Alles Manipulation? Kontroversen

 

Angesichts des vergleichsweise leichten Sieges über den DDR-Überwachungsapparat wurde schon am Abend des 15. Januar gemutmaßt, das Ereignis könne von den Stasistrategen selbst inszeniert gewesen sein. So dokumentiert im  Ablaufprotokoll und der Zeugenaussage eines Demoorganisatoren zum 15. Januar:

Dokument. Ablaufprotokoll, Bl.2, Büko1501 

Zeugenaussage des Demonstranten Harry Haufe vor der Kriminalpolizei. 2.2.1990, Bl 2, Bl. 3, 

Zu rätselhaft einfach öffnete sich das schwere Stahltor in der Lichtenberger Ruschestraße für die Demonstranten, das hell erleuchtete Versorgungsgebäude lockte die Protestierenden an, während weitaus wichtigere Räumlichkeiten scheinbar unbeachtet blieben. Und Vandalismus-Schäden sollen bereits eingetreten sein, bevor die Demonstranten eindrangen.1

Daher wird gelegentlich auch heute die These vertreten, manche Besetzungen seien von der Stasi selbst inszeniert worden. Ein Beispiel ist die Bezirksverwaltung Gera, wo die Initiative anfangs von Stasi-Leuten ausging.

Film Michael Beleites, damals Stasi-Auflöser in Gera. Mehr...

Manche meinen auch der 15. Januar in der Berliner Zentrale sei "eine von der Staatssicherheit selbst inszenierte Aktion zur Legendierung der weiteren Aktenvernichtung gewesen".2 Mit der Besetzung habe die Stasi radikalere Auflösungspläne - wie sie am Zentralen Runden Tisch verabschiedet werden sollten - unterlaufen, um hinter den Kulissen das Heft in der Hand zu behalten. Es wird sogar behauptet, der 15. Januar sei deswegen ein „Erfolg“3 für die Stasi gewesen. atsächlich konnten auch danach noch zahlreiche Akten vernichtet werden.

Gerüchte, dass die Stasi beim sogenannten Sturm auf die Stasi-Zentrale ihre Finger mit im Spiel hatte, gab es schonam 15. Januar 1990 selbst, wie sich zwei Mitglieder der Opposition am Runden Tisch, die vor Ort waren, erinnern..

Film Carlo Jordan und Wolfgang Templin, damals vor Ort

Auch die Geschichte der Auflösung der Berliner Bezirksverwaltung befördert Spekulationen, ob nicht in Wirklichkeit die Stasi selbst die Fäden zog. Dort war die Initiative zur Auflösung vom Staat aus. Die Bürger wurden eingeladen, der Auflösung beizuwohnen, Mehr...

Die Tendenz, die "Besetzungen" der Staatssicherheits-Gebäude nicht mehr als Ergebnis von Bürgermut darzustellen, sondern sie für Inszenierungen zu halten, hat ihre Wurzeln nicht nur im veränderten Zeitgeist. Nahrung erhielt diese These auch durch Äußerungen früherer Spitzenfunktionäre, Modrow habe die Stasi im Dezember 1989 bewusst geopfert, um ihr die Verantwortung für die SED-Misere in die Schuhe zu schieben.

Angeblich habe er damals die Devise ausgegeben "Wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige".4 Modrow und andere haben dies jedoch stets bestritten. Ehemalige Stasi-Generäle halten dagegen:

Film Die Kontroverse I

Hans Modrow, damals Ministerpräsident und Heinz Engelhard, damals sein Geheimdienstchef

Damalige Oppositionelle sehen heute, dass Modrow sie geschickt einbinden wollte.

Film Carlo Jordan und Wolfgang Termplin, damals für die Opposition am Runden Tisch.

 

 

 

Dass Modrow die Stasi tatsächlich gezielt opferte, schon deshalb nicht plausibel, da er den DDR-Geheimdienst zunächst erhalten und zum Verfassungsschutz reformieren wollte. Für ihn gehörte ein Geheimdienst zu einer souvernänen DDR. Andererseits spricht  die Geschichte seit Dezember 1989 für ein eher taktisches, schrittweises Zurückweichen. Modrow war letztlich durchaus bereit, die Stasi Stück für Stück aufzugeben. Im Gegenzug hoffte er, mit Sicherheitspartnerschaften Teile der Bürgerbewegung in eine Verantwortungsgemeinschaft einzubinden und für eine reformierte DDR gewinnen zu können. Ohnehin ging es ihm und anderen auch immer darum, die Geheimnisse der Stasi und ihrer Mitarbeiter vor „Unbefugten“ (d.h. der Öffentlichkeit) zu schützen.

Zugleich wäre auch naiv anzunehmen, dass die einst gefürchtete Geheimpolizei nicht versucht hätte, die Situation in ihrem Sinne zu beeinflussen. Der Leiter der DDR-Spionage-Hauptabteilung (HVA), Werner Großmann, hatte einmal sybillinisch davon gesprochen, man habe den Demonstranten manches „Schnippchen“ geschlagen.5 Die HVA selbst begnügte sich damit, einen handgeschriebenen Zettel an die Tür zu ihrer Abteilung zu hängen: „Auslandsaufklärung, Betreten verboten“. Wundersamerweise drang in der Tat kein Demonstrant in das entsprechende Gebäude ein. Und der letzte DDR-Geheimdienstchef, Heinz Engelhardt, behauptete erst kürzlich, dass sich für Observierungen und Festnahmen spezialisierte Mitarbeiter der Hauptabteilung VIII unter die Demonstranten gemischt hätten.6 Darüber hinaus habe es keine Pläne gegenben.

Film Heinz Engelhardt, letzter Geheimdienstchef der DDR

Was sie dort angeblich trieben, ob sie auch als Provokateure auftraten, ist nicht bekannt. Dass die meisten Geheimdienst-Mitarbeiter nach Hause geschickt worden waren und in den verdunkelten Räumen nur sogenannte „Stallwachen“ zurückblieben, war damals offensichtlich. Die Behauptung mancher Publizisten hingegen, es habe bei der DDR-Staatssicherheit eine Art Masterplan für den Tag X gegeben,7 wurde hingegen bisher nicht belegt.

 

Anmerkungen
 

1 Worst, Anne: Das Ende eines Geheimdienstes, Berlin 1991

2 Diese Auffassung vertritt der ehemalige Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Berlin Gutzeit in Veranstaltungen oder auch in Aufsätzen eines seiner Mitarbeiter. Bästlein, Klaus, "Meine Akte gehört mir". Der Kampf um die Öffnung der Stasi-Unterlagen. In: DA 44 (2011)1 S. 72-78 hier S. 72;

3 Klaus Bästlein: Wie die Stasi die Haut wechselt. Die Legende vom Sturm auf die Stasi. FAZ 27.7.2015

4 Wilke, Manfred: »Wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige«. Der erzwungene Wandel der SED in der Revolution 1989/90. Interview mit Wolfgang Berghofer, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2007), S. 396– 421, hier S. 408f.

5 Film link Die Erstürmung der Stasi. NDR 2010. https://www.youtube.com/watch?v=ohd0BpOOR8U6; Geschichtsstunde live. Kameraaufnahmen. 15.1.1990. Spiegel-TV https://www.youtube.com/watch?v=Rrx75FOuoKM. ???

6 Engelhardt, Heinz: Der Letzte Mann, Berlin 2019

7 Diese Auffassung vertritt der ehemalige Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Berlin, Martin Gutzeit in Veranstaltungen oder Aufsätzen eines seiner Mitarbeiter. Bästlein, Klaus, "Meine Akte gehört mir". Der Kampf um die Öffnung der Stasi-Unterlagen. In: DA 44 (2011)1 S. 72-78 hier S. 72