Die Sicherung und Rettung der Potsdamer Stasi-Akten

Ein Überblick der Stasi-Auflöserin und letzten Leiterin der Potsdamer Außenstelle des Stasi-Archivs, Gisela Rüdiger.

Die Akten der Kreisverwaltungen und der Bezirksverwaltung Potsdam für Staatssi­cherheit wurden in der Zeit vom 05. 02. 1990 bis zum 08. 03. 1990 in eine Kraftfahr­zeughalle und mehrere Bunker in Potsdam-Bornim eingelagert - für die persönliche Einsicht gesperrt und fest verschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich das gesamte noch vorhandene Schriftgut konzentriert in den Gebäuden am Hauptsitz der Bezirksverwaltung in der Potsdamer Hegelallee befunden.

Der Ministerrat der DDR unter dem Vorsitz von Hans Modrow1 hatte, gleich nach­dem die Bezirkszentralen des Staatssicherheitsdienstes am 4. und 5. Dezember 1989 von Bürgern besetzt worden waren, Re­gierungsbeauftragte in alle Bezirke geschickt, die die Bürgerinitiativen kontrollieren und lenken sollten.

 

Die Umlagerung der Potsdamer Stasi-Akten erfolgte auf Drängen des für Potsdam zuständigen Regierungsbeauftragten, Wolfgang Splett. Dabei wurde der Bestand stark verunordnet. Wieviel von dem Schriftgut in dieser Phase noch unkontrolliert vernichtet wurde, lässt sich nicht feststellen. Außerdem hatte diese Umräumaktion zur Folge, dass die Mitglieder der Potsdamer Bürger- „Kommission über die öffentliche Kontrolle zur weiteren Sicherung, Sichtung und evtl. teilweisen Vernichtung von Schriftgut des Bezirksamtes für Natio­nale Sicherheit Potsdam“, kurz „Schriftgutkommission“, einen wesentlichen Teil ihrer Zeit für die Aufsicht der Transporte aufwenden mussten. Sie konnten sich daher kaum um die anfallenden Probleme und Fragen, die bei der weiteren Auflösung des Staatssicherheitsdienstes anfielen, küm­mern. Die Unterlagen wurden von den Kommissionsmitgliedern nur grob ge­sichtet und ein Teil wurde sogar zur Vernichtung freigegeben. 

Foto: Erste Aktensichtungen nachm Umlagerung im Bunker von Bornim. Die Stasi-Auflöserinnen Gisela Rüdiger, Uta Leichsenring und  Irmgard Meyer. Die drei waren für den Volkskammerausschuss zur Auflösung  des MfS/AfNS eingestellt, später zwei bei der Bezirksverwaltungsbehörde Potsdam. Die  drei wurden 1990 von der Stasiauflösungsbehörde übernommen. Giesela Rüdiger und Uta Leichsenring leiteten mehrere Jahre Aussenstellen dieser Behörde. 

 

Am 18. März 1990 wählte die DDR-Bevölkerung zum ersten Mal ihre Abgeord­neten für die Volkskammer in freier Wahl. Am 6. Mai wurden die Abgeordneten der Kreis- und Stadt­parlamente und Gemeinderäte gewählt. Die beiden Bürgergremien, die sich im Dezember 1989 in Potsdam gebildet hatten, lösten sich kurz vor diesen Wahlen auf. Die Funktion dieser Übergangskontrollgremien sollten jetzt die legitimierten Abgeordneten wahrnehmen.

Die letzte Sitzung des Rates der Volkskontrolle fand am 5. April 1990 statt. Es war ein Bürgerkomitee, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die städtischen Verwaltungen und Einrichtungen zu kontrollieren, aber auch Betriebe, Grenzorgane, Post und vieles mehr. Es kümmerte sich auch ständig um die Auflösung des Staatssi­cherheitsdienstes und nahem Bürgerbeschwerden entgegen.

Im Rechenschaftsbericht vom Mai 1990 zieht der Rat der Volkskontrolle sein Resü­mee: „Die Untersuchungen des Bürgerkomitees 'Rat der Volkskontrolle' der Stadt Potsdam haben in vielfältiger Weise gezeigt, das bürgerliche Grundrechte [in der DDR] permanent verletzt und privilegierte Stellungen häufig zum eigenen Vorteil genutzt wurden, ohne dass die Verantwortlichen aufgrund der Situation in Justiz und Gesetzlichkeit bisher zur Verantwortung gezogen werden konnten. Das macht politische Lösungen drin­gend erforderlich, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen hergestellt und vor künftigem Missbrauch verlässlich geschützt werden. In diesem Sinne übergibt das Bürgerkomitee ˝Rat der Volkskontrolle˝ der Stadt Pots­dam, der neuen Stadtverordnetenversammlung, den Bericht über seine Tätigkeit mit der Mahnung, den Geist des Herbstes 1989 in Erinnerung zu behalten, denn „Wir sind das Volk!“.

Die Mitglieder der „Kommission über die öffentliche Kontrolle zur weiteren Sicherung, Sichtung und evtl. teilweisen Vernichtung von Schriftgut des Bezirksamtes für Natio­nale Sicherheit Potsdam“ kamen am 13.03.1990 zu ihrer Abschlussberatung zu­sammen. Auch sie sahen ihre Arbeit als beendet an. Ihr Abschlussbericht wurde leider nie fertiggestellt und kam über das Entwurfsstadium nicht hinaus.

Am 12. März 1990 wurde das in Potsdam-Bornim eingelagerte Schriftgut durch den Regierungsbeauftragten Wolfgang Splett dem Staatsarchiv Potsdam zur weiteren Verwahrung und Verwaltung übergeben. Gemeinsam mit Angehörigen der Volkspolizei wurden die Lagerräume vom Staatsarchiv in alleiniger Verantwortung versiegelt.

Die Akten blieben vollständig gesperrt, eine Ausnahme bestand nur für Vertreter der Staatsanwaltschaft und Gerichte im Zusammenhang mit der Durchführung von Er­mittlungs- und Gerichtsverfahren.

In dem oben erwähnten Entwurf vom Abschlussbericht forderte die Kommission „die neue Volkskammer im Interesse aller Bürger […] auf, unverzüglich eine parlamentari­sche Entscheidung zur möglichen Vernichtung von unberechtigt angelegten Perso­nendossiers und Quellenakten zu treffen. Im Interesse des Territoriums erscheint eine gezielte Aufarbeitung der Materialien unter gemeinsamer Leitung und Verant­wortung der Arbeitsgruppe Sicherheit des Runden Bezirkstisches Potsdam und des Staats­archivs Potsdam zweckmäßig“.

Die weitere Aufsicht bei der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes lag nach den Wahlen und der Auflösung der beiden wichtigen Bürgerkomitees bei der Gruppe Sicherheit des Bezirks-Runden-Tisches beim Rat des Bezirkes Potsdam. Dass dieser Runde Tisch weiter existierte und tätig blieb, hatte seinen Grund. Denn es wurden zwar Verwaltungen der Räte der Bezirke umorganisiert und einige verantwortliche Leiter ausgewechselt, aber Wahlen zu dem Landtag des neu gebildeten Landes Brandenburg sollten erst im Herbst 1990 stattfinden. Bei den bezirklichen Einrichtungen fehlte es daher an neuen Kräften und eine starke aus den alten Kadern bestehende Schicht behielt faktisch die Macht, die unbedingt der Kontrolle durch den Runden Tisch bedurfte. Der Gruppe Sicherheit des Runden Tisches gehörten überwiegend Personen an, die Mitglieder der neuen politischen Gruppierungen, der SPD, des Neuen Forum und der Vereinigten Linken waren.

Von der DDR-Regierungsseite aus waren zur Stasiauflösung Arbeitsstäbe eingerichtet worden, die sich vor allem um die Arbeitsvermittlung von zu entlassenden MfS-Mitarbeitern und die Vergabe und den Verkauf von Liegenschaften an neue Nutzer kümmerten und die noch vorhandenen Verbindlichkeiten des MfS regelten.

Ein Bürgerkomitee im eigentlichen Sinne, wie sie in anderen Bezirken auch nach dem März 1990 immer noch bestanden, gab es in Potsdam nicht mehr, jedoch war die Gruppe Sicherheit des Runden Tisches beim Rat des Bezirkes weiterhin sehr aktiv und seine Vertreter nahmen an den DDR-weiten Koordinierungstreffen der Bürgerkomitees teil, um den Bezirk Potsdam dort so gut es ging mit den wenigen aktiven Kräften zu vertreten.

Der Runde Tisch des Bezirkes Potsdam beschloss am 27. 03. 1990 gegen Wider­stände aus den eigenen Reihen, dass wichtige Dokumente der Potsdamer Staatssi­cherheit aus dem Jahre 1989 veröffentlicht werden sollten.

Reinhard Meinel, Physiker, Erstunterzeichner des Neuen Forum-Aufrufes, und Thomas Wernicke, Mitarbeiter des Potsdam-Museums und aktives Mitglied des Neuen Forum, erhielten die Rechercheerlaubnis. Ihr Buch, Mit tschekistischem Gruß : Berichte der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam 1989,2 erschien im September 1990. Die beiden Herausgeber schreiben in ihrer Einleitung: „Die Zeit drängte, denn es war zu erkennen, dass der Widerstand gegen derartige Projekte in beiden deutschen Staaten wuchs.“

Bei ihnen, und nicht nur bei ihnen, bestand die Befürchtung, dass die Einsicht in Un­terlagen der Staatssicherheit nicht einfacher sondern schwieriger, vielleicht auf viele Jahre sogar unmöglich werden würde. den Bezirk Potsdam. In der Tat wurden die Akten für Forschungszwecke offiziell erst mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz vom 30. 12. 1991 zugänglich.

Verantwortliche des Staatsarchivs, die die beiden Herausgeber bei der Recherche betreuten, schwärzten aus den herausgegebenen Kopien alle MfS-Mitarbeiter, selbst wenn sie der Öffentlichkeit bekannt waren und hohe Funktionen bekleidet hatten. Nur der Leiter der Bezirksverwaltung Potsdam, Helmut Schickart, blieb identifizierbar. Im Gegensatz dazu blieben die meisten betroffenen Bürger ungeschwärzt mit ihren Namen in den Aktenkopien erkenntbar. Aus heutiger Sicht eine Umkehrung des Datenschutzes.

Mit dem Ministerratsbeschluss vom 16. Mai 1990 ging die gesamte Aufsicht über die Auflösung des MfS in die Verantwortung für die Stasiauflösung an den Innenminister der neu gewählten DDR-Regierung, Peter Michel Diestel, über. Dieser Ministerratsbeschluss sah vor, dass die Verwahrung, Aufarbeitung und Sicherung des gesamten Schriftgutes der staatlichen Archivverwaltung mit ihren Staatsarchiven, verstreut über das gesamte Gebiet der DDR, übertragen wird. Es wurde festgelegt, dass die Akten weiter für jedermann gesperrt bleiben (schutzwürdige persönliche Daten 110 Jahre, Staatsgeheimnisse 10 Jahre). Ausnahmen sollte es nur für Staatsanwälte und Gerichte geben, weitere Ausnahmen nur nach einem umständlichen Genehmigungsverfahren.

Innenminister Diestel nahm gleich nach seiner Amtsübernahme das Heft in die Hand. Die Bürgerkomitees, die durch ihre Kontrolle verhindert hatten, dass der größte Teil der Stasiakten vernichtet wurde, bekamen nun zu spüren, dass sie nicht mehr erwünscht waren. Die Enttäuschung war groß, weil man sich erhofft hatte, dass es unter einem frei ge­wähl­ten Parlament und einer neuen Regierung mit der wirklichen Aufklärung einfacher werden würde und man endlich beginnen könnte, die Unterlagen zu sichten und für die Forschung zu öffnen. Außerdem war das Vertrauen in den alten Apparat des Innenministeriums mit Diestel an seiner Spitze sehr gering, was auch auf die Polizei und die Staatliche Archivverwaltung der DDR sowie auf das staatliche Auflösungs­komitee zutraf. Alle diese Einrichtungen waren dem Innenministerium direkt unter­stellt.

Eine vom Innenminister Diestel berufene Regierungskommission, die das Innenministerium in allen Fragen, die im Zusammenhang mit dem Erbe des Staatssicherheitsdienstes standen, beraten sollte, half kaum, Vertrauen bei den Mitgliedern der Bürgerkomitees zu schaffen. Das Gremium hatte keine Entscheidungsbefugnisse erhalten. Die Bürgerkomitees forderten deshalb einen Sonderausschuss, der sich aus den Reihen der neu gewählten Volkskammerabgeordneten zusammensetzen sollte.

Am 16. Juni 1990 konstituierte sich dann der elfköpfige „Sonderausschuss der Volks­kammer zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS“.

Innenministerium, Regierungskommission, Sonderausschuss und einzelne Bürgerko­mitees arbeiteten teilweise getrennt von einander und parallel an einem Gesetzent­wurf zum Umgang mit den Akten des Staatssicherheitsdienstes.

Eine große öffentliche Debatte über den weiteren Umgang mit den Stasiunterlagen fand in Potsdam nicht statt.

Die meisten derjenigen aus Potsdam, die im Dezember 1989 die Dienststellen des Staatssicherheitsdienstes besetzt hatten und den Auflösungsprozess kritisch begleitet hatten, erwarteten von den neuen Parlamentariern ein Einsichtsrecht in ihre Akten. Sie gingen selbstverständlich davon aus, dass die Unterlagen zur Aufklärung der Tätigkeit des MfS genutzt werden müssten. Stasi-Mitarbeiter und ihre Auftraggeber sollten für Rechtsverletzungen und Verstöße gegen die allgemeinen Menschenrechte vor Gerichte gestellt werden, wozu die Akten genutzt werden sollten. Wichtig waren die Unterlagen auch für die Rehabilitierung von Opfern des DDR-Regimes. Ein Re­habilitierungsgesetz wurde gefordert.

Der vom Staatlichen Komitee erarbeitete, von der Regierungskommission begutachtete, mit neuen Gesichtspunkten vom westdeutschen Berater, Eckart Werthebach, versehene und einigen Ausschussmitgliedern der Volkskammer bekanntgegebene Gesetzentwurf über den weiteren Umgang mit den Stasiakten wurde in der Volkskammer am 19. Juli eingebracht. Von dieser wurde er in den Ausschuss verwiesen, wesentlich überarbeitet und am 24. August von der Volkskammer bestätigt.

In Bornim, wo die Akten Potsdams verwahrt waren, übernahm Uta Leichsenring, die Beauftragte des Sonderausschusses der Volkskammer, die für den Bezirk Potsdam zuständig war, mehr und mehr die Verantwortung für den Umgang und die Sicherheit der 4,7 km Aktenbestände.Als am 29. und 30. August bekannt wurde, dass das von der Volkskammer beschlossene Gesetz nicht in den Einigungsvertrag übernommen werden sollte, setzten sich auch Potsdamer für eine Übernahme des Gesetzes in den Einigungsvertrag ein. Sie wollten auf jeden Fall verhindern, dass die Unterlagen in das Bundesarchiv überführt werden und dann dem Bundesarchivgesetz unterliegen würden. Verhindert werden sollte auch,und das war ein wesentlicher Gesichtspunkt, dass Nachrichtendienste der Bundesrepublik Einsicht in die Akten nehmen oder sogar Akten im Original erhalten könnten. Am Einigungsvertrag wurden Veränderungen gefordert. Das Gesetz zur Nutzung der Akten, das von der Volkskammer verabschiedet worden war und endlich die Möglichkeit enthielt, Aufklärung über erlittenes Unrecht zu erfahren und damit auch Wiedergutmachung zu erleben, sollte mit der Vereinigung erneut erschwert werden.

Es kam zu Demonstrationen von einigen Personen vor dem Gelände, auf dem die Potsdamer Stasi-Akten lagen. In der Stadt wurden von der Grünen Partei und der Vereinigten Linken Flugblätter verteilt. Vor dem Eingang des Archivs harrten einige Wochen lang mehrere Demonstranten aus, die in Zelten dort übernachteten.

Die Sorge galt der sicheren Verwahrung der Akten. Ihr Abtransport sollte unbedingt verhindert werden, sowie jede Möglichkeit, dass ehemalige Mitarbeiter des MfS oder andere Personen, wie z. B. Mitarbeiter anderer Geheimdienste, Zugang zu den Unterlagen erlangen konnten. Allen, die mit der Verwahrung der Akten zu tun hatten, wurde misstraut.

Die Beauftragte des Sonderausschusses der Volkskammer, der damalige Abgeordnete und spätere Bundespräsident, Joachim Gauck, sah es deshalb als notwendig an, sich mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit zu wenden, in der er auf die Gegebenheiten der Unterbringung hinwies und erläuterte, wie der Zugang zu den Depots geregelt war. Der Kampf der Bürger war nicht umsonst. Die Akten blieben in Potsdam und es wurde eine Behörde, die nur dem Bundestag gegenüber rechenschaftspflichtig ist, mit dem Namen „Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstesder ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ geschaffen, die „Gauck-Behörde“, so genannt nach ihrem ersten Leiter.

Ein Stasi-Unterlagen-Gesetz wurde, allerdings erst zum 31. 12. 1991 in Kraft gesetzt. Es enthielt wesentliche Forderungen der DDR-Bürger, die sich für eine Öffnung der Archive des Staatssicherheitsdienstes eingesetzt hatten. In der Zeit dazwischen, von der Deutschen Vereinigung im Oktober bis zur ersten Akteneinsicht am 2. 1. 1992 ging allerdings viel Zeit verloren. Zeit, in der man das Archivrecht, wie von der Volkskammer im August verabschiedet, hätte anwenden können. Andererseits enthält das vom Bundestag verabschiedete Gesetz eine ganze Reihe von Veränderungen und Ergänzungen, die den Zugang zu den Unterlagen in vieler Hinsicht einfacher machen und den Rahmen der möglichen Anw­endung wesentlich erweitert hat.

1 Mitglied der SED und später wegen Wahlfälschung in Dresden verurteilt.

2 Reinhard Meinel; Thomas Wernicke (Hg.). Potsdam 1990.