Die Besetzung der „Runden Ecke“ am 4. Dezember

Zitate aus Tobias Hollitzer in Horch und Guck 29, 02/2000, S. 1-13

Um auch an diesem 04.12.1989 das Prinzip der Gewaltlosigkeit gewährleisten zu können, hatte das Neue Forum beschlossen, in der Leipziger Stasi-Zentrale vorzusprechen. Trotz langer Diskussionen zeigte sich die Leitung des Hauses nicht bereit, eine Abordnung von 30 Bürgern in die Diensträume einzulassen. Erst unter dem Druck der ca. 150.000 Demonstranten dieses Montags, die sich bereits dem Dienstgebäude näherten, ging die Staatssicherheit auf den Vorschlag ein und gab die Zusage, Räume besichtigen und versiegeln zu lassen. Die Losungen der Demonstranten forderten an diesem Tag unmissverständlich die sofortige Auflösung des MfS. [...]

Nicht nur in Erfurt und Leipzig waren die Bezirkszentralen der Staatssicherheit von Bürgergruppen besetzt worden, sondern auch in Suhl und Rostock. In Suhl forderten die Demonstranten das gleiche Vorgehen wie in Erfurt und Leipzig. Die dortige Stasi versuchte die Bürger durch den Einsatz von Tränengas abzuwehren, musste gegen 23.00 Uhr einer Besichtigung aber doch zustimmen. Auch in vielen Kreisämtem konnten Stasi-Offiziere an diesem Tag das Eindringen der Bevölkerung nicht verhindern. [...]

Am nächsten Tag hieß es in der Parteiinformation des Amtes für Nationale Sicherheit: „Offenkundig im Zusammenhang stehend mit dem am 4. Dezember 1989 über die Massenmedien der DDR verbreiteten Aufruf, Akten vor der Vernichtung zu sichern, verschafften sich am 4. Dezember 1989 in mehreren Bezirken und Kreisen Kräfte von Bürgerbewegungen – unter Einbeziehung von Staatsanwälten - Zutritt zu Dienstobjekten der Bezirks- und Kreisämter, wobei Panzerschränke und Räumlichkeiten besichtigt und versiegelt, Angehörige und von ihnen mitgeführte Aktentaschen sowie PKW kontrolliert und die geordnete Dienstdurchführung erheblich beeinträchtigt wurden.“ Nach ausführlichen Berichten über die Situation im Bezirksamt Erfurt und Dresden wurde zu Leipzig lapidar festgestellt: „Im Zusammenhang mit der Demonstration von Bürgerbewegungen in Leipzig verschafften sich ca. 50 Personen mit der Drohung, weitere Demonstranten herbeizuordern, Zutritt zum Bezirksamt Leipzig und halten das Objekt an seinen neuralgischen Punkten besetzt. Das Bezirksamt ist handlungsunfähig.“

Hinter dieser kurzen Darstellung verbarg sich das ganze Dilemma der Staatssicherheit: Sie war ein wesentlicher Zielpunkt der Demonstrationen der letzten Wochen gewesen und versuchte sich nun, durch Gespräche dem Druck kurzzeitig zu entziehen. Diese Taktik führte am folgenden Tag, dem 05.12.1989, nach der Fernseh-Berichterstattung, vor allem über die Besetzung in Leipzig, fast zwangsläufig zur Besetzung weiterer Dienststellen.

Fortgang der Besetzung
Hatte die Leipziger Führung der Staatssicherheit noch am 4. Dezember gemeint, dass sie nur diesen Montag zu überstehen habe, musste sie jedoch am Dienstag feststellen, dass die Bürger es ernst meinten. Bereits nach wenigen Stunden kamen sie wieder und forderten weitere Maßnahmen zur Verhinderung der gegen das eigene Volk gerichteten Tätigkeit und vor allem zur Sicherung der Akten. Ähnliches wurde auch aus den anderen besetzten Objekten gemeldet.

Die Verhandlungen mit den örtlichen Offizieren gestalteten sich äußerst zäh, da diese vor allem versuchten, Zeit zu schinden. Dies radikalisierte die Forderungen der anwesenden Bürgervertreter zunehmend. In dieser Situation bildeten sich in vielen Orten die Bürgerkomitees zur Stasi-Auflösung, die zu diesem Zeitpunkt oft noch andere Namen trugen. Regierungschef Hans Modrow (SED) entsandte daraufhin in jeden Bezirk einen von ihm persönlich legitimierten Regierungsbeauftragten, der gemeinsam mit einem Vertreter des Ministerium des Inneren (MdI) die Situation vor Ort regulieren sollte. Sie hatten die Aufgabe: „ Durchsetzung der Sicherung der Dienstobjekte des AfNS [...] Wiederherstellung und Gewährleistung der Gesetzlichkeit [...] Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit [... und] Sicherung von nicht berechtigter Einsichtnahme in Schriftgut des AfNS]“. Diese Maßnahmen sollten im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft mit den Bürgerbewegungen durchgesetzt werden. Zusätzlich reiste auch ein Offizier der Berliner Staatssicherheit in die Bezirke, der sich zumindest in Leipzig nicht offiziell vorstellte und so seine Fäden im Hintergrund ziehen konnte. Später stellte sich heraus, dass auch ein Teil der Regierungsbeauftragten Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) des MfS waren.[...]

Maßnahmeplan Kompromiss und Vorbild für andere
Am Mittwoch, dem 06.12.1989. gelang es dem Leipziger Bürgerkomitee nach 11 stündiger Verhandlung, einen „Maßnahmeplan zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle im Bereich der inneren Sicherheit“ durchzusetzen. Diesen gemeinsamen Maßnahmeplan unterschrieben alle verantwortlichen Funktionäre der Regierung und des Sicherheitsapparates sowie neun Mitglieder des Bürgerkomitees. Sie hatten sich die Rolle als Verhandlungspartner des alten Regimes erkämpft. Die zentrale Festlegung in diesem Dokument lautete: „Das Bezirksamt und die Kreisämter für Nationale Sicherheit wurden auf Betreiben des Bürgerkomitees[,] auf Entscheid[ung] des Amtes für Nationale Sicherheit[,] geschlossen“. Acht Tage, bevor Modrow das AfNS am 14.12.1989 auflöste, wurden in Leipzig vor Ort bereits Fakten geschaffen, die einer Auflösung gleichkamen. In Dresden wurde ebenfalls an diesem Tag die Schließung des dortigen Bezirksamtes erreicht.[...]

Der zentrale Runde Tisch in Ostberlin erhob auf seiner ersten Sitzung am 07.12.1989 die Forderung nach Auflösung des Sicherheitsdienstes und des Verbotes einer Neubildung vor freien Wahlen. Diese deutliche Position des Runden Tisches stärkte die Rolle der Bürgerkomitees und unterstützte sie wesentlich bei der Auflösung des Apparates in den folgenden Wochen.

Der 07.12.1989 war auch der letzte Arbeitstag von Generalleutnant Hummitzsch, dem langjährigen Leiter der Leipziger Bezirksverwaltung , der in einer Pressekonferenz noch sagte: „Eine solche Wachsamkeit der Bürger, wie ich das in den letzten Stunden erlebt habe bei den Aktivitäten am Kontakttelefon, [...] muss ich sagen, das hätte ich mir zu meiner aktiven Zeit gewünscht unter unseren Bedingungen.“ [...]

Erste Aktensichtung

Während in Berlin noch nach Möglichkeiten zur Vernichtung der Aktenbestände gesucht wurde, begann das Leipziger Bürgerkomitees bereits ab dem 08.12.1989 mit der Sichtung und Auswertung der Akten, um Erkenntnisse zu Struktur und Arbeitsweise des Apparates zu erhalten. Dies lief den Vorstellungen des Berliner Amtes und der Regierung Modrow diametral entgegen. Dennoch hoffte man offenkundig, durch die Mitarbeit von Stasi-Offizieren und der Militärstaatsanwaltschaft in der Aktensichtungskommission in Leipzig den Schaden möglichst gering zu halten. Den Regierungsbeauftragten in den anderen Bezirken wurde über die Leipziger Vereinbarung berichtet und vorgeschlagen, nach diesem Muster bei Forderungen nach Sichtung generell zu verfahren. Aus den anderen Bezirken kamen in den nächsten Tagen Vorschläge zur Vernichtung zumindest der Akten von lnofiziellen Mitarbeitern. So wurde von der „Arbeitsgruppe Staat und Recht“ des Neuen Forums Schwerin am 13.12.1989 ein entsprechendes Arbeitspapier vorgestellt.

Nach wenigen Tagen der Arbeit zeigte sich so bereits deutlich, dass es innerhalb der Bürgerkomitees sehr unterschiedliche Auffassungen über die mittel- und langfristigen Ziele gab. Einige plädierten ausschließlich für eine Deeskalationsstrategie und die bald mögliche Übergabe an die bestehenden Strukturen wie Volkspolizei oder Staatsanwaltschaft. Andere hingegen misstrauten den alten Strukturen und setzten sich für eine kontinuierliche Weiterarbeit der Bürgerkomitees ein. Diese Zielstellung wurde durch die massive Hinhaltetaktik seitens der staatlichen Vertreter ungewollt unterstützt, so dass sie sich letztendlich durchsetzte. Die meisten Bürgerkomitees formulierten als neues Ziel die nachweisbare Auflösung des Apparates und die Verhinderung einer Neustrukturierung.

Eine wichtige Frage war von Anfang an, wie die Tätigkeit der Bürgerkomiteemitglieder arbeitsrechtlich zu handhaben sei. In Leipzig konnte nach zähen Verhandlungen beim Rat des Bezirkes eine „Freistellung für gesellschaftlich nützliche Arbeit“ erreicht werden. Später arbeitete das Bürgerkomitee formal als Ausschuss des Runden Tisches Leipzig und erhielt über diese Regelungen eine entsprechende Freistellung. So banal diese Fragen heute klingen mögen, damals waren sie für die Arbeit der Bürgerkomitees existentiell, trat die Friedliche Revolution nun in ein Phase, die nicht mehr nach Feierabend zu bewältigen war.

Überregionale Vernetzung- erstes Treffen in Leipzig
Um das weitere Vorgehen bei der Auflösung der Staatssicherheit DDR-weit besser koordinieren zu können, hatte das Bürgerkomitee Leipzig für Donnerstag, den 04.01.1990, zu einer ersten gemeinsamen Sitzung in die sogenannte „Runde Ecke“ ,die ehemalige Stasi-Bezirksverwaltung, eingeladen. Die Vertreter aus den jeweiligen Bezirken berichteten über den Stand der Auflösung und die dabei aufgetretenen Probleme. Am Ende des Treffens stellten die Beauftragten der Bürgerkomitees der Presse eine gemeinsame Erklärung vor, in der sie u.a. feststellten:
„Das Ministerium für Staatssicherheit stand außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle. Es hat maßgeblich dazu beigetragen, die Macht des SED-Apparates jedem demokratischen Einfluss zu entziehen. Somit war das Ministerium für Staatssicherheit das sichernde Werkzeug eines von Korruption durchsetzten Parteiapparates. Für die verfassungswidrige Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit trägt die SED Verantwortung. Eine Namensänderung kann sie hiervon nicht entbinden. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, gegen die SED-PDS wegen des Verdachtes verfassungswidriger Aktivitäten zu ermitteln. Hiervon leiten wir ab, daß die immer noch bestehenden Machtstrukturen der SED-PDS aufgelöst werden müssen.“

Offenkundig traf die erstmalige öffentliche Aufdeckung der Subordination der Staatssicherheit unter die Staatspartei SED einen empfindlichen Nerv. Nicht nur die Parteizeitung Neues Deutschland verfiel in hektische Betriebsamkeit. So verfügte der Bezirksvorstand der Leipziger SED-PDS den Wortlaut der Erklärung dem „Genossen Gysi sofort auf den Tisch“. Gysi war damals der neue Parteichef der SED-PDS. Auch der Leipziger Regierungsbeauftragte Peter Rosentreter schickte den Wortlaut noch in der Nacht per Fernschreiben nach Berlin.

Im Ergebnis dieser Zusammenkunft koordinierten die Bezirksbürgerkomitees ihr weiteres Vorgehen miteinander. Als Konsequenz der Presseerklärung vom 04./05.01.1990 hatten die Bürgerkomiteevertreter beschlossen, noch am Freitag, direkt nach der Veröffentlichung alle SED-PDS-Bezirks- und Kreisleitungen aufzusuchen, um die dort lagernden Akten der Abteilung Sicherheit zu versiegeln. Diese Abteilung hatte auch eng mit der Stasi zusammengearbeitet.