"Hat nicht wenigstens die Stasi die Stimmung im Lande gekannt?"

MfS und SED im Bezirk Karl-Marx-Stadt.

Von Holger Horsch1

Der Druck wächst

Anfang Dezember verstärkte sich der Druck auf SED und Staatssicherheit.248 Zur Montagsdemonstration am 4. Dezember in Karl-Marx-Stadt waren wieder über 50.000 Menschen auf der Straße, in den Kreisstädten sah es ähnlich aus.249 Ein Warnstreik in Klingenthal und die Forderung des Neuen Forums in Karl-Marx-Stadt nach einem Generalstreik, der endlich Veränderungen erzwingen sollte, spitzten die Lage zu.250 Die zentrale und die regionale staatliche Verwaltung wurden handlungsunfähig; in Marienberg versiegelten Bürger die Diensträume des Rates des Kreises.251 Schon am 24. November hatten zwei inoffizielle Mitarbeiter unabhängig voneinander ihren für die Abteilung XX tätigen Führungsoffizieren berichtet, dass der Vertreter des Neuen Forums, Dr. Martin Böttger, bei der Beratung des unabhängigen Untersuchungsausschusses des Bezirkes am 29. November fordern wolle, die Akten von durch das MfS politisch Verfolgten offenzulegen. Noch bedrohlicher erschienen vermutlich Pläne, nach denen in allen Bezirksdienststellen durch Menschenansammlungen und eventuelles Stürmen der Objekte die Herausgabe aller zu Bürgern angelegten Akten erzwungen werden sollte. Das Neue Forum wolle sich in den Besitz der als "V-Männer-Kartei" bezeichneten IM- Unterlagen bringen und sie der Öffentlichkeit preisgeben.252 Eine direkte Reaktion der Geheimdienstler ist nicht erkennbar, aber es häuften sich Anfang Dezember Anzeigen von Bürgern bei Polizei und Staatsanwaltschaften über vermutete Aktenvernichtungen.253

Erste Begehungen als Ventil

Die leitenden Mitarbeiter des Geheimdienstes erkannten, das Ventile für den angestauten Druck geöffnet werden mussten. So konnten fünf Vertreter der Bürgerinitiative des Karl-Marx-Städter Stadtteils Adelsberg am 29. November die dortige Dienststelle des Bezirksamtes besichtigen, selbstverständlich nur ausgewählte, unverfängliche Räume.254 Die dazu ebenfalls eingeladene SED-Bezirkszeitung "Freie Presse" berichtete am 1. Dezember darüber. Auch Fotos konnten aufgenommen werden.255 In Schwarzenberg wurde nach der Demonstration am 4. Dezember eine Gruppe von vier Jugendlichen ins Kreisamt eingelassen und durch verschiedene Räume geführt.256 Am Nachmittag des 4. Dezember begannen Mitglieder der Bürgerinitiativen die Dienststellen der Staatssicherheit zu überwachen, ausfahrende PKW der Mitarbeiter zu kontrollieren und die Öffnung der Kofferräume zu fordern.257 […]

Krisenenstimmung

Am selben Tag hatte sich die Leitung des Bezirksamtes versammelt, um über die Zukunft des Geheimdienstes zu beraten. Sehr emotional war gerade über die Sicherheit der in den Dienststellen lagernden Waffen debattiert worden, da platzte 16.00 Uhr die Meldung vom "gewaltsamen Eindringen einer großen Menschenmenge" in das Bezirksamt Erfurt in die Runde und schien die Befürchtungen zu bestätigen.261 Anschließend wurden zwei weitere Fernschreiben von Schwanitz verlesen. Eins enthielt die Aufforderung an die Tschekisten, ihre Dienstobjekte mit allen Mitteln außer mit Waffengewalt zu verteidigen. Das zweite wurde mit Erleichterung aufgenommen. Schwanitz informierte darüber, dass er mit Vertretern der Bürgerbewegung verhandelte und diese in einem Aufruf zur Gewaltlosigkeit mahnten. Er untersagte jegliche Vernichtung dienstlicher Unterlagen. Gehlert und die versammelten Genossen fühlten sich in ihrer Absicht, die Opposition in das System zu integrieren, bestätigt, wobei ihre Vorstellungen weit von der Wirklichkeit und erst recht vom Willen der Bürgerbewegung entfernt lagen. Mit kaum noch beherrschter Stimme appellierte der Bezirkschef zum Abschluss seiner letzten Dienstversammlung, alle Vorbehalte gegeneinander zurückzustellen und für den Erhalt der Macht der SED zusammenzustehen.262 […]

Der 5. Dezember. Anfang vom Ende

Eine Aktennotiz des Diensthabenden des Amtes vom 5. Dezember hält in nüchternen Worten fest, wie am Vortag die Vertreter der Bürgerbewegung die Handlungsmöglichkeiten der Staatssicherheit weiter eingeschränkt hatten. Man hatte davon Kenntnis erhalten, dass die Staatssicherheit sieben Tonnen Unterlagen in der Papierfabrik Raschau vernichten wollte. Dagegen richteten sich die Kontrollen der Fahrzeuge von Mitarbeitern am Dienstobjekt Jagdschänkenstraße, aber auch am Gebäude des Medizinischen Dienstes. […] Am nächsten Morgen konnten Mitglieder der Bürgerbewegung einige Räume des Stasigebäudes an der Jagdschänkenstraße, darunter das Archiv, besichtigen.264 Der Bezirksstaatsanwalt verbot dem Bezirksamt schriftlich die Vernichtung von Akten, und seine Mitarbeiter versiegelten zusammen mit Vertretern der Demokratisch-Oppositionellen Plattform im Laufe des Tages alle Archive, die Panzerschränke und einen Teil der Räume. Im Dienstobjekt Juri-Gagarin-Straße wurden durch den kontrollierenden Staatsanwalt die in der "Schießhalle" in Containern eingelagerten Akten aus den Kreisdienststellen gesichert.265

Auf der SED-Bezirksleitungssitzung am 5. Dezember musste der 1. Sekretär, Norbert Kertscher, zur Lage des Geheimdienstes einschätzen, "dass die Apparate auch in ihrer Funktion eingeschränkt wurden oder gänzlich aufhören zu funktionieren. Und vergessen wir nicht die psychologische Wirkung, die von diesen Handlungen ausgeht. Das ist keine Verunsicherung mehr, sondern ein Infragestellen ihrer Funktion und Tätigkeit."266 Das war eine Einschätzung, die auch aus heutiger Sicht noch zutreffend ist. Gehlert bezeichnete die Besetzung der Dienststellen als Psychoterror, der in persönlichen Terror umschlagen würde. Er wollte "Dokumente" nur offenlegen, wenn ein Beschluss der Volkskammer vorläge. […] Wie der Bezirksstaatsanwalt hatte auch die Polizei – im nachhinein betrachtet zweifellos erfolgreich – die Flucht nach vorn angetreten. In seinem Diskussionsbeitrag erklärte der Bezirkspolizeichef Peter Müller, es müsse ein Konsens mit allen gesellschaftlichen Kräften gesucht werden. Um bewaffnete Konflikte möglichst auszuschließen und Ruhe und Ordnung zu erhalten, sei die Beteiligung der Volkspolizei am Versiegeln der Räume nicht zu vermeiden gewesen. Die Besetzung der Dienststellen des Amtes bezeichnete er als "eine beschämende Situation."267 Die Beteiligung von Polizei und Staatsanwaltschaft an den Aktionen der Bürgerbewegung gegen die Staatssicherheit zeigt, dass sie sich zu einem wesentlichen Einflussfaktor entwickelt hatte.

Die Abwicklung

Alle Ereignisse im Zusammenhang mit dem Bezirksamt Karl-Marx-Stadt nachdem 5. Dezember 1989 fallen unter den Begriff Abwicklung. Mit der Versiegelung von Dienst-räumen – die Mehrzahl der Kreisämter wurde nach dem Beschluss über deren Auflösung am 10. Dezember gesichert268 – und mit der Ablösung von Generalleutnant Gehlert als Leiter des Bezirksamtes durch seinen ersten Stellvertreter Oberst Schaufuß am 7. Dezember begann das Ende des Staatssicherheitsdienstes im Bezirk Karl-Marx-Stadt.269 […] Mit dem Ausscheiden Gehlerts schien der Wille, die Entwicklung zu beeinflussen, gebrochen. Am 6. Dezember gründete sich ein Rat der Mitarbeiter, der deren "Stimme und Meinung" gegenüber der Leitung Gehör verschaffen wollte.271 Gehlerts Kommentar: "Es ist unüblich, in militärischen Organen einen Rat zu bilden." Trotzdem nahmen er und Schaufuß an dessen Beratung am 7. Dezember teil.272[. […] Immer wieder brachten die Mitarbeiter zum Ausdruck, dass sie sich von der SED-Führung missbraucht fühlten und mit diesen "Verbrechern" nicht gleichgesetzt werden wollten. Die Enttäuschung über die Leitung des Amtes für Nationale Sicherheit schlug sich in der Forderung nieder, Schwanitz solle zurücktreten.274 Alle Hoffnungen und Planungen für einen Verfassungsschutz zerschlugen sich im Januar 1990.“

 

Anmerkungen bei Horsch. S. FN 1

 

1Auszug aus Horsch, Holger: "Hat nicht wenigstens die Stasi die Stimmung im Lande gekannt?"

MfS und SED im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Berlin 1997