Kontroverse um die Aktenvernichtung

Über die Frage des Umganges mit den Stasi-Unterlagen begann bald nach der Lahmlegung des MfS/AfNS eine heftige Kontroverse unter den Bürgerkomitees.

Am radikalsten verfocht ein Teil der Schweriner Stasi-Auflöser die Position, bestimmte Akten unwiederbringlich zu zerstören. Es waren v.a. Mitglieder der AG Staat und Recht, später auch AG Sicherheit, des Neuen Forum Schwerin, die sich um die Auflösung der Bezirksverwaltung am Demmlerplatz kümmerten, die solche Thesen schon seit der Jahreswende vertraten. Sie forderten z.B. die „sofortige Vernichtung der Verzeichnisse sogenannter Patrioten (IM), “1 Allein diese Formulierung, Informanten der Geheimpolizei als „Patrioten“ zu bezeichnen, lässt den Verdacht aufkommen, dass sich die Arbeitsgruppe von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern zumindest beraten ließ. Auch hatte die Arbeitsgruppe offenbar Spezialkenntnisse über die Akten und Findmittel, die auf MfS-Expertenwissen schließen ließen.

Foto: Zusammengetragene Akten im Archiv des MfS in Berlin.  Mehr... Film

 

Am 13. Februar legte das Neue Forum Schwerin ein Grundsatzpapier vor, dass sich systematisch mit den Stasiunterlagen auseinandersetzte und DDR-weit zur Grundlage für Debatten werden sollte.

Demnach empfahl die AG ein differenziertes Umgehen, wonach ein Teil der Akten zur Aufhellung Stasi-Geschichte erhalten, ein Teil schwerer zugriffsfähig und ein Teil sofort vernichtet werden sollte.

Als erhaltenswert wurden eingestuft:

-Weisungen, Befehle, Stabs- und Führungsunterlagen zur Klärung von Verantwortlichkeiten

-Gerichts- und Handakten, um Rehabilitierungen zu ermöglichen

Angesichts der aktuellen Diskussion über die Deutsche Einheit, sogar die SED-Regierung Modrow hatte ich Anfang Februar grundsätzlich zu ihr bekannt, wurde empfohlen, den MfS-Bestand radikal zu verkleinern: „ Die Sicherheit des Material vor unbefugtem Zugriff insbesondere durch Bundesdeutsche Geheimdienste ist künftig nicht mehr zu gewährleisten! Deshalb halten wir es für erforderlich den Informationsbestand des ehemaligen MfS zu reduzieren.“

Neues Forum Schwerin. Zum weiteren Umgang mit den Stasi-Akten. Schwerin 13.2.1990, Bl.2. RHG BK 10 alt, 28 neu. 

Behauptet wurde, dass die Dossiers und Akten, die mit konspirativen Mitteln erarbeitet wurden, und das Spitzel-Material „keine Erkenntnisse“ über das andere Material hinaus beinhalten würden. Deshalb wurde empfohlen diese „gezielt zu reduzieren“.

Ganz konkret wurde die „physische Vernichtung aller elektronischen Speichermedien“ gefordert, da dieser einen „schnellen, gezielten“ Zugriff“ zu den Personeninformationen ermögliche. Gerade auf die Zerstörung von Findmitteln zielte dieses Papier ab. In einer riesigen Papierdokumentation wie der Überlieferung des MfS waren Unterlagen ohne Findmittel wie Karteien und elektronische Suchmittel aber kaum auffindbar.

Dieses Positionen, insbesondere zur Vernichtung der elektronischen Datenträger wurde schon am 12. 2. 1990 am Zentralen Runden Tisch eingebracht, war aber vorher schon in der AG Recht des ZRT diskutiert und befürwortet worden.

ZRT. Protokoll 12. 2. 1990. BArch-Digitalisat: Link in Arbeit

Schon am 15. 2. 1990 wurde das Schweriner Papier zum offiziellen Dokument der, Kontrollkommission zur Auflösung des MfS/AfNS in Schwerin. Dieses war die Kommission, in der Staatsvertreter mit Bürgern zusammen arbeiteten. Unterzeichnet hatte nicht nur der Vertreter des Neuen Forum, Thomas Schmidt, sondern auch der entsandte Regierungsbeauftragte Manfred Goldmann. Da die Regierungsbeauftragte sich eng mit dem Büro des Ministerpräsidenten Hans Modrow abstimmten, erhielt diese Position daher geradezu amtliche Weihen. Man kann davon ausgehen, dass dieser später so genannte „Drei Stufenplan“ damit Regierungspolitik wurde.

Dreistufenplan. 15.2.1990., Bl. 2, Bl. 3. RHG

Der „Drei Stufenplan“ vom 15.2 1990 folgte, teilweise wörtlich den bekannten Vorschlägen des Neuen Forum: In Stufe 1 sollten die elektronischen Datenträger vernichtet werden; in Stufe 2 die meisten Findmittel, etwas verschleiernd „Verzweigungen der Personendaten“ genannt; In Stufe 3 sollte die „vollständige Vernichtung des personengebundenen Materials“2 erfolgten.

Gegenüber der NF-Vorlage wurde die Gefahr des unbefugten Zugriffs westlicher Geheimdienste nach der Deutschen Einheit noch einmal dramatisch zugespitzt: „die Sicherheit unserer Bürger [ist] gefährdet, ehemalige Spitzel einerseits durch Offenlegung bedroht, aber andererseits […] erpresserisch reaktiviert werden können.“

Zum weiteren Umgang mit den Unterlagen des ehemaligen MfS. Schwerin 15.2.1990. Bl. 2, Bl. 3. RHG, BK alt 10 neu 28. 

Diese Positionen sollten für den weiteren Verlauf der Diskussionen um die Stasi-Akten Bedeutung erlangen. Erst in Schwerin, dann unter den Bürgerkomitee, dann am Zentralen Runden Tisch, in der DDR-Regierung und schließlich in den Verhandlungen zur Deutschen Einheit. Selbst in den Experten und Abgeordnetendiskussionen des Deutschen Bundestages von 1991 zum Stasi-Unterlagen-Gesetz lassen sich Spuren dieser Debatte finden.

Am „erfolgreichsten“ waren die Schweriner mit ihren Vorstellungen bei der Vernichtung der elektronischen Datenträger des MfS: Link in Arbeit 

Es gab allerdings auch schon von Anfang an Widerspruch. Zunächst innerhalb der Schweriner Stasi-Auflöser. Dann von einem Treffen der Bürgerkomitees der Nordbezirke einschließlich Potsdam und Magdeburg am 25. 12.1989. Später haben sich die Bürgervertreter in Rostock, Magdeburg, Halle, Leipzig gegen derartige Unterlagenvernichtungen ausgesprochen.3

Eines der frühesten Positionspapiere, das sich explizit gegen die Schweriner Position richtet, ist das des Unabhängigen Untersuchungsausschusses Rostock

UUA. Standpunkt zum weiteren Umgang mit den Unterlagen des ehemaligen MfS/AfNS.1.3.1990, Bl. 2, Bl. 3, Bl. 4. RHG, BK alt 10 neu 28. 

Die Rostocker Bürgervertreter hielten die Akten für hinreichend gesichert, nachdem die Regierung Modrow sie mit Beschluss vom 8. Februar 1990 in die Obhut der Staatsarchivare des Ministeriums für Innere Angelegenheiten (MfIA) gegeben habe.

Der Rostocker Untersuchungsausschuss wendet sich vor allem gegen die Auffassung, dass die Arbeitsweise des MfS nur mit Grundsatzdokumenten aufgeklärt und die konspirativ erarbeiteten Dokumente dafür unnötig seien. Eine Vernichtung von IM-Unterlagen würde z.B. bedeuten, dass die „Aufarbeitung der Arbeitsweisen und Arbeitsinhalte des MfS nicht mehr möglich wären.“

Wie auch die Schweriner betonen die Rostocker die Notwenigkeit der Akten für die Rehabilitierung, stärker betonen sie die Klärung eventueller strafrechtlicher Verstrickungen und die betonen stärker die Notwendigkeit einer differenzierten Aufarbeitung. Es ist ist eines der Dokumente, in denen der Begriff „Aufarbeitung“, der später zu einem Schlüsselbegriff werden sollte, genannt ist. Die Frage eventueller Aktenvernichtungen sollte nach Auffassung der Rostocker zusammen im Einvernehmen mit den Bürgerkomitees auf gesetzlicher Basis erst dann erfolgen, wenn verwaltungsrechtliche Einsprüche gegen Aktenvernichtungen möglich seien.

Wie gemäßigt Anfang März auch diejenigen noch waren, die für die Aktenbewahrung plädierten zeigt sich, dass auch die Rostocker noch Anfang März 1990 nicht für eine Öffnung der Akten plädieren, sondern sich im Gegenteil auf den Personendatenschutz bezogen. Die Überprüfung von Personen auf Stasi-Tätigkeit war Anfang 1990 noch nicht auf der Tagesordnung.

Das Thema Aktenöffnung und Stasi-Überprüfung sollte erst im Laufe des März durch erste Aktenenthüllungen neue Dynamik erhalten. Beschleunigend wirkte vor allem der Fall des konservativen Spitzenkandidaten Wolfgang Schnur. Der ehemaligen Kirchen-Rechtsanwalt wurde im März 1990, ironischer Weise durch Akten aus Rostock.

Der Fall Schnur und die Stasi-Überprüfung. Mehr...

Foto. Wolfgang Schnur im März 1990. Nach den Enthüllungen bekam er einen Nervenzusammenbruch und ging ins Krankenhaus. Hier stritt er zunächst alles ab, trat dann aber auf Druck der CDU-West zurück.

Die Schweriner Aktenvernichtungskonzepte ähnelten Konzepten, die von Stasi-Strategen noch um Dezember 1989 um die Jahreswende 1989/90 erdacht worden waren. Damals war es nicht mehr möglich, Akten zu verstören, ohne Proteste in der Bevölkerung hervorzurufen. Auch die Regierung Modrow deckte, wilde Aktenzerstörungen offiziell nicht mehr.Dennoch blieb es ein oberstes Ziel der ehemaligen Stasiverantwortlichen wichtige Teile ihres Wissens und vor allem die „Quellen“, das heißt die inoffiziellen Mitarbeiter bzw. Agenten zu schützen. Daher sollten diese möglichst vernichtet werden.

In manchen dieser Konzeptionen ging man noch davon aus, dass der Geheimpolizeiapparat in Form eines Verfassungsschutzes weitergeführt werden solle. Daher gehen manche Vorschläge davon aus, Informationen, die für die Bekämpfung von Terrorismus, Extremismus, und vermeintlichen verfassungsfeindlichen Bestrebungen wichtig seien, von anderen zu trennen und für das Amt zu bewahren.

Film Heinz Engelhardt, letzter Geheimpolizei-Chef der DDR in Arbeit

Es wurden in der Geheimdienstführung zwei Varianten durchgespielt. Nach Variante 1 sollte verfängliche Unterlagen mit Konsens mit anderen vernichtet werden. Zum zweiten dachte man daran, die Akten in einem geheimen Staatsarchiv mit einer langen Sperrfrist von 50 Jahren wegzusperren.

Zunächst wurde der Konsens mit der Regierung über Staatssekretär Halbritter gesucht. Auch die Militärstaatsanwaltschaft sollte eingebunden werden. Wie sich am Beispiel der Auflösung der Bezirksverwaltungen zeigte, suchte man auch bald bei den Bürgervertretern Bündnispartner, um eine Zustimmung zu Aktenvernichtungen zu erzielen. Hier wurde damit argumentiert, dass viele Akten rechtswidrig erhoben worden waren. Dadurch wurden Argumente der Bürgerrechtsbewegung scheinbar aufgenommen. Zum zweiten wurde behauptet, bestimmte Unterlagen hätten keinen historischen Wert oder seien in anderer Form als Duplikat vorhanden. Immer wieder wurde der Vorschlag vorgebracht, das Schriftgut zu inoffiziellen Mitarbeitern zu zerstören. Sonst drohe „Mord und Terror“ und die „gewaltfreie Umgestaltung [...] könnte dadurch ernsthaft gefährdet werden“. Das Thema 'Mord und Totschlag' sollte in den folgenden Wochen und Monaten zum Totschlagargument aller Gegner der Aktenöffnung werden.

Auch die Vernichtung zumindest von Teilen der IT-gestützten Daten kam schon im Dezember auf. Erhaltenswerte Daten sollten selektiert, die übrigen gelöscht werden. Andere Vorschläge zielten vor allem auf die Findmittel, hier Informationsflusskarteien genannt. Da diese selbst viele Informationen enthielten und bei der Suche nach Akten unentbehrlich waren, wären im Fall der kompletten Zerstörung große Informationsverluste aufgetreten.

Alle diese Vorschläge tauchen teilweise modifiziert, teilweise fast wörtlich in den Schweriner Positionspapieren wieder auf. Auf verschlungenen, bis heute nicht geklärten Wegen war es der MfS-Führung offenbar gelungen, ihre Interessen und Argumente in die Bürgerbewegungen und die öffentliche Debatte einzuspeisen.

Verfassungsschutz der DDR, Engelhardt. Schreiben an Staatssekretär Halbritter. 20.12.2020, Bl. 2, Bl. 3. RHG, BK 9 alt. 

Vorstellung zur Behandlung des in den ehemaligen Abteilungen XII der Bezirkskämter für Nationale Sicherheit lagernden Kartei- und Archivbestände, BStU, MfS, XII 7582

Vorlage für Generalmajor Niebling. Vorschlag zur kontrollierten Bereinigung des Aktenbestandes. 13.12.1989. BStU, MfS, XII 7582

Vorschlag zum weiteren Umgang mit Archivgut und dienstlichem Schriftgut des ehemaligen MfS/AfNS. 8.1.1990, Bl. 2, Bl. 3, Bl. 4, Bl. 5. RHG, BK, alt 8.