Die Vernichtung der elektronischen Datenträger

Einer der bis heute umstrittendsten Punkte der Stasi-Auflösung ist die fast vollständige Vernichtung der elektronischen Datenträger der Stasi. Sie erfolgte unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen mit Billigung des Zentralen Runden Tisches, seiner Arbeitsgruppen und mehrerer Bürgerkomitees, u.a. des Bürgerkomitees Normannenstraße in Ostberlin. (Im Sommer 2020 mehr in: Booß, Christian: Vom Scheitern der kybernetischen Utopie. ZU Informationsverarbeitung der Staatssicherheit. Göttingen 2020)

Foto: Die Stasi verarbeitete Daten teilweise mit Großrechnern der Firma Siemens, die illegal beschafft wurden. 

 

Eineinhalb Monate nach der Besetzung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in Ostberlin vom 15. Januar 1990 ging man daran, alle elektronischen Datenträger endgültig zu zerstören.

Die Initiative dazu kam scheinbar aus Kreisen der Bürgerkomitees selbst. Ein Papier aus dem Neuen Forum Schwerin mahnte Aktenvernichtungen an, um den Schutz von „Patrioten“,1 Stasi-Agenten zu gewährleisten, was schon rein sprachlich auf MfS-Einflüsse schließen lässt. In Schwerin formulierte eine Arbeitsgruppe vom Neuen Forum die Grundposition, die zur Vernichtugn der elektronischen Datenträger führen sollte.Diese Schweriner Position ähnelte auch auffällig Vorschlägen zum Umgang mit den Akten, wie sie in der  Führung des MfS/AfNS um die jahreswende 1989/90 erdacht hatte, als wilde Aktenzerstörungen nicht mehr möglich waren. 

Neues Forum Schwerin. Zum weiteren Umgang mit den Stasi-Akten. Schwerin 13.2.1990, Bl.2. RHG BK 10 alt, 28 neu.  

Die Arbeitsgruppe Recht des Runden Tisches, die eigentlich für die Stasiauflösung gar nicht zuständig war, übernahm die Schweriner Position. In den Arbeitsgruppen des Runden Tisches waren wie im Plenum alle Parteien und Gruppierungen, also auch Vertreter des alten SED-Staates vertreten. Gerade Vertreter der ehemaligen Blockparteien traten in den AGs konsequent für die Vernichtung personenbezogener Daten ein.

Das Thema Vernichtung von personenbezogenen Stasi-Unterlagen bekam vor allem Dynamik, nachdem Ministerpräsident Hans Modrow selbst Anfang Februar mit dem Satz „Deutschland einig Vaterland“ die Weichen Richtung Deutsche Einheit gestellt hatte. Offenbar nahm dadurch die Angst in politischen Kreisen zu, dass bundesdeutsche Stellen Zugriff auf Stasi-Unterlagen bekommen könnten.

Foto: Brisant waren auch die Daten der Funkaufklärung über Telefonate und Funkverbindungen im Westen. Auch Politiker waren abgehört worden.

Vor allem eine Vertreterin des FDGB versuchte am 12. Februar am Runden Tisch die Vernichtung von Stasi-Akten durchzudrücken. Ein Vertreter des Schweriner Komitees erhielt Rederecht. Er forderte die „sofortige physische Vernichtung aller elektronischen Speichermedien, insbesondere der zentralen Personendatenbank und der Extraspeicher in der Hauptabteilung XIII“.2 Er begründete dies vor allem mit der Gefahr, dass nach der deutschen Einheit bundesrepublikanische Geheimdienste auf die Daten zugreifen könnten. Widerspruch kam aus Kreisen von Bürgerrechtsgruppen. Sie fühlten sich von dem Antrag überfahren und warnten vor Kompetenzüberschreitungen.

Protokoll des ZRT. 12.2.1990, BArch-Digitalisat

Als Kompromiss wurde in der Sitzung vom 12. Februar festgehalten, dass der Runde Tisch zu der Auffassung „keine Vernichtung der Akten, sondern Sicherstellung, Versiegelung“3 tendiere. Die Angelegenheit wurde vertagt. Jetzt sollte die AG Sicherheit zumindest einbezogen werden.

Auch bei den Bürgerkomitees wurde Rat geholt. Das Bürgerkomitee Normannenstraße war faktisch überfordert, schnell eine kompetente Empfehlung abzugeben. Es war erst dabei sich einen Überblick über die Hinterlassenschaft des MfS in Papierform zu verschaffen und hatte bislang nur einen Grobüberblick über die EDV. Erst am 5. März wollte man sich überhaupt das erste Mal die zentrale Personendatenbank des MfS in der Praxis vorführen lassen.4 Sowohl das Berliner Bürgerkomitee wie auch die AG Sicherheit stützte sich stark auf Angaben von ehemaligen MfS-Mitarbeitern. Diese behaupteten, dass auf Grund der Sicherheitsphilosophie des MfS alle Informationen ohnehin noch einmal in Papierform vorhanden seien.5 Dies war nur die halbe Wahrheit. Denn dort wo Papierakten vernichtet waren, waren nun die EDV-Duplikate an der Reihe. Außerdem konnten die Datenbanken z.T. auf Knopfdruck ganze Datenprofile von Personen liefern, nicht nur Einzelinformationen.

Obwohl die meisten Fragen offen waren, entschied der Runde Tisch schon am 19. Februar auf Basis einer gemeinsamen Beschlussvorlage der AG Recht und der AG Sicherheit, die Vernichtung. Die Vorlage entsprach weitgehend der, der Sitzung eine Woche zuvor.

Protokoll des Zentalen Runden Tisches. 19.2.1990. BArch-Digitalisat

Vorlage für den Regierungsbeschluss zur Vernichtung der elektronischen Datenträger. 21.2.1990, RHG, GP 43 

und Antrag der AG S zur Vernichtung der elektronischen Datenträger. 18.2.1990, RHG, GP 43

Nachdem die Regierung faktisch den Beschluss des ZRT übernommen hatten sollten die Datenträger innerhalb von 16 Tagen aufgelistet und physisch vernichtet werden, inklusive der elektronisch gespeicherten Programme. Argumentiert wurde mit der „verfassungswidrige[n] Verletzung von Bürgerrechten“.6

Die Zerstörung der elektronischen Daten begann spektakulär Anfang März vor der Kamera des ARD-Fernsehmagazins „Kontraste“. Kurioserweise fiel dabei aber offenbar keinem auf, dass weniger Datenträger vernichtet wurden, als im Inventar aufgezeichnet. Gegenüber nur 5267 vernichteten Disketten waren 6447, also 1180, mehr inventarisiert worden.7 Ähnliche Diskrepanzen gab es überall. So z.B. auch in der HA III, die Telefonate in der Bundesrepublik überwacht hatte.

Film David Gill, damals Sprecher des Bürgerkomitees Normannenstraße in Arbeit

Ohnehin war die Datenbasis ungenau. Ältere Aufstellungen gab es nicht. Die Bürger-Kontrolleure waren ganz auf Aufstellungen der Stasi-Mitarbeiter angewiesen. Oft wurden nur eidesstattliche Versicherungen abgegeben. Mancherorts waren die Bürgervertreter bei der Vernichtung gar nicht präsent, manchmal fanden sie noch Wochen später Datenträger, die der Vernichtung entgangen waren.

Um ganz sicher zu gehen, hatte man beschlossen, die Datenträger physisch, d.h. durch Schreddern, Entmagnetisieren oder mit der Hammermethode unbrauchbar zu machen. Der Vorschlag des Bürgerkomitees Normannenstraße, vorsichtshalber vorab Papierkopien „auszudrucken“8 , war ein vergebliches Bemühen.

Die Vernichtung der elektronischen Datenträger erweist sich aus heutiger Sicht mehrfach problematisch. Unser MfS-Bild ist altmodischer als die Stasi selbst und beruht im Wesentlichen auf der Arbeitsweise bis Ende der 1970er Jahre. Es fehlen Daten zu denen es keine Duplikate gibt. Das gilt auch für Kompromate gegenüber Westpolitikern, die damit verschwanden, aber in den Köpfen der Stasi-Leute noch vorhanden und potentiell nutzbar waren.

1 Klähn, Martin: Die Auflösung. Das Ende Der Staatssicherheit in den drei Nordbezirken, Schwerin 2010, S. 71.

2 Klaus Behnke auf der 12. Sitzung des Runden Tisches am 12.2.1990, Thaysen, Uwe: Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Wiesbaden 2000, Bd. III, S. 752.

3 Moderator Martin Ziegler auf der 12. Sitzung des Runden Tisches am 12.2.1990, Thaysen, Uwe: Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Wiesbaden 2000, Bd. III, S. 754

4 Protokoll der Sitzung der AG-Leiter des Bürgerkomitees Berlin. 5.3.1990. Bürgerkomitee Berlin.

5 Dankwart Brinksmeier, SDP von der AG Sicherheit. Thaysen, Uwe: Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Wiesbaden 2000, Bd. III, S. 873.

6 Thaysen, Uwe: Der Zentrale Runde Tisch der DDR.: Wortprotokoll und Dokumente, Wiesbaden 2000, Bd III, S. 872.

7 Komitee zur Auflösung des MfS. Abschlussbericht zur Vernichtung der magnetischen Datenträger zu personengebundenen EDV-Projekten des ehemaligen AfNS. 19.3.1990. BArch. DO 104/14 Bl. 886-992

8 Festlegungsprotokoll der AG-Sicherheit. 20.2.1990. Bestand Bürgerkomitee Berlin.