Auflösung des MfS in Leipzig

von Jürgen Wasmann und Rita Sélitrenny

1. Entwicklung vom 9. Oktober 1989 bis zur Besetzung am 4. Dezember 1989

Die Demonstrationen gegen den sich immer noch totalitär gebärdenden Staat DDR hatten sich bis Anfang Oktober 1989 im ganzen Land verstärkt, allein in Leipzig waren sie im Laufe der letzten Wochen auf mehrere 10.000 Menschen angewachsen, die jeweils montags auf die Straße gingen. Während sich am 9. Oktober 1989 die SED noch an prominente Bürger mit eigener Meinung wandte - bekannt als der "Aufruf der Leipziger 6"-, um gemeinsam über die Montagsdemo zu beraten, verfolgte sie noch das Ziel, den Anschein der Kontrolle zu behalten. Doch der politische Wind drehte sich rasch: In der SED-Führung gab es einen Putsch1 und die Mauer war offen!

Neue Akteure traten öffentlich erkennbar auf: Neues Forum, die Sozialdemokratische Partei (SDP), die Initiative für Menschenrechte (IfM), der Demokratische Aufbruch (DA), Demokratie Jetzt (DJ), Frauengruppen wie die Frauen für den Frieden und auch Umweltinitiativen. So sah sich die SED und das Ministerium für Staatssicherheit in Leipzig bereits seit Ende Oktober 1989dazu gezwungen, mehrmals mit der Demoleitung und dem Neuen Forum in Kontakt zu treten. Sie wollten einen geordneten Ablauf der Demo erreichen; aber vor allem Vandalismus gegen den Hauptsitz des MfS - die legendäre „Runde Ecke“ - oder gewalttätige Aktionen vermeiden. Ende Oktober wurde das Wachregiment vor der „Runden Ecke“ ganz abgezogen. Am 16.10.1989 sahen die Demonstrant*innen die Volkspolizei in Kampfuniform vor der „Runden Ecke stehen; eine Woche später am 23.10.1989 verkleideten sich die MfS-Offiziere mit Feuerwehruniformen.

Auch dem Neuen Forum und den anderen bürgerschaftlichen Initiativen war es wichtig, daß die Demonstrationen friedlich blieben. Deshalb organisierte das Neue Forum für den 30.10.1989 erstmals eigene Ordner, die mit Schärpen versehen - auf denen der Slogan „Keine Gewalt“ stand - vor der Runden Ecke standen. Durch die SED und dass MfS wurde auch hier der Begriff der „Sicherheitspartnerschaft“ geprägt und in Umlauf gebracht.2

Für den 4.11.1989 lud das MfS, vertreten durch Oberst Winkler, das Neue Forum zu einem Gespräch auf neutralen Boden ein. Noch stand aber das Interesse des MfS nach eigener Sicherheit bei gleichzeitig fehlender Bereitschaft, Fragen zu beantworten; Die MfS-Vertreter bedankten sich sogar für die Gebäudeabsicherung vom 30.10.1989. Eine Woche später, am 12.11. 1989, findet erneut ein Gespräch mit den gleichen Akteuren statt. Die Demonstranten*innen stellten inzwischen keine Fragen mehr, sondern nun verlesen sie einen Forderungskatalog. Im Ergebnis des Gesprächs erscheinen in der Presse zwei unterschiedliche Erklärungen von Seiten des MfS und der Polizei sowie der neuen politischen Gruppen. Man redet zwar miteinander, allerdings scheint die tatsächliche Kommunikation sehr begrenzt zu sein.

Im Laufe des November 1989 erodierten in einem beeindruckenden Tempo die SED, ihr Staat DDR und dessen staatlichen Organe. Der Höhepunkt war der Rücktritt des ZK und des Politbüros am 3.12.1989 und die sich anschließende Flucht des Außenhändlers Schalk-Golodkowski, der die Abteilung Kommerzielle Koordinierung beim MfS geleitet hatte. Es gibt Berichte von Kampfgruppen in Betrieben, die sich auflösten und nicht mehr eingreifen oder tätig werden wollen.3 Selbst beim Wachregiment des MfS gab es Proteste und Verweigerungen in dessen Ergebnis einige Einheiten von der Bewachung der MfS-Zentrale in Berlin abgezogen wurden.

Schon einige Tage zuvor traf sich am 1. Dezember 1989 zum ersten Mal der „Runde Tisch“ in Leipzig unter der Leitung von Superintendent Friedrich Magirius. An ihm sitzen 40 Vertreter*innen von Parteien und „demokratischen Basisgruppen“, wie der Sender Leipzig berichtet4. Interviews werden gesendet mit Vertretern von CDU (Rau), Neues Forum (Rainer Pietsch), Demokratischer Aufbruch (Christian Scheibler5, Andreas Müller6), SED (Roland Wötzel). Die Oppositionsgruppen sollen ein größeres Gebäude in der Stadt zur dauerhaften Nutzung bekommen.

Am 3.12.1989 verband eine Menschenkette für Demokratie vom Thüringer Wald bis zur Insel Rügen Millionen Menschen. Der Sender Leipzig berichtet um 12 Uhr live von der Menschenkette im Norden der Stadt Leipzig.

Die Angst hatte inzwischen die Seiten gewechselt, und das bei einem immer noch großen und hoch gerüstetem MfS-Apparat. Im Bezirk Leipzig mit ca. 1,5 Mio. Menschen arbeiteten immer noch ca. 2.400 hauptamtliche und wahrscheinlich 10.000 inoffizielle Mitarbeiter. Es standen mehr als 800 Dienstobjekte zur Verfügung und das MfS besaß unzählige Waffen und Fahrzeuge. Wie viele Seiten Papier zum Ende der DDR tatsächlich in der BV Leipzig vorhanden waren, weiß wohl niemand genau. Überstanden haben die zu dieser Zeit laufenden Vernichtungsaktionen immerhin um die 10.000 laufende Meter Akten.

Die traditionell sehr guten Verknüpfungen zwischen der SED und dem MfS aber auch zu den bewaffneten Organen hatten im Dezember 1989 schon sehr gelitten. Niemand traute sich mehr aus der Deckung; die Partei suchte einen Sündenbock.

In den ersten Dezembertagen des Jahres 1989 wurde publik, daß das bei weiten Teilen der DDR-Bevölkerung verhaßte Mi­nisterium für Staatssicherheit begonnen hatte, sich in einer wahren Vernichtungsorgie der schriftlichen Spuren seines bisherigen Handelns oder Unter­lassens zu entledigen. Insbesondere ein langes Radio-Interview mit einem Mitarbeiten der HA XXII am frühen Morgen des 4.12.1989 zur laufenden Aktenvernichtung brachte das Fass zum Überlaufen.7

Der Zorn trieb einige mutige Menschen dazu, die Gebäude des MfS in vielen Orten der DDR zu besetzen. In Suhl hatten Bürgerbewegte erste Aktivitäten gestartet, in Erfurt begann am Morgen des 4.12.1989 eine Besetzung der dortigen Stasizentrale. Dieses Vorgehen sprach sich sehr schnell innerhalb der DDR herum.

In den Tagen zuvor hatte es rege halböffentliche Diskussionen in allen Städten und auch zwischen den verschiedenen Gruppen und einzelnen Menschen in der gesamten DDR zur Aktenvernichtung und möglichen Gegenaktionen, um eine weitere Vernichtung der Akten zu stoppen, gegeben. Es war schon sehr viel zerstört worden. Bis zum heutigen Tag versucht die Behörde der Bundesbeauftragten Schnip­sel für Schnipsel wieder aneinander zu kleben. Zerrissenes Pa­pier mit durchaus brisanten Informationen wartet - mit Erfassungsstand von 1995 - in ungefähr 5.800 Säcken noch auf seine Rekonstruktion.8 Inzwischen dürfte die Anzahl der aufgetauchten Säcke deutlich mehr geworden sein.

2. Unter dem Druck der Montagsdemo. Die Besetzung der Bezirksverwaltung Leipzig am 4. Dezember

Die in Berlin ansässige Gründerin des Neuen Forums, Bärbel Bohley, versucht am 4. Dezember 1989 Menschen in Leipzig telefonisch zu motivieren, um jegliche weitere Vernichtung von Unterla­gen des MfS zu verhin­dern. Der Besuch in der "Höhle des Löwen" soll zu Kommuni­kation und Absprache führen. Auf irgendeine Weise soll das MfS dazu gezwungen werden, das Gebäude zu öffnen, bevor wütende Demonstrant*innen die Runde Ecke mögli­cherweise stürm­en.

Offensichtlich gab es im Laufe des 4.12.1989 erste Kontakte zwischen einzelnen Bürgerbewegten und Generälen des MfS in der Runden Ecke, der Deutschen Volkspolizei, der Staatsanwaltschaft und der Militärstaatsanwaltschaft. Später reklamiert der Leiter des MfS/AfNS, Generalleutnant Hummitzsch für sich, den Staatsanwalt für die Begleitung und Kontrollen der Besetzer*innen organisiert zu haben9.

Ab dem Vormittag des 4.12.1989 stehen die verschiedenen Gruppierungen in Leipzig mit ihren Mitstreiter*innen in Berlin und innerhalb der Stadt im ständigen telefonischen Kontakt. Bärbel Bohley telefoniert mit Helmut Warmbier vom Neuen Forum, berichtet aus Erfurt und fordert zu einer Besetzung der Stasi nach ähnlichem Muster wie in Erfurt auf. Doch irgendwie klappt das Gespräch zwischen Warmbier und dem MfS nicht. Es gelingt ihm nicht, in das Gebäude zu gelangen. Später kommt das MfS allerdings zu ihm, um die Themen des Abends zu besprechen. Anschließend schafft es Warmbier nicht mehr rechtzeitig auf die Bühne des Neuen Forums, die für die Montagsdemo am Abend auf dem Augustusplatz aufgebaut worden war.10 Die Initiative bemüht sich gleichzeitig darum, Aktivist*innen für ein Gespräch mit dem MfS und eine Besetzung der Runden Ecke zu mobilisieren. Falk Hocquel versucht Mitstreiter*innen für eine große Delegation zum MfS zusammenzutrommeln. Die „Initiative für Frieden und Menschenrechte (IfM)“ kann für den Telefonknoten in Leipzig11 auf das Telefon von Rita Sélitrenny12 bauen13. Michael Arnold14 und Thomas Rudolph15 hielten Stallwache. Von der Wohnung in der Rosentalgasse aus gibt es seit dem frühen Vormittag verschiedene Telefonate von und nach Berlin zu den beiden Sprechern der IfM, Gerd Poppe und Werner Fischer. Arnold versucht, mit Polizei und Staatsanwalt Kontakt aufzunehmen, doch vergeblich. Leute aus der Mobilisierungskette werden angesprochen und aktiviert, um am Abend bei Aktionen vor und in der Runden Ecke mitzumachen. Rudolph und Sélitrenny spazieren im Laufe des Tages mehrmals um die Gebäude der BV Leipzig herum, um zu sehen, was dort gerade passiert. Doch nichts Außergewöhnliches tat sich. Zunächst.

2019 erinnerte sich Rita Sélitrenny: „Seit dem Vormittag des Tages lief über mein privates Telefon die Koordination mit der IFM in Berlin; Michael Arnold und Thomas Rudolf hatten in meiner Wohnung in der Rosentalgasse ihre persönliche Telefonzentrale eingerichtet“.16

Am Nachmittag treffen einige Bürgerrechtler*innen vor der Runden Ecke ein. Es sind nur wenige, die Michael Arnold trifft. Falk Hocquel kommt mit seinen Leuten hinzu. Die Lage spitzte sich dann kurz vor den Friedensgebeten, u.a. in der Nikolaikirche, zu. Eine Gruppe von fünf Personen fordert beim MfS Einlaß. Am Haupteingang an der »Runden Ecke« wird nicht geöffnet. So gehen sie zum hinteren Eingang. Dem Pförtner tragen sie vor, daß sie Bürger aus Leipzig seien und die Kontrolle über das Gebäude friedlich übernehmen wollen, um eine Stürmung bei der Demonstration zu vermeiden.17 Schließlich wird eine die kleine Gruppe eingelassen. Kurz darauf treffen sie mit dem Ersten Stellvertreter des Leiters des Bezirksamtes, Oberst Reinhard Eppisch, in seinem Dienstzimmer, zusammen. Die Vertreter*innen der neuen Gruppierungen versuchen Eppisch davon zu überzeugen, daß nur mit einer gemeinsamen und abgesprochenen Kontrolle der Gebäude durch engagierte Bürger*innen ein gewaltsames Eindringen der Demonstrant*innen am Abend verhindert werden könne. Eine heute vom Neuen Forum organisierte Menschenkette würde heute angesichts der zugespitzten Lage nicht mehr ausreichen. Trotz der nachdrücklichen Argumentation ist das MfS nicht bereit, eine Delegation von 30 Bürger*innen in die Diensträume einzulassen. Eppisch scheint mit dem Rücken zur Wand zu stehen und versteckt sich hinter dem angeblich nicht erreichbaren Staatsanwalt und fehlender zentraler Abstimmung. Offensichtlich fühlt er sich massiv unter Druck gesetzt. Der Bezirksstaatsanwalt Leipzig, Karl Munkwitz, sei noch immer nicht erreichbar.

Kurz vor Beginn der Demonstration gegen 18 Uhr werden die Gespräche abgebrochen und Falk Hocquel begibt sich zum Augustusplatz, um die Kundgebung über die Weigerung des MfS/AfNS zu informieren. Unter dem vermuteten Druck der beginnenden Montagsdemo laufen beim MfS die Telefonverbindungen vor allem mit der Zentrale in Berlin heiß. Auf einmal gibt der MfS-Apparat nach und genehmigt den MfS-Mitarbeitern gegen 18.30 das Gespräch mit den Bürger*innen und eine Versiegelung der Räume, um weiteren Vernichtungen Einhalt zu gebieten. Dann geht alles sehr schnell. Der Staatsanwalt Kurzke ist plötzlich auch vor Ort und die ersten Gesprächsteilnehmer*innen werden ins Haus gelassen.18 Versiegelungen werden erlaubt, ein Megaphon zur Verfügung gestellt.

Dokument. Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit, Versiegelungsprotokoll 4. Etage, Nacht vom 4. zum 5.12.1989. Privatarchiv Sélitrenny. Mehr...

Die Angst der Offiziere ist am 4.12.1989 besonders groß. Den ganzen Tag hatten sie von Besetzungen und Kontrollen gehört. Auf der anderen Seite stehen die mutig gewordenen Bürger*innen. Die große Demonstration zog am Montag dem 4.12.1989 mit wahrscheinlich 150.000 Menschen wieder über den Leipziger Innenstadtring und kam auch an der MfS-Zentrale vorbei. Das muß für die Mitarbeiter des MfS beeindruckend und beängstigend gewesen sein.

Vorne am Ring war die große Demonstration mit den Sprechchören:

„Besetzt das Stasi-Gebäude“

„Wir fordern die Entmachtung der Staatssicherheit“

„Besetzt das Stasi-Gebäude – sofort“19

Aus verschiedenen Protokollen20 dieser entscheidenden Tage ergeben sich die Namen der ersten Besetzer*innen: Kleinert, Hocquel, Arnold, Scheibler. Aus den später erstellten Mitgliederlisten des Bürgerkomitees ergibt sich auch der Tag des Eintritts. Seit der Stunde der Besetzung werden da aufgeführt21: Michael Kleinert, Christian Scheibler, Karin Polatscheck, Jürgen Neumann, Frank Deichmann.

Michael Kleinert beschreibt am nächsten Morgen die Ereignisse so:

„Die gestrige Situation war operativ entstanden. Wir bekamen Meldungen über Ereignisse in Erfurt über Tätigkeiten zur Aktenvernichtung. Es bestand die akute Gefahr einer Radikalisierung der Montags-Demo und aus diesem Grund haben wir den Bezirksstaatsanwalt informiert, und uns bereit erklärt, im Namen des Volkes die Akten zu sichern, um radikale Ausschreitungen zu verhindern. Eine Kommission von zunächst 5 Personen nahmen Aktivitäten zur Sicherung vor, mit der Installation einer Lautsprecheranlage zur Beschwichtigung der Demonstranten. Unter Absprache mit Oberst Eppisch wurde durch 30 Bürger eine Öffentlichkeit gebildet, welche Zutritt zum AfNS hatte und die Sicherung von Beweismaterial übernahm.“22

Ordner des Neuen Forums sicherten seit dem zeitigen Abend in langen Ketten die Runde Ecke. In der zugespitzten Situation reichte dieser Schutz, der in den letzten Wochen - seit Anfang November - ausreichend war, jedoch nun nicht mehr aus.

Daher mußten sich jetzt die Besetzer *innen mit einem Megaphon vom Balkon der Runden Ecke aus an die Demonstrant*innen wenden:

„Vor einer halben Stunde haben wir, Vertreter des Neuen Forum und anderer Gruppen, das Gebäude unter unsere Kontrolle genommen.“ …. In dem Raum hinter ihm verhandeln etwa 30 Leute mit dem Chef der „Runden Ecke“, fügt er hinzu. „Bildet eine Menschenkette um das Gebäude. Die Mitarbeiter dürfen keine Akte aus dem Haus schaffen.“23

So schien die mögliche Eskalation gebannt. Ein Teil der Demonstrant*innen harrte bis weit nach Mitternacht dort aus und machte den Unmut über die Aktenvernichtung laut deutlich. Das war es, das der Stasi Angst machte und es war das wirkungsvollste Druckmittel. Das Volk hatte mit der Macht der Straße die Gebäude besetzt. Auch später waren Verhandlungen mit dem MfS offensichtlich nur aus der Position der Stärke heraus möglich.

Diese These lässt sich am Verlauf der Bewachung der „Runden Ecke“ an den Montagen seit dem 9.10.1989 beispielhaft belegen:

Am 9.10.1989 war es noch die Armee, wenig später sah man die Volkspolizei in Kampfuniform vor dem Gebäude stehen. Danach tauchte das MfS selbst in Feuerwehruniform auf. Anfang November spricht das MfS mit dem „Neuen Forum“ in der „Runden Ecke“ über die Bewachung, das Gespräch erfolgt auf neutralem Boden. Zum Ende des Monats November stellt das „Neue Forum“ nicht nur Forderungen auf, sondern setzt diese auch durch. Am 4. Dezember 1989 sind zwar immer noch die Ordner vom „Neuen Forum“ vor Ort, jedoch sind jetzt der Zutritt zum Gebäude und die Versiegelung der Räume endgültig durchgesetzt worden.24 Die Besetzung nimmt ihren Lauf.

Um 19.19 Uhr war die Forderung der Besetzer*innen, die Presse rein zu lassen, durchgesetzt worden. Danach setzte ein regelrechter Wettkampf um die wenigen Plätze ein. Mit dem Entsandten der Regierung, RA Wolfgang Schnur,25 der gerade aus Berlin eingetroffen ist, kommt ein Schwall Journalisten mit ins Haus. Währenddessen haben sich die Bürgerrechtler*innen organisiert und strukturiert, um die plötzlich auf sie zugefallene Aufgabe der Versiegelung der Räume, durchführen zu können. Gelernt oder geübt hat das keiner zuvor. Und es waren mehrere Gebäude mit vielen Etagen und langen Gängen mit vielen Zimmern, so daß der Staatsanwalt schließlich zustimmte, verschiedene Gruppen, bestehend aus jeweils einem MfS-Offizier26 und fünf Bürger*innen27, mit der Besich­tigung und Versiegelung der zugewiesenen Etagen zu beauftragen.28

20.30 Uhr: Die Bürgerrechtler*innen vom Bürgerkomitee - wie es jetzt genannt wird - teilen sich auf und beginnen mit der Erkundung und Versiegelung der Diensträume des MfS. Etagenpläne und Schlüssel können nicht beschafft werden. Es wird versiegelt, was versiegelt werden kann: Schränke, Räume, Etagen. Die Journalisten schließen sich teilweise an, ziehen aber auch ungehindert allein durch die langen Gänge. Die Etagenpläne tauchen erst gegen 22.15 Uhr auf. So können die Protokolle der Versiegelung mit den Plänen verglichen werden. Doch weiterhin fehlen viele Schlüssel zu Räumen. Dagegen sind viele andere Räume mit einer Menge an Personen gefüllt. Das sei seit Wochen immer montags so, heißt es. Zur gleichen Zeit bedrängen die vielen Journalisten den Chef des Hauses, Generalleutnant Hummitzsch, und machen eine spontane Pressekonferenz. Weit nach Mitternacht des legendären 4. Dezember 1989 sollen auf Vorschlag von Rrechtsanwalt Schnur die verschlossenen Räume komplett versiegelt werden; am nächsten Tag soll es weitergehen…. Noch in der Nacht fährt Schnur nach Berlin zurück.

Die  Regionalzeitungen berichteten detailliert. Mehr...

3. Die Besetzung der Kreisdienststelle Leipzig am 4. Dezember 1989

Mit Te­lefonaten infor­mieren sich Mitglieder aus Umwelt-, Frie­dens- und Kirchen­gruppen über geplante Aktionen. Vor den Eingängen der Stasizentrale kamen im­mer mehr Oppo­sitionelle zusammen, die Einlaß forderten und dann in der Nähe blie­ben33. Viele Leute kamen nach 18 Uhr direkt von den Friedensgebeten. Darunter waren u.a. Rita Sélitrenny, Georg und Gisela Pohler. Sie standen beim Hintereingang der BV des MfS und begehrten erfolglos Einlaß. Dann tauchte auf einmal Otto Drephal auf. Der Pfarrer der Leipziger evangelische Studentengemeinde (ESG) lotste die drei am späteren Abend zur Kreisdienststelle Stadt Leipzig (KD) in die Gustav-Mahler-Straße. Tobias Hollitzer schloß sich an. Gisela Pohler blieb vor der Kreisdienststelle und lief immer wieder um das Haus und den großen Garten herum. Sollte es brenzlig werden, könnte sie gegebenenfalls Hilfe zu holen. Die turbulente Nacht verbrachten Sélitrenny, Georg Pohler und Hollitzer mit ein paar anderen Menschen in der KD. Später berichtet die LVZ über diese Besetzung;

„Rita Sélitrenny gehörte am Abend des 4. Dezember 1989 zu den Bürgerrechtlern, die die Leipziger Stasi-Kreisdienststelle in der Gustav-Mahler-Straße besetzten. „Ich bin in diese Aktion mehr reingestolpert, als daß strategisches Handeln dahinterstand. Ich war in kirchlichen Kreisen gut vernetzt und engagierte mich in der Initiative für Frieden und Menschenrechte. Uns führte ein Pfarrer, wie sich später herausstellen sollte, ein IM, in das Gebäude. Die tristen Gänge fand ich schockierend, und als eine der Türen aufging, war das die zur Waffenkammer. Den Anblick habe ich noch heute vor Augen.“34

Hollitzer traute dem eigenen Erleben nicht: „Säcke voll mit privater Originalpost. Ich fragte mich: Bis du hier in einem Postamt?“35

Die Versiegelung der Räume und die Sicherung der Akten läuft bis zum frühen Morgen, in den Unterlagen von Rita Sélitrenny findet sich der Vermerk, daß sie erst um 5 Uhr zu Hause war.

Doch schon um 8 Uhr sind die Besetzer*innen in der KD Leipzig Stadt wieder zurück, um die Siegel auf deren Unversehrtheit zu überprüfen und den Betrieb aufzuhalten, denn nicht jeder Mitarbeiter des MfS hatte die Besetzung mitbekommen. Aus psychologischer Sicht war es ja auch verständlich, daß viele Beschäftigte die neue Situation nicht verstanden oder nicht verstehen und akzeptieren wollten oder konnten.

Jedenfalls ging für die Besetzer*innen um 8 Uhr gar nichts los, weil der Leiter der Dienststelle, Oberst Norbert Schmidt, den Besuch, die Kontrolle und die Versiegelung nicht zulassen wollte. Die Intervention von Staatsanwaltes Janowski, der die Besetzer*innen begleitete, machte erst später den Weg dafür frei. Jetzt waren auf einmal trotz intensiver Suche keine Schlüssel mehr vorhanden, aber dafür um so mehr Mitarbeiter. Einige Räume waren dann doch offen und boten ein trauriges Bild der Zerstörung entweder mit leeren Schränken, leeren Aktendeckeln oder Bergen an zerrissenen Papieren.

Die Mitteldeutschen Nachrichten schrieben:

“Zurück blieb der Eindruck, daß hier wieder ein Versuch unternommen wurde, die Öffentlichkeit hinter das Licht zu führen. Zu viele Fragen blieben offen, zu viel ist schon vernichtet worden.“ 36

4. Berichte aus dem Inneren des Apparates vom 4.12.1989 und vom 5.12.1989

Weil die (zivile) Staatsanwaltschaft versucht hatte, sich aus den turbulenten Ereignissen von Besetzung und Versiegelung herauszuhalten, war schon am Nachmittag die Militärstaatsanwaltschaft in Erfurt eingesprungen. Erst auf höchster Ebene muß der Generalstaatsanwalt Wendland die Aktenvernichtung als strafbare Handlung erklären, damit sich die Staatsanwälte vor Ort an der Versiegelung der Akten zur Verhinderung der Aktenvernichtung und/oder des Abtransportes beteiligten. In Leipzig war in der Folgezeit hauptsächlich der Militärstaatsanwalt Oberst Köcher an der Begleitung des Bürgerkomitees zur Verhinderung der Aktenvernichtung und an der Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS beteiligt.

Generalleutnant Schwanitz, der Leiter des AfNS, hatte RA Wolfgang Schnur - der wie sich später herausstellen sollte, als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des MfS verpflichtet war - nach Leipzig entsandt, um besänftigend auf die Demonstranten einzuwirken. Schnur kam jedoch zu spät, da Vertreter*innen der neuen Gruppierungen schon lange in die Runde Ecke eingelassen worden waren. Mit einem Megaphon der Volkspolizei konnte er nur noch vor Demonstrant*innen für einen weiteren friedlichen Verlauf werben.

Am Morgen des 4.12.89 wußte der Leiter der BV Leipzig, Generalleutnant Manfred Hummitzsch, wahrscheinlich über stasiinterne Informationswege von den Ereignissen in Erfurt Bescheid. Auf einer Dienstberatung mit den Leitern aller Kreisämter und Diensteinheiten der Bezirksverwaltung am Vormittag des 4. Dezember um 10.30 Uhr konstatierte er, daß die »Entw[icklung] in atemberaubendem Tempo« vonstatten gehe und er erwarte, daß die »Angriffe aufs Amt zunehmen« würden. Als Maßnahmen legte er fest:

»-Ausgangspunkt für heute: Versuche können unternommen werden, das Objekt zu besetzen [...];

- alle Frauen ab 16.00 Uhr [nach Hause];

- Türen Fenster so verbarrikadieren, dass keiner reinkommt;

- grundsätzlich keine Schußwaffen;

- alle anderen Hilfsmittel.«

Die eigenen Leute ermahnte er: »Ruhe, Besonnenheit, nicht durchdrehen“. Er schloss sehr fatalistisch mit den Worten: »Wir müssen diesen Montag überstehen“.37

Am Tag nach der Besetzung der Runden Ecke informierte Leipzigs Stasichef Manfred Hummitzsch seine Abteilungsleiter über die Ereignisse der vorangegangenen Nacht. Am Ende stellte er resignierend fest: „Gesetzliche Grundlage? Wille des Volkes.“

5. Die Etablierung des Bürgerkomitees der BV Leipzig

In den Tagen nach der Besetzung fielen die eigentlichen Entscheidungen zur Auflösung des MfS/ANS. Schon nach wenigen Stunden standen die Besetzer*innen am 5.12.1989 wieder im Haus, um die Aktionen der Nacht fortzuführen und um die Zukunft zu planen. Die Eröffnung des Plenums von Bürgerkomitee und MfS/ANS am 5.12.1989 erfolgte noch durch Staatsanwalt Kurzke, der von seinem Stellvertreter Arlt begleitet wurde.38

Dokument. Protokoll der Sitzung des Bürgerkomitees mit den staatlichen Vertretern.  Leipzig, den 5.12.[19]89, 8.50 Uhr Beginn. Privatarchiv Sélitrenny.am 5.12.1989. Mehr.... 

Dem Bürgerkomitee ging es um ein Ende der Vernichtung von Unterlagen/Akten und die Kontrolle über das MfS/ANS durch die Bürger*innen und um die Abwicklung des Ministeriums. Dem Generalleutnant Hummitzsch ging es dagegen um den Erhalt des AfNS, möglichst unbeschädigte Strukturen des MfS und um eine Weiterbeschäftigung seiner Mitarbeiter*innen. Wer war stärker, wer konnte sich durchsetzen? Die politische Wissenschaft benutzt spätestens seit Machiavelli dafür den Begriff Macht.

Hummitzsch und Staatsanwalt Kurzke verstecken sich hinter dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow (SED), ohne dessen Zustimmung sie nichts machen könnten. Allein eine weitere Versiegelung von Schränken und Räumen sei möglich. Für die Ermittlung von Straftaten gegen Bürger*innen sei nur der Militärstaatsanwalt zuständig. Dieser sei durch StA Kurzke am frühen Morgen informiert worden.

Das Bürgerkomitee verlangt dagegen die sofortige Einstellung der Arbeit des MfS, insbesondere die Aktenvernichtung. Eine Einsichtnahme in die Akten wird erst einmal nicht verlangt. Dies bleibe einer Kommission vorbehalten.

Dokument. Petschaft BK Nr. 5, Privatarchiv Sélitrenny. Mehr...

Die Diskussion um Zuständigkeiten und Verantwortung wird heftig geführt. Die Forderung nach Offenlegung der Arbeit des MfS und seiner Beschäftigten wird von den MfS-Vertretern abgelehnt, da Hummitzsch nur von seinen Vorgesetzten von der Schweigepflicht entbunden werden könne. Ein staatlicher Vertreter sei nach Leipzig unterwegs.

6. Die erste Strukturierung des Bürgerkomitees

Schließlich geht es am 5.12.1989 auch um die Bildung einer Kommission zur Aufarbeitung der Arbeit des MfS. Die Führung der Runden Ecke kann hierzu keine Aussagen machen.

Inzwischen ist der evangelische Superintendent Friedrich Magirius in Begleitung des katholischen Probst Günter Hanisch und des Pfarrers Gerhard Riedel von der methodistischen Kirche erschienen. Dieser fordert eine Bürgerkommission unter Mitarbeit des AfNS. Dies solle die Regierung klären.

Weitere Bürger*innen der Stadt folgen inzwischen einem Aufruf des Bürgerkomitees, Vertreter der Blockparteien und der SED, u.a. auch der SED-Fraktionsvorsitzende RA Bernhard Knupp39.

In der heftigen Debatte geht es um die Details der neu zu bildenden Kommission, wie eine bezahlte Freistellung der Mitglieder von der Arbeit, sowie um die Einbindung der Presse. Hummitzsch scheint mit der Kommission einverstanden zu sein. Kurzke erklärt, dass er keine weitergehenden Aktivitäten durchführen könne. Die Sicherung des Objektes sei ihm möglich. Weitere Aussagen könne er nicht machen.

Eine Information aus einem bisher noch nicht besetzten MfS-Gebäude in Leipzig-Leutzsch sorgt zwischendrin für Unruhe. Bürger*innen hatten eine fortlaufende Aktenvernichtung bemerkt und diese Beobachtung an das Bürgerkomitee übermittelt. Hummitzsch versucht zu beruhigen.

Zu dem Zeitpunkt haben sich die Machtverhältnisse bereits soweit verändert, daß das Bürgerkomitee fordern kann, Magirius ab sofort für eine Gesprächsleitung einzusetzen: Er wird mit der Bildung der Kommission beauftragt. RA Knupp von der SED will die Aufklärung und Untersuchung zum MfS durch den Rat der Stadt erwirken und teilt mit, daß ein entsprechender Ausschuß kurzfristig gebildet werde.

Die Verzögerungsstrategie der SED wirkt nicht mehr; die Untersuchungskommission des Bürgerkomitees wird sofort eingerichtet. Als Schriftführer werden Petri und Deichmann bestimmt.

In der Folge werden die Forderungen des Bürgerkomitees (auch an die Kommission) deutlicher:

- Auflistung aller Objekte des MfS in Stadt, Kreis und Bezirk,

- Zugang zu allen Räumen, auch zu dem der EDV,

- Ist Herr Kurzke vertrauenswürdig, wenn er mit den Mitarbeitern des MfS auf Du ist?

- Archivmaterial solle gesichtet werden.

Weil der angekündigte Regierungsvertreter gegen Mittag immer noch nicht da ist, wird Michael Kleinert von der Runde beauftragt, mit der Regierung in Berlin zu telefonieren. Der DDR-Innenminister Ahrendt teilt ihm mit, daß ein Herr Generalmajor Simon gerade losgefahren sei.

Dann wird der Leipziger BV-Chef Hummitzsch aufgefordert, von der Generalstaatsanwaltschaft schriftliche Vollmachten für kompetente Bürger*innen zu erteilen.

Es folgt ein Bericht vom Kreisamt Leipzig-Stadt. Sehr viele Akten seien vernichtet worden: die Schränke seien leer. Dann aber auf einmal Zusagen des Leiters der KD Leipzig-Stadt, Oberst Schmidt, hinsichtlich der aufgestellten Forderungen des Bürgerkomitees.

Wegen fehlender Auskünfte wird die Stimmung zunehmend gereizter im Raum. Hummitzsch wird eine Hinhaltetaktik vorgeworfen.40

Um 16.32 Uhr erscheint aus Berlin Regierungsvertreter Peter Rosentreter gemeinsam mit einem Juristen namens Lehmann.41

Um 17.13 Uhr trifft auch der avisierte Generalmajor Simon vom Innenministerium ein.

Nach hitziger Diskussion wird beschlossen, daß die Volkspolizei die wichtigen Objekte sichert.42 Diese besteht jedoch auf einer Zusammenarbeit mit dem Bürgerkomitee. Das vorgeschlagene Verfahren wird vom Bürgerkomitee gebilligt. Die Polizei fängt mit der Sicherung der Objekte in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember 1989 ab 0.00 Uhr an.

Um 19.05 Uhr erscheint Militärstaatswalt Köcher und erklärt seine Bereitschaft, Anzeigen aufzunehmen. Diese werden u.a. gegen Oberst Schmidt erstattet. Die Protokolle der Anzeigen sollen an das Bürgerkomitee gesendet werden.

Zum Abschluß der heftigen Debatten stellt das Bürgerkomitee einen Forderungskatalog auf, den der Journalist der LVZ kurz vor dem Verlassen des Raumes um 20 Uhr noch aufschreibt und später veröffentlicht:

  1. Das Komitee ist von Seiten des Ministerpräsidenten und der Volkskammer um kompetente Vertreter zu ergänzen und zu legitimieren.

  2. Eindeutige Definition, welche Räume den nationalen Sicherheitsinteressen dienen und welche den Zweck der innerstaatlichen Kontrolle erfüllen.

  3. Versiegelung von Räumen und Archiven der inneren staatlichen Kontrolle. Beurlaubung des betreffenden Personals bis auf Widerruf.

  4. Auflistung aller Objekte, in denen Materialien und Archive sichergestellt werden müßten sowie Auflistung aller Objekte von SED und FDGB im Bezirk.

  5. Sicherstellung von Räumlichkeiten und Archivmaterialien des Amtes durch den MdI bzw. die NVA gemeinsam mit dem Komitee.

  6. Der Archivierungsort für elektronische Datenträger bzw. Videoaufzeichnungen sowie Fotodokumentation und Filmmaterial ist offenzulegen. Ebenso die Orte, wo zentrale EDV-Anlageninstalliert sind und wer über sie verfügen darf.

  7. Erteilung von Aussagegenehmigungen für einzelne Mitarbeiter.

  8. Offenlegung der Waffendeponie des Bezirksamtes und der Kreisämter.

  9. Begehung aller Untersuchungshaftanstalten im Bereich des Amtes. 43

Nach der Vorstellung des Papieres wird die Sitzung beendet.

Michael Kleinert eröffnet die nächste Sitzung des Bürgerkomitees am 6.12.1989 um 9.10 Uhr und stellt fest:

„Die Beurlaubung des gestern benannten Mitarbeiterkreises ist sofort durchzuführen. Über zur Aufrechterhaltung der Arbeit dringend benötigte Räumlichkeiten ist eine Sofortbesichtigung mit dem Militärstaatsanwalt zu ermöglichen. Soll Anzeige gegen Herrn Hummitzsch gestellt werden, in Hinblick auf den Verdacht der Verdunkelung und der Verschleierung? Es bestehen immer noch Möglichkeiten der Aktenvernichtung. Eine Auflistung aller Staatssicherheitsobjekte mit Telefonnummern ist immer noch nicht erfolgt.44

Dokument: Protokoll der Sitzung des Bürgerkomitees mit den staatlichen Vertretern.  Leipzig, den 6.12.1989, 8.30 Uhr Beginn. Privatarchiv Sélitrenny.  Mehr....

Militärstaatsanwalt Köcher fordert zusammen mit dem Komitee eine Besichtigung aller Objekte, in denen Urkundenvernichtungen stattgefunden haben und eine Sicherung der noch vorhandenen Unterlagen. Hummitzsch verweist auf eine laufende Beratung im Ministerrat. Der RA Knupp will nur Beweise sicherstellen, bis ein Kontrollorgan eingerichtet ist. Falk Hocquel fordert die etagenweise Versiegelung. Hummiztzsch zeigt sich zurückhaltend. Inzwischen ist bekannt, daß mindestens 17 Objekte zu sichern sind. Daß das alles sein soll, wird nicht so recht geglaubt. Die Beurlaubung aller Mitarbeiter*innen wird sehr kontrovers diskutiert: „Ist bei einer Beurlaubung der Mitarbeiter die nationale Sicherheit nicht durch die NVA und MdI gesichert?“ will Michael Kleinert wissen.45

Der Regierungsvertreter will die neuen Forderungen nicht unterstützen. Für das Bürgerkomitee dagegen ist die Verschärfung der Forderungen eine Folge der ständig weiterlaufenden Aktenvernichtungen und der wenig kooperativen Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS. Die staatlichen Vertreter ziehen sich gegen 10 Uhr zurück.

Währenddessen stellt das Bürgerkomitee härtere Forderungen zur Begehung aller Räume und Objekte auf. Die Staatsanwaltschaften werden aufgefordert, umgehend aktiv zu werden. Außerdem sollen alle Mitglieder vom Bürgerkomitee Ausweise zum Betreten aller Objekte des MfS/AfNS erhalten. Rita Sélitrenny bekommt von der Bezirksbehörde der Volkspolizei Leipzig einen provisorischen Sonderausweis mit der Nummer 187 und der Berechtigung "Bürgerkomitee" ausgestellt46; etwas später wird sie als Mitglied des Bürgerkomitees durch ein Dokument der Regierung für alle Aufgabenbereiche legitimiert.47 Auch eine Petschaft wird für Bürgerkomiteemitglieder ausgegeben.48

Dokument: Sonderausweis Nr. 187 für Selitrenny, Rita als Mitglied des Bürgerkomitees. Privatarchiv Sélitrenny. Mehr...

Gegen Mittag kehren die Regierungsvertreter zurück. Nun wird heftig über eine Presseerklärung zum Stand der Gespräche diskutiert.49

Um 14 Uhr wird diese mit nachfolgendem Inhalt beschlossen und an die Presse gegeben.

  1. Grundlegende Kontrollmaßnahmen aller Ämter,

  2. Strafanzeigen wegen Urkundenvernichtung,

  3. Bewachung aller Objekte durch die Volkspolizei,

  4. umfangreiche Versiegelung von Räumen und Schränken in Objekten des AfNS durch Bürgerkomitee und Staatsanwälte,

  5. alle Kreisämter werden geschlossen,

  6. gemeinsame Überprüfung von Objekten und Beweismitteln durch Bürgerkomitee, Militärstaatsanwalt und Volkspolizei.

Die lokale und regionale Presse berichtet erst am 7.12.1989 und am 8.12.1989 darüber.50

Fast gleichzeitig schlägt das Bürgerkomitee am 6.12.1989 einen „Maßnahmeplan“ vor, der deutlich schärfer ausfällt als die Presseerklärung. Ein Fernschreiben von Schwanitz vom Tage muß die Bereitschaft der staatlichen Seite den Forderungen des Bürgerkomitees nachzugeben, deutlich erhöht haben. Darin wird Kontrollgruppen, bestehend u.a. aus Mitgliedern der Bürgerrechtsbewegung, die Möglichkeit eingeräumt, in Räume und Schränke sowie Dokumente Einsicht zu nehmen. Diese Dokumente werden lang aufgezählt. Kopien dürfen nicht gemacht werden und geheime Materialien wie IM-Unterlagen und zur Spionageabwehr dürfen nicht gezeigt werden. Falls möglich, sollen Vereinbarungen zur Vernichtung alter Unterlagen getroffen werden.

Das Schreiben von Schwanitz ist ambivalent und kann so und so ausgelegt werden: ein Schritt vor und zwei zurück! Es verunsichert aber offensichtlich die Vertreter von Regierung und AfNS. Nach elf Stunden Verhandlung entsteht ein Papier von bedeutsamer Tragweite und Bedeutung, der Grundstein für die Auflösung des MfS: der Maßnahmeplan:

  1. Einleitung von Ermittlungs- und Sicherstellungsmaßnahmen,

  2. Die Volkspolizei übernimmt im Auftrag der Unterzeichner die Sicherung der Objekte des MfS,

  3. Die Versiegelung aller Räume wird abgeschlossen und regelmäßig durch die Unterzeichner überprüft,

  4. Das Bezirksamt und die Kreisämter werden auf Betreiben des Bürgerkomitees geschlossen, jedoch sollen Bereiche nationaler Sicherheit arbeitsfähig bleiben,

  5. Hinweise auf Objekte anderer Dienststellen sollen durch VP und Staatsanwälte verfolgt werden,

  6. Auf der Grundlage von Beschlüssen der Volkskammer soll eine Kontrollkommission unter Beteiligung des Bürgerkomitees eingerichtet werden, die die inhaltliche Aufarbeitung der sichergestellten Materialien vornimmt,

  7. Parlamentarische Transparenz im Zuge der Geschichtsaufbereitung ist zu gewährleisten. 5

Dokument. Maßnahmeplan des Bürgerkomitees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle im Bereich der inneren Sicherheit. Leipzig, 6.12.1989. Privatarchiv Sélitrenny. Mehr...

Dokument. Präzisierung des Maßnahmeplanes des Bürgerkomitees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrollen im Bereich der inneren Sicherheit - Leipzig vom 6.12.1989, Punkt 7, wird vereinbart. Privatarchiv Sélitrenny. Mehr..

Die Unterzeichner sind schließlich einerseits:

Peter Rosentreter als Beauftragter des Ministerrates, der Militärstaatsanwalt Walter Köcher, der Bezirksstaatsanwalt Karl Munkwitz, der Beauftragte des Innenministeriums (Name unleserlich), der Leiter des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Hummitzsch

und andererseits:

Neun Personen vom Bürgerkomitee meist als Vertreter der neuen demokratischen Gruppierungen

Michael Kleinert (Demokratischer Aufbruch), Christian Scheibler (Demokratischer Aufbruch), Frank Deichmann (Neues Forum), Pfarrer Riedel, Falk Hocquel (Neues Forum) und ein Vertreter der Blockpartei der Liberalen demokratischen Partei Deutschland sowie ... Krug und ... Eichler. Die beiden letztgenannten Personen tauchten später nicht mehr bei der Auflösung des MfS auf.

Damit war die Arbeit des Tages erledigt und letztendlich war damit auch das formelle Ende des AfNS in Leipzig besiegelt. Die Gesamtauflösung des AfNS verkündet Modrow erst eine Woche später am 14.12.1989. Die Bürger*innen hatten es in Leipzig und anderswo faktisch erzwungen.

6. Die Auflösung des MfS nimmt in Leipzig Fahrt auf

Natürlich war das AfNS nicht von der neuen Lage begeistert und versuchte, die Aktenvernichtung voranzubringen und die Bürgerkomitees zurückzudrängen.

Ein diesbezügliches Fernschreiben vom 7.12.1989 des Vorsitzenden des Ministerrates gelangte in die Hände vom Leipziger Bürgerkomitee, das sofort den für Leipzig zuständigen Regierungsvertreter Rosentreter informierte und ihn aufforderte, dafür zu sorgen, daß das Schreiben in Leipzig außer Kraft gesetzt würde. Gleichzeitig verständigte sich das Bürgerkomitee mit dem Regierungsvertreter darauf, eine Aktenkommission einzurichten.

Dokument. Bürgerkomitee Leipzig. Legitimiert durch die Regierung. Selitrenny, Rita: Ausweis zur Erfüllung der Aufgaben zur Auflösung des ehemaligen Amtes MfS/AfNS im Bezirk Leipzig (alle Aufgabenbereiche) vom 5.12.1989 bis zur Auflösung, gestempelt und unterschrieben (unleserlich) durch den Beauftragten des Vorsitzenden des Ministerrates, Privatarchiv Sélitrenny. Mehr...

Im Laufe des 7.12.1989 gab es noch eine Pressekonferenz zum Maßnahmeplan, der von einer interessierten Öffentlichkeit positiv aufgenommen wurde. Gleichzeitig fand in Berlin eine Pressekonferenz der Regierung statt, in welcher der Leiter des AfNS, Wolfgang Schwanitz, von vielen Übergriffen auf das AfNS und seine Beschäftigten berichtete. Sogar mit Verhängung des Ausnahmezustand drohte er.

Unverdrossen verständigte sich dagegen das Bürgerkomitee Leipzig mit den Regierungsvertretern auf eine Kommission zur Sichtung der Akten des MfS. Hierzu wurde eine schriftliche Vereinbarung getroffen.52 Unterschrieben ist die Vereinbarung von Rosentreter, Köcher und Eppich einerseits sowie dem Bürgerkomitee, vertreten durch Kleinert, Scheibler und Hocquel. Die darin vereinbarte Klassifizierung, die Unterscheidung der Geheimhaltungs- und Wichtigkeitsgraden von Dokumenten und Aufzeichnungen ermöglichte es offenbar den Vertretern der Regierung, das Dokument zu unterzeichnen. Eine ähnliche "Klassifizierung" war schon von Hummitzsch am 5.12.1989 vorgeschlagen worden. Die Vernichtung von unbedeutenden Unterlagen wird in den Raum gestellt, jedoch soll eine Entscheidung darüber später getroffen werden.

Es war schon ein "Eiertanz", um die Ziele der Bürgerbewegung durchzusetzen, den Staat und seine Organe aber nicht endgültig zu verprellen und sie so weit als irgend möglich, einzubinden. Eine klare Richtung, aber vorsichtige Schritte.

Hinter dem Bürgerkomitee standen die Massen der Montagsdemos. Und eine solche stand bald wieder an. Die Kommission sollte am 12.12.1989 die Arbeit aufnehmen. Bedingt durch die vielen Aktentransporte nach Leipzig wegen der Auflösung der Kreisämter, verzögerte sich der Beginn der Tätigkeit auf den 18.12.1989. Damit begann jedoch die umfassende Information und Aufklärung über die Tätigkeit des Geheimdienstes MfS.

Am Sonntag den 10.12.1989 informierte das Bürgerkomitee auf einer Pressekonferenz ausführlich über die erfolgreiche Arbeit der Woche. Insbesondere wurde über die Aktensichtungskommission berichtet und Fachleute zur Mitarbeit aufgerufen.

Am darauf folgenden Montag wurden die Waffen des MfS durch die Volkspolizei aus der Runden Ecke abgeholt und in deren Depots gebracht. Somit war die Stasi in Leipzig in weiten Teilen entwaffnet. Das spielte dann bei der Demo am Abend eine große Rolle. Bis zum Ende des Jahres konnte die Aufarbeitung ab 18.12.1989 begannen und die erste wirklich umfangreiche Information der Bevölkerung am 22.12.1989 gegeben werden.

Gegen Ende des Jahres entstand die Idee eines landesweiten Treffens aller Bürgerkomitees der DDR in Leipzig. Die ersten Vorbereitungen begannen.

Initiative für Frieden und Menschenrechte, Struktur und Aufgaben der überregionalen Kontaktpersonen. Leipzig, 11.12.1989. Privatarchiv Sélitrenny. Mehr...

Mehr zum Thema überregionale Vernetzung. Demnächst mehr....Seite i.A.

Exkurs 1: Zersetzungsmaßnahmen und Einschleusung von IM

Der Apparat STASI war noch längst nicht tot. Er schien sogar kreativer zu werden. Das kann an den nachfolgenden Beispielen dargestellt werden:

1. Um den 12. Dezember 1989 herum behauptete Ilona Weber, bekannt als Koordinatorin beim Neuen Forum, daß Rita Sélitrenny von der IfM seit Jahren als IM und Offizier für das MfS arbeiten würde. Weber sagte sagte wortwörtlich: „Ich habe sie in Stasi-Uniform am Flughafen Leipzig gesehen.“ Diese ungeheuerliche Behauptung führte zum sofortigen freiwilligen Rückzug der Beschuldigten aus allen Aktivitäten des Bürgerkomitees bis kurz nach Weihnachten. Damit war eine der radikaleren Aktivistinnen des Bürgerkomitees erst einmal ausgeschaltet. Ein kleiner Etappensieg des MfS. Denn viele Leute im Bürgerkomitee glaubten Ilona Weber, da sie ja schon lange beim Neuen Forum tätig war. Außerdem kannte sie sowohl Falk Hocquel als auch Tobias Hollitzer aus vorangegangenen privaten Zusammenhängen. Webers Anschuldigung war seinerzeit nicht widerlegbar, da die MfS-Unterlagen bekanntlich unter Verschluß standen oder bereits vernichtet waren. Für das MfS zu arbeiten, galt als große Schande und bedeutete zu der Zeit den gesellschaftlichen Ruin. Das mußte auch Rita Sélitrenny erleben. Was damals noch niemand wußte: Ilona Weber stand seit dem 28. Mai 1969 mit wechselnder Kariere als IM "Marion Becker"53 in den Diensten des MfS.54 Was Ilona Weber ihrerseits nicht wußte, war, daß die von ihr zu Unrecht der Kooperation mit der Stasi Beschuldigte eine Vergangenheit in der kirchlichen und politischen Opposition der DDR hatte. Es waren nicht nur ihre Verwandten und enge Freund*innen, die ihren Widerstand gegen das System kannten. Nach einer kurzen Phase der Verzweiflung und nach Beratung kehrte Rita Sélitrenny zurück ins Bürgerkomitee. Sie wollte diese Demütigung auf keinen Fall kampflos hinnehmen.

Schließlich war es einer der Sprecher des Bürgerkomitees, Christian Scheibler, der Rita Sélitrenny sagte: „Ich glaube Dir. Mach bitte wieder im Bürgerkomitee mit.“ Erst in der Sitzung am 3. Januar 1990 des Bürgerkomitees forderte Ilona Weber selbstbewußt eine Entscheidung: “... entweder Rita oder ich... .“ Die Abstimmung verlor sie. Oder besser das MfS. Denn die angewandte Zersetzungsmethode funktionierte nicht mehr. Trotzdem konnte Ilona Weber noch am 12. Januar 1990 ein größeres Chaos beim Treffen der Bürgerkomitees bewirken. Doch das ist eine andere Geschichte!

2. Im Bereich des MfS-Dienstobjektes (DO) in Leipzig-Leutzsch gab es Hinweise auf Fahrzeugbewegungen. Eine sofortige Kontrolle vor Ort war zunächst ohne Befund. Jedoch fand man in der Nähe des DO die Unterkunft der ehemaligen Wach- und Sicherungseinheit. Weil es das Bürgerkomitee ziemlich erstaunlich fand, an einem Sonntag dort fast 100 Leute und viel Gerät anzutreffen, diskutierten die Mitglieder ausführlich darüber und beschloßen, das Objekt Leutzsch ständig mit 2 Personen zu bewachen, um die Auflösung besser zu kontrollieren. Weil aber die Personaldecke sehr dünn war, gab es niemanden, der diese Arbeit übernehmen konnte. Auf einmal meldete sich jemand aus der Kirchengemeinde Leipzig-Mölkau. Weil die Gemeinde sogar die Lohnkosten für diese Tätigkeit übernehmen wollte, schöpfte niemand im Bürgerkomitee Verdacht und so erteilten sie in der Versammlung ihrem neuen Mitglied weitgehende Befugnisse für den Leutzscher Bereich. Erst viele Jahre später stellte sich heraus, daß der Betreffende ein noch aktiver IM des MfS gewesen war. Sein letztes dokumentiertes Treffen mit dem MfS ist auf den 13.11.1989 datiert. Er hatte u.a. einen weiterlaufenden Auftrag zur Bespitzelung der SDP erhalten. Es gelang ihm - oder besser seinem Auftraggeber - wahrscheinlich noch viele Unterlagen vernichten zu lassen. Hier verlief die Auflösung für das MfS wunschgemäß.55

3. Wenn auch einerseits ehema­lige Inoffizielle Mitarbeiter des MfS ver­suchten, eine "kontrol­lierte Besetzung" zu inszenieren56, wurden diese Akteure sehr schnell von der Realität überrollt. Zwar scheint die These bedenkens­wert, daß "das MfS [...] über einen längeren Zeitraum - bereits über ein Jahr vor der Grenzöffnung - gewußt [habe], daß die DDR nicht mehr zu halten sei.“57 Ob allerdings die Behauptung "Die Bürgerkomitees sind bewußt als Ventil für die Bevölkerung eingesetzt worden und haben sich nicht etwa selbst zusammengefunden" stimmt, mag erheblich bezweifelt werden. Vom Ende her betrachtet, war es wohl kaum das Ziel der Herrschenden, den eigenen Staat DDR vollständig untergehen zu lassen. Und genau das passierte am 2.10.1990. Es sei denn, das MfS war doch nur der Zauberlehrling. „Walle, Walle …“

4. Unglaubwürdig ist auch die Behauptung des ehemaligen Offiziers und MfS-Kaderlei­ters Günter Möller:

"Die Stasi hat die Stasi aufge­löst!"58 Auch der ehemalige DDR-Innenminister Dr. Peter-Michael Diestel behauptete immer wieder, daß das MfS über ein halbes Jahr lang die Selbstauflösung vorangetrieben hätte. Dabei wäre seit Anfang 1989 ausreichend Zeit gewesen, um die wich­tigen Akten zu vernichten. Übriggeblieben sei nur das, was vom MfS auch tatsächlich hinterlassen werden wollte59. Viel­leicht hat Möllers These der "kontrollierten MfS-Auflö­sung" in einigen Regionen ihre ad­äquate Entspre­chung, all­gemeingültig ist sie nicht. Späte­stens in der alltäglichen Praxis lief dann doch vieles ganz anders ab, als es bei einem vom MfS geplanten Szenario wün­schenswert gewesen wäre.

Die wenig beherrschbare Situation und die Ab­läufe wurden letztendlich von den unterschiedli­chen Akteu­r*innen geprägt.

Exkurs 2: Wer war das Bürgerkomitee?

In den ersten Dezembertagen des Jahres 1989 versammelten sich Menschen, die in den Räu­men der zentralen, regionalen und manchmal auch lokalen Staatssicherheitsämter ein ge­meinsames Ziel ver­folgten: deren Entmachtung. Rasch tauchte für diese Gruppen die Bezeich­nung "Bürgerkomitee" auf. Woher dieser Be­griff stammt, wer ihn prägte, ist bis heute nicht eindeutig gesichert. Die Modrow-Regierung nahm ihn jeden­falls zu einem späteren Zeitpunkt auf und verabschie­dete so­gar noch eine Verordnung zur Tä­tigkeit die­ser "basisdemokratischen" Bürgerkomitees.60 Im Gesetz wies sie den Bürgerkomitees mit großer Verspätung lediglich eine Vermitt­lerrolle zu. Doch tatsächlich hatten sie in manchen Regionen längst das Zepter des Handelns in die Hand genom­men. Ich teile nicht die Auffassung von Richter, daß die Re­gierung die Bürgerkomitees mit diesem Gesetz legitimierte. Tatsäch­lich wäre bei strikter Gesetzesbefolgung eine Rückab­wicklung der faktischen Machtverhältnisse zu Lasten der Bür­gerkomitees erfolgt.61

Für Leipzig ist die öffentliche Ver­balgeburt verbürgt. Jo­chen Läßig sprach am 4. Dezember 1989 für das Neue Forum auf der wö­chentlichen Montagsdemonstra­tion. In jener Rede forderte er die Ein­berufung eines Bür­gerkomitees - jetzt und sofort.62

Erst später tauchte zunehmend die Bezeichnung "Bürgerbewegung" auf.63 Mielke hatte bereits im Frühsommer 1989 versucht, das Phänomen des für ihn unstrukturierten Widerstandes in Worte zu fassen:

"Die jüngste Entwicklung im Innern der DDR ist gekennzeich­net durch eine erhebliche Zunahme von Versuchen der Organi­sation und Durchführung öffentlichkeitswirksamer provokato­risch-demonstrativer Handlungen seitens feindlicher, oppo­sitioneller und anderer negativer Personenkreise. Dabei handelt es sich unter anderen um den unter vorgetäuschter Bezugnahme auf den Weltumwelttag für den 4. Juni 1989 geplanten und verhinderten sogenann­ten Pleißemarsch in Leipzig, mit dem u.a. vorgesehen war, durch eine hohe Öffentlichkeitswirksamkeit Sympathisanten zu gewinnen und Massen "in Bewegung zu bringen".64

In diesem Sinne betrachtet hatte Mielke recht: den Menschen gelang es mit der Gebäudebesetzung und ihrer nachfolgenden Konstituierung als "Bürgerkomitees" nicht nur eine hohe öf­fentliche Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern sie verfügten über so viel Strahlkraft, daß immer wieder weitere Personen zur Mithilfe in den verschiedensten Formen (sei es durch Spenden, tatsächliche Mitarbeit oder durch Tips und Ratschläge zur Sache) motiviert wurden. Bürger*innen bewegten andere Bürger*innen und so wurden einige Menschen tatsäch­lich "in Bewegung ge­bracht".65 Und trotzdem ist der jetzt fast ausschließlich be­nutzte Terminus "Bürgerbewegung" nicht vollkommen mit der Bezeichnung "Bürgerkomi­tee" gleichsetzbar.

Bür­gerbewegung ist umfassender in seiner Bedeutung und hat seine Wurzeln in der oppositio­nellen DDR-Szene. Die Stärke und Identität dieser Ost-Bür­gerbewegung (die sehr wohl als Neue Soziale Bewegung Ost be­wertet werden muss)66 lag in ihrer biographischen Widerstands­erfahrung und individuellen Unabhängigkeit.67 Zwar engagier­ten sich zahlreiche "Bürgerrechtsbewegte" in den Bürgerkomi­tees, aber bei weitem nicht alle Bürgerkomiteemitglieder kamen aus die­sem gesell­schaftlichen Milieu.

Die Bürgerbewegungen in der DDR bezogen sich grundsätzlich nicht auf "das Volk", sondern bildeten sich analog der Neuen Sozialen Bewegungen West, um in kleinen Struktureinheiten gesellschaftspolitische Anliegen umzusetzen. Wenn zustimmend angenommen wird, daß eine Bewegung von unten nicht im Sinne einer ein­heitlichen Bewegung wirkt, sondern entsprechend der Vielfalt der jeweiligen Anliegen höchst differenziert, so könnte die Bildung von Bürgerkomitees als ein Partikel einer gesamten Bürgerbewegung Ost betrachtet werden.

Anmerkungen:

1 Das ZK der SED hatte Honecker zum sofortigen Rücktritt gezwungen und seine Absetzung beschlossen, dieser erzwungene Wechsel trägt eindeutig putschähnliche Züge.

2 1989/90: Auflösung der DDR-Staatssicherheit. Ein zentrales Ereignis der Friedlichen Revolution. Materialien zur Tagung in der Gedenkstätte Museum in der "Runden Ecke" Leipzig, 3.12.-5.12.2004, Leipzig 2004.

3 BV für Staatssicherheit, Abteilung XV (AKG) 12.10.1989, Privatarchiv Sélitrenny.

4 BV für Staatssicherheit, AKG, Mitschrift zum Sender Leipzig, 2.12.1989 um 10.10 Uhr. In: Privatarchiv Sélitrenny.

5 Christian Scheibler ist Erstbesetzer der Runde Ecke und wurde zu einem der Sprecher des Bürgerkomitees Leipzig gewählt.

6 Andreas Müller hatte sein Theologiestudium beendet. Er übernahm im Rathaus der Stadt Leipzig Verantwortung in der sich neu gründenden Verwaltung. Unter dem ersten frei gewählten Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Hinrich Lehmann-Grube, wurde Müller zum Stadtrat (später Beigeordneter) Allgemeine Verwaltung ernannt. Scheibler wurde unter ihm Amtsleiter.

7 Süß, Walter: Entmachtung und Verfall der Staatssicherheit. Ein Kapitel aus dem Spätherbst 1989. In: Der Bundesbeauftragte, BF informiert 5/1994, S 55.

8 Rogge, Joachim: 135 Ki­lometer erschlossene Akten. In: Gene­ralanzeiger, 30. Juni 1995, S.4; Krauß, Matthias: Akten-Schnipsel werden wieder ge­klebt. Brandenburger Gauck-Behörde bekommt mehr Arbeit. In: Berliner Zeitung, 3. April 1995, S.21; Opitz, Olaf: Zerris­sene Schicksale. In: Focus, 30. September 1996, S.44ff; Broder, Henryk M.: Deutscher Gruß zur Mittagszeit. In: Spie­gel 45/1996, 4. November 1996, S.85ff.

9 Protokoll und Ergänzungsprotokoll vom 5.12.89 als Anlage 1. Privatarchiv Sélitrenny.

10 Gespräch mit Dr. Helmut Warmbier über sein Telefonat mit Bärbel Bohley. In: Bürgerkomitee Leipzig (Hrsg.): Stasi intern. Macht und Banalität. Leipzig 1991, S. 25 - 27

11 Erst am 11.12.1989 wurde das interne Informationssystem nachträglich aufgeschrieben. Vgl.: Struktur und Aufgaben der überregionalen Kontaktpersonen der IfM als Anlage 8. Privatarchiv Sélitrenny.

12 Rita Sélitrenny war seit dem Herbst 1989 Mitglied der IfM Leipzig.

13 Privattelefone waren in der DDR Mangelware. Der (Doppel-)Anschluß bestand nur deswegen, weil ihr Vater als schwerstbeschädigter Invalidenrentner ihn sich schwer erkämpft hatte. Aber dennoch war der vorhandene Telefonanschluß in den 1980er Jahren ein Glücksumstand für das MfS, konnten doch damit unzählige Gespräche der in einer OPK überwachten Rita Sélitrenny abgehört werden.

14 Mitglied des Neuen Forums.

15 Sprecher der AG Menschenrechte und Mitglied der IFM.

16 Mayer, Thomas: "Wille des Volkes". Heute vor 30 Jahren wurden in Leipzig die Dienststellen der Staatssicherheit besetzt. Bürgerrechtler erinnern sich. In: Leipziger Volkszeitung, 4.12.2019, S.16.

17 Der Bundesbeauftragte, BF informiert 5/1994, S. 63 und Hollitzer, Tobias: "Wir leben jedenfalls von Montag zu Montag". Zur Auflösung der Staatssicherheit in Leipzig. Erste Erkenntnis und Schlußfolgerungen, Der Bundesbeauftragte, Reihe B, Analysen und Berichte Nr. 1/99, Berlin 1999; S. 120.

18 Der Bundesbeauftragte, BF informiert 5/1994 S. 63 und Der Bundesbeauftragte, Reihe B Nr. 1/99, S. 121.

19 Tetzner, Reiner: Leipziger Ring. Aufzeichnungen eines Montagsdemonstranten Oktober 1989 bis 1. Mai 1990. Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt am Main 1990, S. 68/69; S. .

20 Anlage 1 und "Maßnahmeplan des Bürgerkomitees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle im Bereich der inneren Sicherheit vom 6.12.1989" als Anlage 6 und "In Präzisierung des Maßnahmeplanes des Bürgerkotees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrollen im Bereich der inneren Sicherheit Leipzig vom 6.12.1989 Punkt 7", als Anlage 7, alle Privatarchiv Sélitrenny.

21 Bürgerkomitee Leipzig, Mitgliederliste 18.3.1990, Privatarchiv Sélitrenny.

22 Anlage 1, Seite 5, Privatarchiv Sélitrenny.

23 Tetzner, a.a.O., S. 68/69.

24 Kurz darauf ließ das Bürgerkomitee eigene Siegel anfertigen, Rita Sélitrenny bekam die Petschaft mit der Nummer 05, Privatarchiv Sélitrenny.

25 Schnur war vor allem den IfM-Mitgliedern Werner Fischer (der damalige Lebensgefährte von Bärbel Bohley) und dem Ehepaar Waltraud und Gerd Poppe als Rechtsanwalt bekannt. Er habe sich 1988 darum bemüht, ihre Interessen zu vertreten. Erst im März 1990 wurde bekannt, daß Schnur jahrelang als IM "Thorsten" und als IM "Dr. Ralf Schirmer" für das MfS gearbeitet hatte.

26 u.a. die Mitarbeiter der BV Leipzig Rainer Ludwig, Günter Leubold, Horst Pinther, Günter Gasche, Roland Firesch.

27 Der Bundesbeauftragte, BF informiert 5/1994, a.a.O., S..

28 Protokollausschnitt aus der Versiegelung in einer Etage des BV Leipzig in Anlage 2, Privatarchiv Sélitrenny.

29 Karich, H.: Von der Demo in die "runde Ecke"! Am Montagabend zum ersten Mal keine Schreckensvision. Neueste Nachrichten vom 6.12.1989; ohne Seitenangabe.

30 Mayer, a.a.O., S.16.

31 Zur Begriffsentwicklung im Exkurs am Ende des Artikels.

32 Mayer: a.a.O., S.16.

33 Sélitrenny, Rita: Vorstellungen der Bürgerkomitees zur Verwaltung und Nutzung der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit – Anspruch und Wirklichkeit. Diplomarbeit, FU Berlin, Otto-Suhr-Institut, Berlin 1998.

34 Mayer, a.a.O., S.16.

35 Ebenda, S. 16.

36 Mühling, Bernd: In Leipziger Gustav-Mahler-Straße 1: Hauptrolle für Reißwolf und Säcke. Mitteldeutsche Neueste Nachrichten, 6.12.1989, ohne Seitenangabe.

37 Mitschrift eines unbekannten Mitarbeiters von einer Dienstberatung beim Leiter des AfNS Leipzig am 4.12.1989. In: Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern. Leipzig 1990, S. 51.

38 Vgl. dazu Anlage 1, Privatarchiv Sélitrenny.

39 BStU, Außenstelle Leipzig, IM-Vorgang "Kuppel", Reg.-Nr. XIII 944/60 und AIM 995/91; der IM "Kuppel" spionierte seit dem 11. August 1961 für das MfS, seine letzte Zusammenkunft mit seinem Führungsoffizier datiert auf den November 1989.

40 Mayer, a.a.O., S.16.

41 Unklar ist noch, ob selbiger Jurist namens Lehmann identisch gewesen ist mit dem MfS-Oberstleutnant Bernd Hopfer. Der für Leipzig durch das MfS Beauftragte arbeitete am Anfang sehr effizient im dunklen. Seit dem April 1990 setzte er sich in Berlin als Mitglied der Aktensichtungsgruppe (zu der auch die Autorin dieses Beitrages zunächst als Mitglied, später als Leiterin gehörte) fest und wurde am 3. Oktober 1990 als Mitarbeiter in die "Gauckbehörde" übernommen.

42 Anlage 1, S. 6, Privatarchiv Sélitrenny.

43 Lindenberg, Andreas: Bürgerkomitee in Leipzig will Licht ins Dunkel bringen. LVZ 6.12.1989, ohne Seitenangabe.

44 Anlage 3, S. 1.

45 Ebenda, S. 2.

46 Anlage 4 dieser Arbeit. ohne Datum, ohne Unterschrift nur mit einem Stempel versehen. Privatarchiv Sélitrenny.

47 Der Ausweis von Rita Sélitrenny als Anlage 5 dieser Arbeit beigelegt datiert vom 5. Dezember 1989 und soll bis zum Ende der Auflösung gültig sein. Frau Sélitrenny ist berechtigt, alle Aufgabenbereiche wahrzunehmen, Privatarchiv Sélitrenny.

48 Rita Sélitrenny erhält die Petschaft Nr. 5, dargestellt in der Anlage 9 dieser Arbeit.

49 Anlage 3, S. 2.

50 Vgl. dazu u.a.: Leipziger Volkszeitung, 8.12.1989, S.1 und Sächsisches Tageblatt am 7.12.1989.

51 Bürgerkomitee Leipzig: Maßnahmeplan des Bürgerkomitees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle im Bereich der inneren Sicherheit. Leipzig, 6.12.1989. Anlage 6, Privatarchiv Sélitrenny.

52 Bürgerkomitee Leipzig: In Präzisierung des Maßnahmeplanes des Bürgerkomitees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrollen im Bereich der inneren Sicherheit - Leipzig vom 6.12.1989, Punkt 7, wird vereinbart. Anlage 7, Privatarchiv Sélitrenny.

53 BStU, Außenstelle Leipzig, IM-Vorgang "Marion Becker" Reg.-Nr. XIII 367/69 und AIM 1258/79.

54 Vergleiche Der Bundesbeauftragte, Reihe B, Nr. 1/99, S. 177.

55 Ebenda, vergleiche Reihe B, Nr.1/99, S. 177.

56 Partner gesucht. In: Spiegel 32/96, 5. August 1996, S.8.

57 Richter, Claire: Hans Modrow ließ Akten vernichten. Salzgitter hat jetzt Beweismittel vom MfS. Braunschweiger Zei­tung, 4. Dezember 1990. In: Bürgerkomitee Sachsen-Anhalt e.V. (Hrsg.): Was im Herbst begann..., Magdeburg o.D. (ca. 1997), S.268.

58 Halter, Hans: "Keiner wird verschont". In: Spiegel 4/1995, 18. Januar 1995, S.114.

59 "Gauck hat nur die Akten, die er bekommen sollte". In: Neues Deutschland, 23. Juni 1998, S.13.

60 Der Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik: Verordnung über die Tätigkeit von Bürgerkomitees und Bürge­rinitiativen vom 1. März 1990, Berlin.

61 Richter, Michael: Die Staatssi­cherheit im letzten Jahr der DDR. Schriften des Hannah-Arendt-Insti­tuts für Totalitarismusforschung. Weimar/Köln/ Wien 1996, S.78.

62 Zwahr, Hartmut: Ende ei­ner Selbstzerstö­rung. Göttingen 1993, S.119.

63 Die Zahl der Bürgerbewegten in der DDR war wirklich er­staunlich gering. Nicht einmal 500-600 Personen sollen es 1989 nach Erhebungen des MfS gewesen sein. Friedrich-Ebert-Stiftung: Grundlagenforschung und aktuelle Beiträge. In: FES-INFO 2/98, S.38.

64 Ministerium für Staatssicherheit, Der Minister: Schrei­ben an alle Leiter der Diensteinheiten. VVS o008-46/89, Ber­lin 13. Juni 1989, S.1.

65 So ähnlich auch Müller-Enbergs, Helmut: Bündnis 90 Brandenburg vor der Spaltung. In: Schmid, Josef sowie Frank Löb­ler und Heinrich Tiemann: Probleme der Einheit. Organisa­tionsstrukturen und Probleme von Parteien und Verbänden. Marburg 1994, S.45.

66 Probst, Lothar: Ostdeutsche Bürgerbewegungen und Perspektiven der Demokratie. Köln 1993.

67 Templin, Wolfgang: What is left? In: Probst, Lothar (Hrsg.): Kursbestimmung Bündnis 90/Grüne. Eckpunkte künf­tiger Politik. Köln 1994, S.174.