Die verspätete Übernahme der Zentrale

Der sogenannte Sturm3 auf die Stasi-Zentrale fand rund eineinhalb Monate nach den Besetzungen und Begehungen der Bezirksverwaltungen des MfS in den Regionen ausserhalb Berlins (am 4., 5. bzw. 6. Dezember 1989) statt. Obwohl die Stasi ausserhalb Berlins weitgehend lahm gelegt war, blieb die Zentrale in der Berliner Normannenstraße Anfang 1990 weiterhin aktiv. Die Geheimdienstler hofften, sich in einen „Verfassungsschutz der DDR"1 und einen Auslandsnachrichtendienst umwandeln zu können.2

Die "verspätete" Übernahme des MfS-Hauptquartiers am 15. Januar hat verschiedene Ursachen:1.  Konnte sich die damalige Koalitionsregierung unter Leitung von Hans Modrow (SED) eine DDR ohne Geheimdienst lange nicht vorstellen. Sei es um den Stasi-Genossen mehr Zeit zum Schutz ihrer Geheimnisse einzuräumen; sei es um staatliche Souveränität zu demonstrieren oder sei es aus - teils vorgeschobenen - Sicherheitsgründen.

Die Modrow-Regierung präsentierte daher nacheinander verschiedene Reformmodelle für das MfS, zeigte sich aber gegenüber den Bürger- und Oppositionsforderungen zugleich auch kompromissbereit und flexibel.

Film Hans Modrow, damals Regierungschef (SED/PDS)

2. War die Hauptstadt der DDR durch eine privilegierte und optimierte Versorgungslage, die offene Grenze zu Westberlin und eine hohe Zahl regierungs- und geheimdienstzugehöriger SED-Genossen geprägt. Noch am Vortag des 15. Januar hatten ca. 300.000 Personen an der traditionellen SED-Kundgebung zur Erinnerung an die Ermordung der KPD-Gründer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg teilgenommen.4 Kurz zuvor hatten nahezu ebenso viele gegen den angeblich erstarkenden Rechtsextremismus demonstriert.Insgesamt waren die Ostberliner Oppositionellen und Bürger zu jener Zeit weniger aktionsorientiert als z.B. die Bürger in Sachsen. Die DDR-Hauptstadt galt in den Bezirken aus Sicht vieler Aktiver als „demonstrationsfaul.“5 .

3. Konzentrierten sich die Spitzen der Oppositionskräfte zwar in Ostberlin, sie waren jedoch hauptsächlich mit der Gründung und dem Ausbau von politischen Gruppierungen und Parteien. Ab Dezember 1989 ging es um die Teilnahme am Zentralen Runden Tisch (ZRT) - dem Gremium, das Kompromisse zwischen den alten und den neuen Kräften anstrebte. Ihnen ging es darum, wie Wolfgang Ullmann („Demokratie Jetzt“) erinnerte, die Arbeit des DDR-Geheimdienstes durch einen politischen Prozess zu beenden, weniger durch Aktionen.6 Oppositionspolitiker wie er beschränkten sich daher darauf, einzelne Stasi-Objekte zu begehen.Die Bürgervertreter in der DDR waren sich zudem zunächst uneinig, ob sie Geheimdienste generell abschaffen oder ob sie einen reformierten Geheimdienst nach rechtlichen Vorgaben und unter Kontrolle eines demokratisch gewählten Parlamentes befürworten sollten. 

4. Hatten auch die Stasi-Strategen, die inzwischen in der MfS-Zentrale das Sagen hatten, bereits einige Erfahrungen mit Bürgerprotesten, Kontrollgruppen und Bürgerkomitees unter den neuen politischen Bedingungen sammeln können. Sie zeigten sich im Vergleich zum verkrusteten Geheimdienstapparat des früheren Stasi-Chefs Erich Mielke erstaunlich lernfähig und flexibel, um möglichst ihre eigenen Zielen durchsetzen zu können.8 Ihnen ging es zum Zeitpunkt der Jahreswende 1989/90 vor allem darum, Teile des Apparates, seiner Mitarbeiter und seines Insiderwissens zu retten und dessen Geheimnisse und Quellen zu schützen. Die Tatsache, dass sie zusammen mit Regierung, Polizei und Staatsanwaltschaft in den Dialog mit Bürgervertretern eingestiegen waren, hatte manchen Protesten die Spitze genommen. In Berlin war man mit dieser Taktik im Dezember besonders erfolgreich gewesen. Dort löste das MfS/AfNS die Bezirksverwaltung und die Kreisdienststellen seit Dezember 1989 selber auf. Bei der Auflösung der Berliner Bezirksverwaltung wurde auch ein mit Bürgervertretern besetzter Kontrollausschuss einbezogen.

Zum Umgang mit Bürgern, die die Stasi-Gebäude bedrängten, dort eindrangen oder zu Begehungen eingeladen wurden, hatte das MfS/AfNS diverse Strategien entwickelt, um diese zu beschwichtigen oder gar zu täuschen. Mit derartigen Taktiken, hatte man auch in der Berliner Zentrale Bürgervertreter über Wochen abspeisen können.

MfS/AfNS Argumentationsbroschüre „Fakten und Argumente“9 l

5. In der Stasi-Frage war das Vorgehen der Berliner Systemopposition entschieden zögerlicher als das der Bürger außerhalb der Hauptstadt. Inzwischen drohten bereits Protestdemonstrationen und Warnstreiks und die Bürgerkomitees, die die Bezirksämter des MfS/AfNS weitgehend lahmgelegt hatten, wollten die ungestörte Weiterarbeit der Berliner Stasi-Zentrale nicht länger hinnehmen.

Aktionen vor dem 15. Januar und ihre Abwehr durch die Stasi

Vor dem 15. Januar 1990 war es vor den Toren der MfS-Zentrale nur zu kleineren Kundgebungen gekommen. Geschickt kanalisierte die Führung des MfS/AfNS diese Proteste und lud mehrere Bürgergruppen zum Rundgang über das Stasi-Gelände in der Normannenstraße.

Scan 2: "Das Bleigewicht an den Füßen" Bericht von Klaus Dieter Lydike über die Begehung der Stasi-Zentrale am 6.  und 7. 12. 1989 in "Gerbergasse 18" von 2000. Link in Arbeit.

Gespräche zwischen MfS/AfNS- und Bürgervertretern wurde nicht selten in Anwesenheit der Presse und des Fernsehen inszeniert. So berichtete die Berliner Zeitung über den Besuch von Bürgerrechtlern in der Stasi-Zentrale am 6. 12. 1989. Der Artikel basierte auf einer Meldung der regierungseigenen Nachrichtenagentur ADN und erweckte den Eindruck, in der Zentrale sei alles unter Kontrolle. Ein ähnliches Bild vermittelte der Fernsehbericht in der DDR-Jugendsendung "Elf99". 

Scan 1: "Ein Rundgang..." Berliner Zeitung. 7.12.1989. Link in Arbeit

Video: "Sesam öffne Dich“ von Elf997 Sendung des DDR-Fernsehens vom 7. 12. 1989: (Link)

Zu diesen Berichten gesellten sich weitere über die "von oben" inszenierte Auflösung der Berliner Bezirksverwaltung. Dass damit nur ein Teil der Berliner Geheimpolizeistruktur im Blick von Bürger-Kontrolleuren war, blieb Lesern und Zuschauern dieser Beiträge oft verborgen. Diese Medienberichterstattung war derart wirkungsvoll, vielleicht sogar bewußt manipulativ, dass selbst die Bürgerkomitees in den Bezirksstädten der DDR erst Anfang Januar realisierten, dass die ehemalige Stasi-Zenrale weitgehend unbehelligt weiter arbeitete.

Zu dieser Strategie der neuen Staatssicherheitsführung gehörte eine offensive Öffentlichkeitsarbeit. So trat der neue Pressesprecher Stefan Roahl im November vor die Medien, um ihnen die Aufgaben des umgebildeten MfS, des Amtes für Nationale Sicherheit zu erläutern. Im Vordergrund standen angebliche aktuelle Bedrohungen, denen die DDR weiterhin ausgesetzt war, was die Weiterexistenz von Geheimdiensten erforderlich mache. V.a. die Spionage-Aktivitäten. Im Anschluss eine Presseschau zur Pressekonferenz des AfNS.

Audio Stefan Rohal, Pressesprecher des MdS/AfNS  im DDR-Rundfunk, BStU

Anmerkungen:

1 Titel. Plan zu Bildung eines Verfassungsschutzes. oD. (vermutlich Dezember 1989. BStU, MfS, BCD 40320, Bl. 1-9

Dieser Plan, der in der Führung des MfS/AfNS entstanden sein dürfte, umreißt ab Bl. 1 die Aufgaben des Stellvertreters des Amtsleiters, ab Bl. 5 des eigentlichen Verfassungsschutzes. Ab Bl. 8 gibt es verschiedene Organigramme

2 Zur Allgemeinen Geschichte des Ablaufs. Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999; Richter, Michael. Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR. Weimar, Böhlau u.a. 1996; Worst, Anne: Das Ende eines Geheimdienstes, Berlin; Kowalczuk, Ilko-Sascha. Das Endspiel, Berlin 2009

3“Sturm auf die Stasi“. Ist beispielsweise der Titel eines DDR-Dokudramas von 2010.

4Lagezentrum. Lagebericht 15. 1.1990. BArch DC 20/

5 Reinhard Schult, am 15. 1. 2005 auf einer Veranstaltung des BStU. www.buergerkomitee1501berlin.de/der-15-januar-1990-die-hintergruende/die-vorgeschichte-der-demonstration/ (Zugriff am 18.8.2018)

6 Schöne, Jens: Die Erosion der Macht, Berlin 2004, S.37

7 Elf 99. Sesam öffne dich. 7.12.1989. Sendung des DDR-Fernsehens vom 7.12.1989. Archiv: DRA 038062

Die DDR-Jugendsendung 11 99 war modern gemacht, in der Hoffnung Jugendliche ansprechen zu können. Sie war, wie sich später herausstellte von vielen IM durchsetzt. Der Beitrag erweckt den Eindruck, als ob die Berliner Zentrale des MfS/AfNS unter Bürgerkontrolle stehe. Selbst Bürgerkomitee-Mitglieder, die in den Bezirksstädten die Stasi-Auflösung kontrollierten, wurden dadurch lange getäuscht. Erst spät erkannten sie, dass die Berliner Zentrale weitgehend unbehelligt weiter arbeitete.

8 Einer der größten Coups in der Übergangszeit 1989/90 dürfte die Vernichtung der Agentendatei der Auslandsspionage sein, die später unter dem Stichwort „Rosenholz“-Datei Furore machen sollte.

9 AfNS. Fakten und Argumente 4/89. O.D. (Ende 1989). BStU, MfS, BdL 2394, Bl. 1-49

Das Heftchen Fakten und Argumente wurde im Herbst 1989 im MfS zusammengestellt, um sich gegenüber den Bürgeranfragen und Bürgervorwürfen rechtfertigen zu können