Die Vorgeschichte des 15. Januar in der DDR und in Ostberlin

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Walter Süß über das Thema seines Buches „Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang 1989 eine Revolution zu verhindern“ [2] Der Titel ist gleichzeitig These.

 

Dr. Walter Süß versucht einige Fragen und Thesen zu formulieren zur Einordnung des 15. Januar 1990 in die Revolutionsgeschichte. Es geht dabei um folgende Punkte: Die Bedeutung des Kampfes gegen die Staatssicherheit in den verschiedenen Phasen der Revolution und in diesem Zusammenhang die Bedeutung des 15. Januar. Zweitens. Wie stellt sich aus der jeweiligen Perspektive der verschiedenen Akteure dieser Prozess dar? Der in sich differenzierten Bürgerbewegung? Der Machthaber und dabei vor allem aber nicht nur der Staatssicherheit. Und schließlich: Was zeigt ein Vergleich mit anderen Staaten im sowjetischen Machtbereich?

 

Zuerst: Welche Bedeutung hatte die Entmachtung der Staatssicherheit für die Revolution? Dabei sind im revolutionären Prozess mehrere Phasen zu unterscheiden: Die Phase der vorrevolutionären Mobilisierung, die zweite Phase der Rückeroberung des öffentlichen Raumes durch die Gesellschaft und schließlich die dritte Phase einer beginnenden Doppelherrschaft und des Übergangs zu einem neuen politischen Re­gelsystem. Zur ersten Phase, der Mobilisierung der Bevölkerung kam es als Folge der Fluchtwelle über Ungarn und der Proteste gegen den Umgang der Machthaber mit diesem Verfallszeichen des Systems.[3] Im August und September 1989 manövrieren sich die Machthaber zunehmend in eine politische Defensive. Diese Phase gipfelte Anfang Oktober in den Auseinan­dersetzungen um den 40. Jahrestag der DDR, als dem letzten vergeblichen Versuch, die Lage gewaltsam unter Kontrolle zu bekommen. Die Staatssicherheit wäre damals von ihrem Potential her noch in der Lage gewesen, den beginnenden Aufstand mit offener Ge­walt zumindest zeitweilig zu unterdrücken. Sie befand sich aber in einem taktischen Di­lemma. Einerseits sollten die Sicherheitsorgane öffentlichen Protest verhindern, andererseits jedoch forderte die SED-Führung von ihnen, unbedingt zu vermeiden, dass es erstens zu einer Solidarisierung der bisher schweigenden Mehrheit mit der Bürgerrechtsbewegung kommt, und dass zweitens die außenpolitische Position der DDR weiter geschwächt würde. Diese Vorgaben schmälerten den Handlungsspielraum der Staatssicherheit ganz entschei­dend, denn mit konspirativen Mitteln und Methoden war die Situation schon nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen. Die zweite Phase datiert von Oktober bis Anfang Dezember 1989 von der Niederlage des Regimes in Leipzig[4] und dem anschließenden Sturz Honeckers[5] bis zum Kollaps der alten Politbürokratie. In dieser Phase haben die politisch aktiv werdenden Teile der Gesellschaft  (außerhalb der politischen Klasse)  den öffentlichen Raum zurückerobert. Zugleich ist die neue SED-Führung mit ihrem Versuch einer politischen Offensive gescheitert und hatte das mit dem Verlust ihrer Führungsrolle auch innerhalb des Machtap­parates zu bezahlen. Von der Staatssicherheit wurde wiederum Zurückhaltung gefordert. Sie sollen die besagte Offensive der SED nicht durch unzeitgemäße Repressionsmaßnahmen stören. Und mehr als das. Die anderen Teile des Machtapparates begannen nun auf Di­stanz zur Staatssicherheit zu gehen. Das galt verschiedentlich selbst für Justiz und Volkpolizei. Der repressive Grundcharakter des Systems wurde nun von beiden Seiten zu­nehmend auf die Stasi geschoben, von bisher Verantwortlichen gemeint als Entlastung  durch einen Sünden­bock, von der aufbegehrenden Gesellschaft unbewusst als das Symbol für den Charakter der Diktatur schlechthin. Das gipfelte in der Besetzung von Kreisdienststellen[6] und Bezirksverwaltungen[7] durch empörte Bürger Anfang Dezember, mit denen die regionalen Bastionen der Stasi lahm gelegt wurden. In der dritten Phase, ab Anfang Dezember 1989, entstand eine Art Doppel­herrschaft. Und es kam zum Übergang zu einem neuen politischen Regelsystem, das mit den freien Wahlen im März 1990 seine erste Bewährungsprobe bestanden hat. Hier waren die Auseinandersetzungen an den Runden Tischen, an dem zentralen Runden Tisch, aber auch an analogen Institutionen in vielen Bezirken von entscheidender Bedeutung. Die end­gültige Entmachtung der Staatssicherheit war für sie ein zentrales Thema, das wesentlich zur fortdauernden Mobilisierung der Bürgerbewegung beigetragen hat. Das alte Regime ist in dieser Frage schrittweise zurück gewichen. Am zentralen runden Tisch haben die Vertreter der SED/PDS am 7. Dezember für die Auflösung der Stasi gestimmt. Und Modrow[8] hat am nächsten Tag den Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit entsprechend angewiesen. Am 14. Dezember hat der Ministerrat dann die Auflösung des AfNS[9] (Amt für Nationale Sicher­heit) beschlossen, zugleich aber auch die Schaffung von Nachfolgeorganisationen, die je­doch im Falle des Verfassungsschutzes sehr viel kleiner sein sollte. Der künftige Nachrich­tendienst  entstand im Grunde genommen durch eine  Umbenennung der HVA[10], ohne wesentlichen Personalabbau. Unter wachsendem öffentlichem Druck hat der Ministerpräsi­dent am 12. Januar in der Volkskammer erklärt, dass vor den Wahlen kein Verfassungs­schutz aufgebaut werden sollte. Und am nächsten Tag hat der Ministerrat einen entspre­chenden Beschluss gefasst.

 

Der Sturm auf die Stasi-Zentrale am 15. Januar war dennoch nicht überflüssig, denn die Auseinandersetzungen im unmittelbaren Vorfeld zwangen Mod­row am 15. Januar an den zentralen Runden Tisch zu kommen, was er bis dahin vermieden hatte. Damit hat er dieses Gremium als Kontroll- und Vetomacht anerkannt. Und mit der Besetzung der Normannenstraße[11] wurde das symbolische Zent­rum des alten Repressionsapparates lahm gelegt. Dieses Zeichen wirkte weit über Ost-Berlin hinaus und  auch weit über das Jahr 1990 hinaus.

 

Die Aktion hatte nicht nur symboli­sche Bedeutung, sondern auch ein praktisches Ergebnis. Mit dem Ministerratsbeschluss vom 13. Januar war nur festgelegt worden, dass das AfNS aufgelöst und bis zu den Wahlen kein Verfassungsschutz gebildet werden sollte. Der Nachrichtendienst wurde in dem Beschluss nicht genannt. Diese Nachfolgeorganisation der HVA sollte weiter arbeiten. Das wurde, wahrscheinlich ohne dass es den Akteuren  klar gewesen wäre, mit der Besetzung der Stasi-Zent­rale verhindert. Drei Tage später, am 18. Januar,  erhielt Engelhardt[12],  von Modrow den Auftrag, die Staatssicherheit in allen ihren Gliederun­gen – einschließlich der HVA – aufzulösen.

 

Nun noch einige Bemerkungen zu den verschie­denen Perspektiven auf die Staatssicherheit in jenen Monaten. Aus der Sicht der Bürgerbe­wegung war die Staatssicherheit - zumindest bis zum 15. Januar 1990 – eine Bedrohung. Trotz des weitestgehend friedlichen Verlaufs der Besetzungen in den Bezirken, Anfang De­zember, war von außen nicht zu durchschauen, ob dieser Gewaltapparat nicht doch noch versuchen würde, das Rad der Geschichte zurück zu drehen. Und wenn nicht mit offener Gewalt, dann vielleicht mit verdeckten Mitteln. Dieser Bedrohung wurde mit der Besetzung der Stasi-Zentrale ein Ende gemacht. Zugleich hat der konkrete Verlauf gezeigt (darauf wer­den die Zeitzeugen vermutlich noch zurück kommen), dass „die“ Bürgerrechtsbewegung kein einheitlicher Akteur war, sondern auch damals schon in sich politisch und taktisch differen­ziert.

 

Nun zur SED. Solange die Parteidiktatur stabil war, ist die Staatssicherheit die wich­tigste repressive Stütze des Systems gewesen. Für die SED im Übergang wurde sie zu einer Belastung. Und ab Anfang Dezember 1989 wurde sie sogar zu einem Faktor der Destabili­sierung, weil sie die Glaubwürdigkeit des Übergangsregimes untergraben hat. Zugleich aber war die Existenz der Dienste, zumindest für den Vorsitzenden des Ministerrates, Hans Mod­row, ein Symbol für die Aufrechterhaltung der staatlichen Existenz der DDR gegen alle For­derungen nach Wiedervereinigung. Deshalb war seine Politik damals in sich widersprüch­lich. Endgültig fallen gelassen wurde die Staatssicherheit in dem Moment, als das Festhalten an den „Diensten“ den Bestand der „Regierung der nationalen Verantwortung“ und damit die Existenz der DDR gefährdete.

 

Die Mitarbeiter der Staatssicherheit waren durch die politische Entwicklung seit Oktober 1989 im hohen Maße verunsichert. Mit dem Verlust der „führenden Rolle“ der SED und der faktischen Desorganisation der Partei, waren sie um den Sinn ihrer beruflichen Existenz gebracht. „Schild und Schwert“ waren sie nicht mehr. Wel­che Funktion ihnen zukünftig zugewiesen werden würde, war unklar. Aber bis Anfang Januar 1990 waren sie noch des Glaubens, unter neuem Namen und in abgespeckter Form, fortexistie­ren zu können. Ein Blick Richtung Osten zeigt, dass das eine reale Möglichkeit  war.

 

Diese Hoffnung machte Modrow mit seiner Ankündigung in der Volkskammer am 12. Januar zunichte. Der Chef der Kaderabteilung der Staatssicherheit, Generalmajor Möller[13], hat am gleichen Tag bei einer Dienstbesprechung folgendes notiert (nachdem er auch vom Amts­chef Engelhardt  erfahren hatte, dass die Stasi nun ersatzlos aufgelöst würde):

„Wir müssen – bei allen Problemen, die die Entwicklung für uns persönlich bringt, beachten: extreme Kräfte wollen die polit[ischen] Machtstrukturen demontieren. [Wir] müssen deshalb alles unterlassen, was die Position der Regierung Modrow schwächt.“

 

Im Anschluss daran machte er sich Notizen, wie man den 15. Januar und eine eventuelle Besetzung möglichst glimpflich über die Bühne bringen könne. „Wir müssen in der Lage sein“, schrieb er, „im Fall von Objektbegehungen sachkundig Auskunft zu geben.“

 

Zum Schluss noch eine Bemerkung zum Vergleich mit anderen Staaten im sowjetischen Machtbe­reich, die in diesen Monaten eine ähnliche Entwicklung erlebten. Meines Wissens ist nir­gendwo sonst die Staatssicherheit so in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und der allgemeinen Empörung gerückt wie in der DDR. Ein wesentlicher Punkt – nicht der einzige – scheint zu sein, dass die bekannten Repräsentanten des alten Regimes von der politi­schen Bühne verjagt worden sind, noch bevor die Bürgerbewegung auf gesamtstaatlicher Ebene verhandlungsfähig geworden war. In Polen oder in Ungarn standen sich die Sprecher der Gesellschaft und die alten Machthaber direkt gegenüber und haben den Übergang aus­gehandelt. In der DDR fand sich auch auf jener Seite des zentralen Runden Tisches, wo die Vertreter der etablierten Macht Platz genommen hatten, keiner, der das alte Regimes offen verteidigt hätte. Das erleichterte in gewisser Hinsicht die Verhandlungen, erschwerte aber die symbolische Auseinandersetzung. Die Staatssicherheit ist unfreiwillig in diese Rolle der Symbolisierung des alten Regimes gerückt, deshalb war ihre Niederlage am 15. Januar 1990 ein politischer Befreiungsschlag.

 

Die Berliner Situation vor dem 15. Januar 1990

 

Christian Booß ergänzt etwas zur spezifischen Berliner Situation[14] Der 15. Januar ist inzwischen ein fester Bestandteil im Revolutionsgedenkkalender. Das war aus der Perspektive  des 14. Januar 1990 keineswegs vorhersehbar. Damals wurde die Situation in der MfS-Zentrale ganz anders gesehen, eher als ein Ärgernis. Die Stasikreisdienststellen waren weitgehend aufgelöst, die Bezirksverwaltungen ab dem 4. Dezember 1989 entweder besetzt oder Stück für Stück lahm gelegt worden.[15] Nur in der Berliner Zentrale brannte noch Licht. Hier arbeiteten Offiziere aus Mielkes[16] Zeiten weiter und hofften doch noch über die Runden, d.h. die Parlamentswahlen im März zu kommen. Die MfS-Zentrale, das eigentliche Ministerium in Berlin-Lichtenberg mit Dienststellen, die unübersichtlich über Ostberlin verstreut waren, existierte noch. Sie war eine der letzten Bastionen, die in der Revolution genommen wurden. Warum, diese Frage muss man sich stellen, so spät?

 

Bevor sie beantwortet werden kann, müssen zunächst einige Fakten gerade gerückt werden, die wiederum die Frage teilweise beantworten. Ganz so passiv, wie manchmal angenommen, war die Berliner Bevölkerung nämlich nicht. Und es ist auch nicht so, dass die Stasi in Berlin vollkommen unbehelligt bis zum Januar weitermachte.

 

Im Gefolge der Proteste und Besetzungen in den DDR-Bezirken Anfang Dezember kam es auch zu Demonstrationen vor dem Berliner Ministerium. Am 6. Dezember erhielten zornige Bürger sogar Zutritt zum Gelände. Doch eine dauerhafte Besetzung wie in den Bezirken fand nicht statt. Nicht ungeschickt deeskalierte das MfS die Lage, indem vereinbart wurde, dass Bürgerrechtler am Folgetag, dem 7. Dezember, mit Staatsanwalt das Gelände besichtigen könnten.[17] Die Presse sollte dabei sein, um dies auch öffentlich zu dokumentieren. Trotz dieses symbolischen Aktes fanden am Abend des 7. neue Demonstrationen vor dem Ministerium statt.[18]

                            

Erstaunlich ruhig blieb es dagegen an anderen Stellen in der Stadt, wo das MfS  Dependancen hatte. Für die jeweiligen Ost-Berliner Stadtbezirke waren 11 Kreisdienststellen zuständig gewesen, von denen sich freilich 5 innerhalb des abgeschirmten Gebäudekomplexes der Berliner Bezirksverwaltung (BV) in der Alfred Kowalke Straße in Friedrichsfelde befanden.[19] Diese Kreisdienststellen in der Stadt und schließlich auch die in der BV wurden vom MfS präventiv abgebaut. Schon nach dem Rücktritt von Stasi-Chef Mielke und der alten DDR-Regierung war das MfS im November 1989 zum Amt für Nationale Sicherheit umbenannt worden. Schon zu  Beginn der Regierung Modrow ging die neue Garde um AfNS-Chef Wolfgang Schwanitz[20]  daran, die Kreisdienststellen überall im Lande aufzulösen. Die kleinen KD galten angesichts der Demonstrationen überall im Lande als gefährdet, das Personal wurde daher abgebaut und die Akten in den Bezirksverwaltungen in Sicherheit gebracht.[21] Protesten gegen Berliner Kreisdienststellen kam die „Sicherheit“ durch administrative Maßnahmen zuvor, die freilich eine Folge der Volksbewegung außerhalb von Berlin waren.

 

Ähnlich ging die AfNS-Führung von selbst daran, die Berliner Bezirksverwaltung zu demontieren. Da der Volkszorn immer noch nicht abgeklungen war, versuchte die Regierung Modrow die Lage Mitte Dezember durch einen nächsten Reformschritt zu beruhigen.  

 

Die Idee des AfNS wurde aufgegeben, stattdessen sollten ein neuer Ver­fassungsschutz sowie ein Nachrichtendienst, angelehnt an das bundesrepublikanische Modell, entstehen.[22] In Umsetzung dieses Reformschrittes luden Regierungsvertreter am 14. Dezember Mitglieder der neuen politischen Gruppierungen und Altparteien ein, einen „Kontrollausschuss“ zu bilden.[23] Dieses Gremium, das sich später Bürgerkomitee[24] nannte, war ganz anders als die meisten vergleichbaren Komitees außerhalb von Berlin eine Gründung von oben. In der Folgezeit wurden die Bürgervertreter mehrfach eingeladen, sich, begleitet von Journalisten, über die Abwicklung der Bezirksverwaltung zu informieren.[25] Dieser präventive Rückzug der Stasileute war ein Grund, warum es in Berlin in der Stasifrage relativ ruhig blieb. Der andere dürfte in der Berliner Opposition selbst zu suchen sein. Obwohl bzw. gerade weil in Berlin eine langjährige und erfahrene Oppositionsszene zu Hause war, war diese sehr stark in DDR-weite Aktivitäten eingebunden. Die Ende 1989 wichtigsten politischen Gruppierungen waren im Raum Berlin gegründet worden.[26] Die meisten der bekannten Köpfe beteiligten sich an den Aktivitäten des Zentralen Runden Tisches, der ab dem 7. Dezember zusammentrat, um einen Kompromiss über das weitere Vorgehen mit den Vertretern der alten politischen Gruppierungen auszuhandeln. Diese Vorgänge banden nicht nur personelle Kapazitäten, sondern hatten auch strategische Konsequenzen. Ein Teil der Vertreter am Runden Tisch strebte einen „geregeltes Verfahren“[27] für den Übergang an, bei dem der Regierung Zugeständnisse abgerungen werden sollten, die dann verbindlich für das ganze Land galten. In der Berliner Opposition gab es „zwei Grundströmungen“[28], denn andere wünschten ein schnelles Ende des MfS. Diese Position wurde in der AG Sicherheit[29] vertreten, die der Runde Tisch als Untergruppe für die Stasifrage berufen hatte.[30] Diese Richtung bekam dadurch Auftrieb, dass der Unmut in der Bevölkerung und den Bürgerkomitees in den Bezirksstädten über die Situation im Berliner Ministerium wuchs. Die Bürgerkomitees beschlossen schließlich, den Zustand in der Normannenstraße zu beenden, und nach dem Vorbild der Bezirksstädte zu regeln. So drängten Vertreter der Bürgerkomitees am 15. Januar an den Runden Tisch, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, „mit der Sicherstellung des Zentralen Amtes zu beginnen“[31]. Schon gegen 13.45 Uhr gelangte ein anderer Teil von Ihnen auf das Gelände und verhandelte mit der Leitung des AfNS.[32] Die Kapitulation war also schon eingeleitet, bevor um 17 Uhr eine Demonstration begann, zu der das Neue Forum aufgerufen hatte, die dann am Abend eskalierte.[33] 

 

Nachgefragt

 

Christian Booß fragte nach entgegengesetzen Thesen in zwei Büchern. Er habe den Eindruck gehabt als ob es da zumindest graduell Unterschiede gibt. Bei Walter Süß ist der 15. Januar und die Erstürmung der Stasi-Zentrale eher ein peripheres Ereignis, weil der Auflösungsprozess der Staatssicherheit schon weit vorangeschritten war und es diverse Auflösungsbeschlüsse schon vorher gab. Auch für die Zentrale hätte es, überspitzt, vielleicht dieser Besetzung gar nicht mehr bedurft, um sie aufzulösen. Süß sagt in dem Buch, dieses Datum markiere nur noch das staatsrechtliche Ende des MfS. Andere heben  viel stärker die Bedeutung der revolutionären Tat, der Demonstration hervor, die eine katalytische Funktion für das endgültige Aus des MfS hatte. Er sieht mehr als nur eine symbolische Bedeutung. Wie ist es nun? Welche Bedeutung kommt dieser Erstürmung nun wirklich zu, und sehen Sie das Ereignis inzwischen weitgehend gleich, oder mit unterschiedlichen Nuancen?

 

Dr. Walter Süß meinte, bei dieser Einschätzung des Moderators ist zu wenig beachtet worden, welche Fragestellungen er in dem Buch getroffen habe. In dem Buch geht es um das Ende der Institution  Staatssicherheit. Und dafür war in der Tat dieser Ministerratsbeschluss vom 13. Januar von entscheidender Bedeutung. Aber, das heißt nicht, dass die Besetzung am 15. Januar überflüssig gewesen wäre. Ich nenne drei Punkte: Den einen habe ich bereits in meinem Vortrag erwähnt, nämlich, dass zu dem Zeitpunkt  von der Regierungsseite noch nicht beabsichtigt war, die Tätigkeit des Nachrichtendienstes – alias HVA – einzu­stellen. Und das wurde gestoppt. Und das zweite ist, die Aktenvernichtung in der Zentrale ist damit natürlich auch zu einem weitgehenden Ende  gekom­men. Und hätte die Besetzung nicht stattgefunden, halte ich es für recht wahrscheinlich, dass wir – wenn denn dann nach freien Wahlen irgendwann die Behörde doch unter zivile Kontrolle gestellt worden wäre, das wäre sie sicherlich – sehr viel mehr Akten vernichtet ge­wesen wären, als tatsächlich schon vernichtet worden sind. Und der dritte Punkt ist der, ich hatte ja unterschieden zwischen der institutionellen Bedeutung und der symbolischen Bedeutung. Und die politische Kultur eines Landes  wird ja auch geprägt durch die Erinne­rung an bestimmte Ereignisse. Und ich denke, dieser 15. Januar ist ein Lichtblick, ein Höhe­punkt unserer Geschichte, und speziell dieser Revolutionsgeschichte. Und schon deshalb ist er wertvoll gewesen.

 

Christian Booß fragte nach, wie gefährlich oder wie arbeitsfähig das Ministerium eigentlich zum 15. Januar noch war? Vor zwei Tagen habe hier im selben Raume eine Veranstaltung des Bezirksamtes Lichtenberg stattgefunden, mit einer etwas anderen Podiumsbesetzung. An der Stelle, wo jetzt Dr. Walter Süß sitzt, saß Heinz Engelhardt, der letzte Verweser dieses Objektes vom MfS. Und er sagte damals etwas larmoyant, die Staatssicherheit sei eigentlich gar nicht mehr arbeitsfähig gewesen. Er vermittelte damit den Eindruck, dass die Stasileute verschüchtert und eigentlich erstarrt in ihren Räumen gesessen hätten. War das so?

 

Dr. Walter Süß bekräftigte, dass auch seiner Meinung nach die Staatssicherheit  nicht mehr arbeitsfähig war. Erstens waren schon eine ganze Menge Entlassungen erfolgt. Zweitens war die Staatssicherheit ein gesamtstaatliches Organ und die Zentrale sollte steuern, was in den Regionen passiert ist. Doch da war von der Zentrale aus nichts mehr oder kaum mehr was zu steuern  Und dann darf man nicht vergessen, was ich in meinem Vortrag gesagt habe, hinsichtlich des Verlustes des Sinns ihrer beruflichen Existenz. Wobei es ja nicht nur die berufliche Existenz bei den Stasi-Mitarbeitern war, das war  bei sehr vielen ihre gesamte Iden­tität, die an ihrer Funktion als Kämpfer an der unsichtbaren Front und ähnliches oder als Tschekisten[34] hing. Und das war passee. Das war vollkommen klar, dass das passee war. Und insofern wären diese Mitarbeiter  nicht mehr zum Kampf bereit gewesen. Das zeigte sich  schon in der sehr verworrenen Situation am 4. Dezember – vor allem bei der Besetzung der Kreisdienststellen und  Bezirksverwaltungen, dass schon zu diesem Zeitpunkt, als  sie noch etwas besser handlungsfähig gewesen wären, weil sie  noch in den Regionen präsent waren. Schon zu jenem Zeitpunkt ist keiner bereit gewesen, sein Dienstobjekt tatsächlich unter Einsatz seiner kör­perlichen Gesundheit  zu verteidigen. Obwohl sie das nach ihren Dienstvorschriften eigentlich hätten machen sollen.

 

Christian Booß gab zu bedenken, dass die Demonstranten nicht wissen konnten, ob das MfS oder was von ihm noch übrig war, dermaßen angeschlagen war. Er glaube auch, aus den Gebäuden des Ministeriums sind die Waffen erst zwischen dem 11. und dem 13. Januar abtransportiert worden. Bis dahin stand die Zentrale unter Waffen. Und was mich auch noch einmal erstaunt hat: Erst am 12. Januar hat AfNS-Chef Engelhardt die Weisung herausgegeben, dass nicht mehr mit Quellen also mit Spitzeln, mit Agenten, gearbeitet wird. Bis dahin war das offiziell noch gedeckt. Und, soweit ich weiß, haben auch danach noch Treffen zwischen Offizieren und ihren Bezugspersonen in der einen oder anderen Form stattgefunden.

 

Christian Booß lenkte die Aufmerksamkeit noch auf einen anderen Punkt: Die Beteiligung der Geheimdienste. Sowohl die Frage der Stasi-Steuerung dieses Ereignisses, der Demonstration vom 15. Januar, der Erstürmung, also auch der Aktivitäten der „anderen Seite“ sind immer wieder Thema. Auf der erwähnten Diskussion vor zwei Tagen war das ausgiebig zu hören von den ehemaligen Stasi-Generälen und auch kleineren Chargen, die wittern und wähnen, es seien die westlichen Geheimdienste gewesen, die die tausenden von Demonstranten gesteuert hätten. Gibt es dazu, ich schränke das jetzt bewusst ein, wissenschaftliche Erkenntnisse, gesicherte Erkenntnisse?

 

Dr. Walter Süß versicherte, die Annahme, dass der so genannte Sturm auf die Stasi-Zentrale von irgendwelchen Geheimdiensten gesteuert war, halte er schlicht für Unsinn. Dafür gibt es keinen Beleg. Die andere Frage ist, dass dieser Sturm ja ein Stück weit vorhersehbar war. Er ist zwar aus einer chaotischen Situation in der Kommuni­kation zwischen innen und außen entstanden, aber – ich hatte das erwähnt – bei einer Dienstbesprechung am 12. Januar  in der Stasi-Zentrale ist bereits darüber diskutiert worden. Es ist durchaus korrekt wahrgenommen worden, was in dem Aufruf des Neuen Forums stand, dass es darum geht, die Zentrale von außen lahm zu legen, also die Tore zuzumachen, usw. usf. Aber die Überlegung war dann, dass gesagt worden ist, es ist ja gar nicht sicher, dass die Ordner vom Neuen Forum die Lage tatsächlich unter Kon­trolle behalten, und vielleicht kommt es ja doch zu Besetzungen. Und darauf hat man sich vorbereitet. Diese Überlegung in der Stasi-Zentrale ist, wenn man mitbe­kommen hat, was in den Bezirken passiert ist, außerordentlich naheliegend gewesen. Das heißt jetzt, für die Vertreter westlicher Geheimdienste, um darauf zurück zu kommen, die ja auch Zeitungen zu lesen pflegen, und denen solche Gedankengänge  auch nicht fremd sind, dass die sich vermutlich gedacht haben, es wäre an diesem Tag nicht schlecht, vor Ort zu sein, um gegebenenfalls die Situation zu nutzen. Das halte ich für nahe liegend, und es gibt auch Indizien, dass das im Einzelfall passiert ist. Aber es sind nur Indizien, die  nicht aus unserem Archiv stammen, sondern auf journalistischen Recherchen basieren, wo die Quellen nicht genannt werden, die aber ganz einleuchtend klingen.

 

Christian Booß meinte, da gäbe es noch Forschungsbedarf!

 

 


[1] Die Veranstaltung wird hier erstmals dokumentiert. Sie wurde am 15.1. 2055 von der BStU durchgeführt.

[2] Walter Süß ist auch Autor des Internetauftrittes auf der Homepage des BStU. Der Kalender der friedlichen Revolution, „Die Stasi im Jahr 1989“. http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/DDRGeschichte/Revolutionskalender/_node.html. Letzter Zugriff am: 02.12.2015.

[3] In einer aus Unzufriedenheit mit der Politik der SED entstandenen Fluchtwelle versuchten ab Sommer 1989 tausende über die Botschaften der Bundesrepublik in Polen, Ungarn und der CSSR in den Westen zu fliehen. Nachdem Ungarn faktisch die Grenzen geöffnet hatte, konnten sie ausreisen. Das hilflose Agieren der SED-Führung in der Flüchtlingsfrage heizte den Protest in der DDR mit an.

[4] Die Niederlage des Regimes in Leipzig war die Montagsdemonstration mit über 70.000 Teilnehmern am 9. Oktober 1989, die zum Kräftemessen mit den Sicherheitskräften der DDR wurde. Deren Rückzug fügte dem Regime die entscheidende Niederlage bei und gilt als Wendepunkt, dass die Revolution friedlich und erfolgreich blieb.

[5] Der Sturz Honeckers erfolgte am 17. Oktober 1989 mit dem einstimmigen Beschluss des Politbüros zur Absetzung Honeckers. Dieser votierte, wie es Brauch war, für seine eigene Absetzung. Erich Honecker war vom 3. Mai 1971 bis zum 18. Oktober 1989 als 1. Sekretär, dann Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED der mächtigste Politiker der DDR.

[6] Kreisdienststellen existierten in jeder Kreisstadt beziehungsweise kreisfreien Stadt der DDR, die von der übergeordneten Bezirksverwaltung kontrolliert und angeleitet wurden.

[7] Es gab seit 1952 in der DDR mit Ostberlin 15 Bezirke.

[8] Hans Modrow war während der friedlichen Revolution vom 13. November 1989 bis 12. April 1990 der letzte Vorsitzende des Ministerrates.

[9] Am 17. November 1989 wählte die Volkskammer der DDR einen neuen Ministerrat. Das MfS wurde tags drauf in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umbenannt.

[10] HV A bezeichnet die Hauptverwaltung Aufklärung des MfS, die Auslandsspionage der DDR.

[11] Die Normannenstraße war Sitz der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit.

[12] Heinz Engelhard war ehemaliger Generalmajor des MfS, zuletzt Leiter der Bezirksverwaltung Frankfurt/Oder.  Ende 1989 wurde er Leiter des aus dem MfS hervorgegangenen Amts für Nationale Sicherheit (AfNS) der DDR, das in einen Verfassungsschutz überführt werden sollte, was aber durch Bürgerproteste verhindert wurde.

 

[13] Günter Möller war Generalleutnant im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Leiter der Personalabteilung (Hauptabteilung Kader und Schulung).

[14] Auf der Veranstaltung von 2005 referierte dazu der stellvertretende Berliner Landesbeauftragte, Jens Schöne.

[15] Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999, S. 613ff

[16] Erich Mielke war ab 1957 Minister für Staatssicherheit der DDR und zuvor schon Staatssekretär bzw. stellvertretender Staatssekretär. Wegen eines Doppelmordes an Polizisten im Jahr 1934 wurde er zwar im Oktober 1993 zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Auf Grund anderer Vorwürfe aus DDR-Zeiten, u.a. der Mauertoten sollte er weiter angeklagt werden, wurde aber wegen Verhandlungsunfähigkeit verschont und 1995, im Alter von 88 Jahren, wegen Haftunfähigkeit auf Bewährung entlassen.

[17] Halbrock, Christian: Mielkes Reviers. Berlin 2010, S. 236.

[18] Schöne, Jens. "Erosion der Macht." Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin (2004), S. 36f

[19] Schöne, Jens. "Erosion der Macht." Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin (2004), S. 18

[20] Wolfgang Schwanitz, zuletzt im Rang einesGeneralleutnants des MfS, war von 1986 bis 1989 stellvertretender Minister für Staatssicherheit der DDR und wurde als Nachfolger von Erich Mielke am 18.11.1989 zum Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit der DDR, was aus dem MfS hervorging, berufen. Am 11.Januar 1990 wurde er durch die Volkskammer als Mitglied des Ministerrates abberufen und entlassen.

[21] Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999, S.540ff.

[22] Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999, S. 656ff.

[23] Schöne, Jens. "Erosion der Macht." Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin (2004), S. 38f.

[24] Bürgerkomitees bildeten sich spontan seit dem 4.Dezember 1989, um die gerade besetzten Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen des MfS zu kontrollieren. Zuletzt fand sich ein Bürgerkomitee in der Zentrale des MfS am Abend des 15.Januar 1990 zusammen.

[25] Der Autor hat als SFB-Journalist zusammen mit Roland Jahn zwischen Weihnachten und Neujahr 1989 selbst an einer solchen Begehung teilgenommen.

[26] Neubert, Erhart: Geschichte der Opposition in der DDR. Berlin 1997, S. 825ff

[27] So Wolfgang Ullmann von der Gruppe Demokratie Jetzt (DJ). Zit. nach Schöne, Jens. "Erosion der Macht." Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin (2004), S.37

[28] Jens Schöne auf der Veranstaltung am 15.1.2005

[29] Die AG Sicherheit war eine am 27.Dezember 1989 vom Zentralen Runden Tisch gebildete zivile Arbeitsgruppe, die die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit der DDR kontrollieren sollte.

[30] Schöne, Jens. "Erosion der Macht." Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin (2004), S. 46

[31] Zit nach Gill, David; Schröter, Ulrich: Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin 1991, S. 185

[32] Ablaufdokumentation der Auflösung des MfS, Objekt Normannenstraße ab 15.1.bis 22.1.1990. Schöne, Jens. "Erosion der Macht." Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin (2004), S: 101-102, hier S. 101

[33] Halbrock, Christian: Mielkes Reviers. Berlin 2010, S. 238f

[34] „Tschekist“ stellte einen innerhalb des MfS gebräuchlichen Begriff für hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter dar. Ein aus dem Russischen übertragenes Kunstwort.