeln

Wir werden geholt, quer über den Hof, über einen weiteren Hof durch eine Tür in das Gebäude, wir kommen in eine große Halle, spärlich, nicht sehr hell erleuchtet, eine große Treppe schwingt sich nach oben, zwei oder drei Stockwerke, wir sind drin. Das große Foyer füllt sich schnell mit Menschen, es scheinen noch weitere Gruppen von den verschiedenen Eingängen hinzuzukommen, alles läuft durcheinander, bekannte und fremde Gesichter. Mit Schrecken begreife ich, dass ja auch Stasimitarbeiter in Zivil im Objekt sind, dort auf dem emporeartigen Gang vor den Räumen des Leiters der Bezirksverwaltung steht offenbar eine Reihe von Mitgliedern des Sicherungsstabes; wie viele Stasileute werden nun schon unter uns sein? Keiner weiß, wie viele im Objekt sind, wer sie sind, wo sie sind. Misstrauen breitet sich aus, wir suchen bekannte Gesichter, eine Gruppebildet sich, etwa 5 - 6 Leute, jeder von uns sucht wieder 4-5 Leute aus dem Gewühl heraus. So entsteht in dem Chaos eine stasifreie, handlungsfähige Gruppe. Was ist jetzt zu tun? Die Forderungen erfüllen, das Objekt räumen, die Aktenvernichtung stoppen, alles versiegeln, alles dichtmachen, das Objekt sichern; wo bleibt die Polizei? Wir erfahren, dass ein hoher Offizier der BdVP etwa 30 seiner Offiziere alarmiert hat. Die sollen das Objekt absichern. Also räumen und versiegeln! Versiegeln, ja, aber wie? Keiner von uns hat jemals versiegelt, zwei Staatsanwälte sind da, also auch zwei Petschaften, aber wo ist Siegelmasse, wo Plombenband? Die Revolutionäre stehen ratlos, Stasimitarbeiter werden befragt, die zucken mit den Schultern, der dafür zuständige Mitarbeiter sei nicht da, was nun? Schreibtischschubfächer werden aufgezogen; wir werden fündig, hier eine Rolle rote Siegelmasse, dort ein Stück graue, da blaue, jemand organisiert Band, eine Schere taucht auf, wo fangen wir an? Wir wollen etagenweise vorgehen, ganz oben anfangen, dabei alle Räume dichtmachen, alle Stasileute nach Hause schicken. Es werden mehrere Gruppen gebildet, zwei Gruppen mit je einem Staatsanwalt versiegeln, eine Gruppe soll die Leitung des Hauses nicht aus den Augen lassen, eine Gruppe mit mehreren Medizinern, unter denen ich auch meine Frau entdecke, werden die Untersuchungshaftanstalt begehen und die Gefangenen untersuchen, weitere Gruppen sollen den weit verzweigten Gesamtkomplex erkunden. Ich stehe kurz bei meiner Frau, wir umarmen uns, bis jetzt ist alles gutgegangen. „Bis nachher“, jeder geht zu seiner Gruppe. Es ist nach Mitternacht, die Sicherstellung der Stasizentrale des Bezirkes Rostock nimmt ihren Verlauf, ungeplant, ohne vorbereitetes Konzept, hektisch, spontan, aber konsequent, jeder leistet das ihm mögliche. Ich halte mich mit anderen in der Nähe des Leiters der Bezirksverwaltung auf, Generalleutnant Rudolf Mittag, ein kleiner Mann Anfang sechzig, mir fällt seine sehr gerade Haltung und das unbewegliche Gesicht auf, nur die sich bewegenden Wangenmuskeln weisen auf die große Spannung hin, unter der dieser Mann steht. Er ist immer von Leuten umringt, leitende Mitarbeiter wechseln knappe Worte mit ihm, sein persönlicher Sekretär, Hauptmann Böhme, hält sich ständig in seiner Nähe auf, er ist seit kurzem Offizier für besondere Aufgaben beim Leiter der Bezirksverwaltung, wie ich erfahre. Telefone klingeln, es werden kurze Gespräche geführt, sehr leise, wir sind misstrauisch; was läuft hier ab, ist es etwas gegen uns, sollen wir alles unterbinden, was ist jetzt richtig? Erste zaghafte Gesprächskontakte mit Stasileuten kommen zustande, Fragen werden gestellt, aber das Misstrauen auf beiden Seiten ist förmlich mit den Händen zu greifen. Wir stehen im Zimmer des Leiters, großer Schreibtisch, Holzfurnier, davor ein großer Konferenztisch, Polsterstühle, Einbauschränke, eine Sesselgruppe; Dietlind Glüer sagt: „Komm Gerhard, setzen wir uns, wir sind das Volk.“ Wir sitzen in den tiefen Sesseln, weit entfernt am Schreibtisch steht der Generalleutnant, allein; was mag er denken? Ich merke, wie erschöpft ich bin, was passiert hier eigentlich? Vor fünf Tagen, am Donnerstagabend, standen wir noch vor diesem unheimlichen Gebäude, jetzt sitzen wir hier im ehemaligen Zentrum der Stasimacht von Rostock, dort steht Generalleutnant Mittag, leibhaftig, es ist kein Traum, oder doch? Neue Informationen machen wieder munter, die Polizisten sind da, etwa dreißig Mann, endlich! Viele von ihnen stehen wohl auch zum ersten Mal in diesem Foyer und auf der großen Treppe, zum Teil etwas ratlos, was ist hier los? Wir erklären. Manche wirken abweisend, die meisten aber sind kooperativ, einige wachsen förmlich ein paar Zentimeter, endlich geht es gegen dieses „Organ“, das die Polizei ja auch ständig „unter dem Daumen“ hatte. Polizisten kontrollieren Stasimitarbeiter, die das Haus verlassen wollen, erst zaghaft, doch bald wie selbstverständlich.

 

Konflikt um die Nachrichtenzentrale

Laufend gibt es neue Katastrophenmeldungen, dort über den Hof, in Richtung Augustenstraße ist noch ein ganzes Haus voll in Betrieb, auf dem zweiten Flur wird noch gearbeitet, ganz hinten beim Hochhaus, zwei Etagen mit Nachrichtentechnik, voll in Betrieb, man kommt nicht rein, die haben sich verbarrikadiert, dort und da ist noch was und, und, und. So geht es pausenlos. Dass die Nachrichtenzentrale noch arbeitet, ist für uns eine besondere Bedrohung: Was machen die da, dort muss sofort abgeschaltet werden. Das geht nicht, so die leitenden Mitarbeiter, hin und her geht der Streit, endlich wird eine Gruppe gebildet; die Nachrichtenzentrale wird telefonisch verständigt, wir kommen. Ein Stellvertreter des Leiters der Bezirksverwaltung geht mit, ich schließe mich an. Wir laufen durch lange Gänge, dürftig durch die Notbeleuchtung erhellt, Türen an Türen, Treppen herunter, links herum, wieder lange Gänge, halbdunkel, wieder Treppen, es ist wie in einem Labyrinth, endlich sind wir angelangt. Eine verschlossene Blechtür, ein Sperrbereich, erläutert der Stellvertreter, wir klingeln, wir werden eingelassen. Ein Gang, links und rechts Räume voller Nachrichtentechnik, es summt, Lämpchen leuchten, es ist warm hier. Fragen werden gestellt und nur knapp beantwortet. Sagen die die Wahrheit? Misstrauen, Befürchtungen, alles muss abgeschaltet werden, die Verhandlungen sind langwierig. Um jeden Nachrichtenkomplex wird gerungen. Entscheidungen werden gefällt, dann widerrufen, die Stimmung wird gereizter, die Forderungen härter. Wieder beim Leiter der Bezirksverwaltung wird letztlich ein Kompromiss ausgehandelt, nur die geheime Regierungsnachrichtenleitung bleibt in Betrieb, betreut von zwei Technikern, die von einem Mitglied des „Neuen Forum“ und einem VP-Posten kontrolliert werden. Alles andere wird abgeschaltet, das gesamte interne Nachrichtennetz im Bezirk ist tot.

Außenstelle in Waldeck-eine fragwürdige Festnahme

Parallel zur Räumung des Bezirksamtes in der Rostocker Innenstadt muss auch das Außenobjekt der Bezirksverordnete tun in Waldeck einige Kilometer von Rostock entfernt, gesichert werden. Dorthin sollen tagsüber noch Akten transportiert worden sein, wird berichtet. Eine Gruppe von etwa 80 Leuten ist nach dorthin unterwegs. Es geht auf Mitternacht zu. Als die ersten aus Waldeck zurück sind wirft Axel Peters vom Neuen Forum Generalleutnant Mittag die Reste verkohlter leerer Aktendeckel vor die Füße, sie waren in Waldeck im Heizhaus gefunden worden, in anderen Hallen sollen Berge von zerschnitzeltem Papier liegen, handgreifliche Beweise für Aktenvernichtung. Der Bezirksstaatsanwalt Müller wird aufgefordert, den Generalleutnant zuzuführen, er sträubt sich, die Forderung wird heftiger wiederholt, schließlich wird der Satz gesprochen: „Hiermit führe ich Sie zu!“ Keiner von uns denkt daran, was diese Zuführung3 bedeutet, kurze Befragung und dann Entlassung nach Hause. Wir denken, wir haben etwas erreicht. Wie groß jedoch die Nähe zwischen Staatsanwalt und MfS-Generalleutnant ist, macht der Wortwechsel zwischen beiden kurz vor Verlassen des Objektes gegen 6.00 Uhr deutlich. Mittag: „Fahren wir mit Deinem Wagen oder mit meinem?“ Müller: „Ich bin zu Fuß hier.“ Mittag: „Dann fahren wir mit meinem, ich habe noch meinen Fahrer da.“ Zugeführter und Zuführender, sie können die gemeinsame Vergangenheit im gleichen Boot nicht verleugnen. Ähnlich enge Verbindungen müssen zwischen dem Stabschef der BdVP, Oberstleutnant Zander, und dem Generalleutnant Mittag bestehen, die Verabschiedung zwischen beiden ist herzlich, fast feierlich, dabei wird deutlich, wer wem was zu sagen hat oder hatte, die Haltung des Stabschefs ist die eines Untergebenen. Beobachtungen, die nachdenklich machen, das Misstrauen wieder vergrößern.

Sicherung für die Folgetage

Es ist gegen 4.00 Uhr, ich schließe mich der Versiegelungsgruppe an, Bezirksstaatsanwalt Müller hält sich nur mit Mühe aufrecht, ihm ist die Erschöpfung anzusehen, eine Erschöpfung, die wohl nicht nur physische Ursachen hat. Raum für Raum, treppauf, treppab, ganze Flurbereiche werden versiegelt, indem Schwingtüren verrammelt und versiegelt werden. Keiner weiß mehr genau, in welchem Gebäudeteil wir eigentlich sind, wo sind die Lichtschalter, hier im Kellerbereich ist alles dunkel, was ist hinter dieser Tür, wohin führt diese Treppe, ach, hier waren wir schon, einmal haben wir uns selbst eingesiegelt, das Siegel auf der Türrückseite zeigte es an, jetzt wieder beschädigt, langsam siegeln wir uns vorwärts, getrieben von Angst, etwas Wichtiges zu übersehen, nicht alle Zugänge zu erfassen. Es wird Morgen. Gegen 6.00 Uhr sind wir wieder im Foyerbereich, übermüdet, aber glücklich. Die Gruppe, die die Gefangenen untersucht hat, schreibt ein Protokoll: keine Misshandlungen, die Gefangenen wollen unbedingt dort bleiben, wo sie sind, nicht in die UHA Schwaansche Straße verlegt werden. Ich treffe meine Frau wieder, lohnt es sich noch, nach Hause zu fahren, es ist gleich 6.00 Uhr, um 6.45 Uhr beginnt meine Arbeit. lm Gebäude wird es still, alle Stasileute sind raus, bis auf die zwei in der Nachrichtenzentrale, die Polizei hat die Eingänge besetzt, wir schenken ihnen Vertrauen, müssen es, hinaus auf die August-Bebel-Straße, wir atmen tief, es ist 6.15 Uhr, noch dunkel, Passanten gehen vorbei, es ist Dienstag, der 5.12.1989. In Waldeck ist die Versiegelung erst gegen 9.00 Uhr beendet, auch dieser große Komplex wird von der VP gesichert. In den nächsten Tagen erfahren wir, dass in dieser Nacht auch die meisten Kreisdienststellen durch Bürger stillgelegt und gesichert worden sind.

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Anmerkungen

1 Dort befand sich die ehemalige BV des MfS, zum Zeitpunkt der Besetzung schon Bezirksamt (BA) des AfNS.

Erlebnisbericht

2 Am 8. Dezember 1989 bildeten auf Initiative der „Vereinigten Bürgerinitiative“ rund fünfzig Menschen in der Rostocker Petrikirche einen ehrenamtlichen Bürgerrat. Dieser sollte dem Rat der Stadt und der Stadtverordnetenversammlung zugeordnet sein, dort an Entscheidungen mitwirken und Kontrolle ausüben. In: http://widerstand-in-mv.de/detail/rostock-buergerrat-gegruendet/#_ftn1 (Zugriff 23.11.2019)

3 In der DDR Bezeichnung für eine Festnahme.