III. Die Gründung der Bürgerwache, des Bürgerkomitees und des Bürgerrates und ihre Organisationsstrukturen

8. Die Organisierung der Bürgerwache

Nachdem bereits einige am 4.12.89 inspizierte Diensträume, Archive und die Datenendstelle durch den Militärstaatsanwalt versiegelt wurden, war nicht sicher, dass damit weitere Aktenvernichtung unterbunden war.

Als erste Maßnahmen wurden von der Bürgerwache rund um die Uhr die versiegelten Räume und die gebäudeeigenen Zugänge bewacht, und bei begründetem Verdacht die Taschen der das Gebäude betre­tenden und verlassenden Angehörigen des MfS/AfNS kontrolliert.

Bis Mitte Dezember wurden die Kreisdienststelle und weitere Objekte (z.B. konspirative Wohnungen) in die Überwachung einbezogen. Anfangs gab es eine große Bereitschaft in der Bevölkerung und so waren bis zu 120 Personen in der Bürgerwache tätig. Ständig waren zwischen 8 und 35 Bürger als Wachposten im Einsatz. Hinzu kamen Bürger, die Kurier- und Beobachtungsaufgaben übernahmen.

Bild 21 Haupteingang der Bezirksverwaltung des MfS/AfNS im Dezember  Foto: Matthias Sengewald

Ulrich Scheidt hatte zu Beginn spontan die Leitung übernommen. Er koordinierte Aktivitäten, besorgte einen ersten Raum, Telefon und Schreibmaschine. In der Anfangszeit der Bürgerwache konnten relativ geordnete Wachabläufe organisiert werden, d.h. alle 2 Stunden wurden die Wachen abgelöst bzw. gewechselt. Das kurz darauf gegründete Leitungsgremium war im Wechsel rund um die Uhr in der Bezirksbehörde anwesend. Die Bürgerwache war dem Bürgerkomitee direkt zugeordnet.

Ursprünglich sollte die Bürgerwache bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 aufrecht erhalten bleiben. Es wurde jedoch immer schwie­riger, enga­gierte Bürger für die Bürger­wache zu gewin­nen. Schon in der Sitzung des Bürger­ra­tes vom 12.12. 1989 wurde festgestellt, dass die Bewa­chung wegen mangelnder Beteiligung in Frage gestellt war. Am 19.12 1989 wurde in der ganzen Stadt ein Flugblatt verteilt, das unter der Überschrift ”Es brennt“ Bürger“ zur Unter­stützung aufrief. Auch auf den Demos wurde zur Un­terstützung der Bürgerwa­che aufgerufen. Die Aufrufe hatten vorüber­gehend Erfolg, doch schon am 29.12.1989 erklärte der Bürgerrat, dass die Kontrol­len ab Januar nicht mehr durchführbar seien.

In den Protokollen des Bürgerrates und des Bürgerkomitees sind die Belastungen aufgeführt, mit denen die Bürgerwache konfrontiert war: Von Täuschung, von Bedrohung und Einschüchterung, von Verspot­tung der Wachdienst leistenden durch MfS-Angehörige, von MfS-Sendern, die noch in Betrieb sind, von Aktenvernichtung ist hierin die Rede.

Weiter heißt es im Protokoll vom 8.1.1990: ”In der Andreas­straße haben weiterhin ehemalige Mitarbeiter des MfS Zugang. Hier laufen Dinge, die wir nicht durchschauen und die uns beunruhigen. Am Donnerstag herrschte euphorische Stimmung beim MfS. Die BW kritisierte die destruktive Zusammenarbeit mit der Volkspolizei. Die Volkspolizei folgt den Anweisungen von MfS-Angehörigen, lässt Mitarbeiter ein und gibt Schlüssel weiter. Bürger­wache werden von der Volkspolizei ignoriert”[1]

Dennoch wurde die Bür­gerwache, wenn auch nicht im notwendigen Umfang, bis zur Beendi­gung des Hungerstreiks im April 1990 aufrecht erhalten.

Bild 22 Bürgerwache.  Foto: S. Fromm

Bild 23 Ausweis der Bürgerwache.  Archiv GfZ Fromm

9. Die Gründung des Bürgerkomitees

Mit der Besetzung ist die Macht über die Staatssicherheit den Bürgern der Stadt Erfurt in die Hände gefallen.

„Nach der Besetzung am 4. 12. 1989 musste ein Gremium geschaffen werden, das Entscheidungen zur weiteren Verfahrensweise treffen kann. Dieses Gremium sollte alle an der Besetzung Beteiligten einbeziehen und demokratisch aufgebaut sein, es musste sehr schnell arbeitsfähig sein. Da unsere Besetzung die erste in der DDR war, konnte auch mit anderen Bezirksstädten kein Austausch erfolgen und es bestand Angst vor gewaltsamen Übergriffen von beiden Seiten. Zwar war unsere Aktion von Gewaltlosigkeit geprägt, aber die Wut und der Hass gegen die Stasi war so groß, dass wir befürchteten, eine gewalttätige Zerstörungsaktion könne folgen. Damit wäre die relativ organisierte Besetzung in ein Chaos übergegangen und Gewaltlosigkeit wäre nicht mehr möglich gewesen. Außerdem wäre die Vernichtung der Akten auf andere Art weitergegangen und damit die Aufarbeitung unmöglich gemacht worden.

Da zu diesem Zeitpunkt weder die Stadtverordnetenversammlung noch der Rat der Stadt in irgendeiner Form von der Bevölkerung als legitimiert oder befugt angesehen wurde und damit auch nicht mehr berechtigt war, einzugreifen oder Entscheidungen zu treffen, beschlossen wir, ein parlamentarisches Gremium zu bilden, in dem paritätisch alle an der Besetzung beteiligten Vertreter von neuen und alten Parteien, Bürgerbewegungen und anderen Gruppen mitarbeiten sollten.“[2] 

Am Nachmittag des 5. Dezember 1989 findet die konstituierende Sitzung des „Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit“ im Sitzungssaal des Erfurter Rathauses statt. OB Hirschfeldgab die geforderten Räumlichkeiten frei. Der Bürgerrat wird als Leitungs­gremium gebildet. Mehrere Untersuchungskommissionen nehmen ihre Arbeit auf und stoßen dabei immer wieder an Grenzen. Die Hauptamtlichen denken gar nicht daran, ihr Wissen zu teilen oder die Macht einfach so aus den Händen zu geben. Ein zähes Ringen um das Wissen über die Struktur und Organisation der Staatssicherheit beginnt.

Am späten Abend des 6. Dezember 1989 ordnet Generalleutnant Schwanitz über ein Fernschreiben an, welche Unterlagen von Bürger­rechtsbewegun­gen und autorisierten Kontrollgruppen eingesehen werden dürfen. Es sei in eigener Zuständigkeit zu entscheiden, zu welchen Dokumenten und Unterlagen Einsicht zu gewähren ist und welche Räumlichkeiten betreten werden dürfen. Bei folgenden geheimen Dokumenten und Materialien sei in jedem Fall die Einsichtnahme zu verhindern und zu verweigern: IM/GMS-Unterlagen, einschließlich IM/GMS-Nachweise, Dokumente zur Organisierung der Aufklärung und Spionageabwehr und zur Arbeit im und nach dem Operationsgebiet (Bundesrepublik), Grundlagen­doku­mente (u. a. zum Befehl Nr. 11/79), OV, OPK und andere Materialien, aus denen konkrete Schlussfolgerungen zu IM's möglich sind.[3]

Bild 24 Tagung des Bürgerkomitees im Ratssitzungssaal.  Foto A. Graubner

Doch das bereits aktive Bürgerkomitee hat ganz andere Ziele: Die Akten sollen offengelegt werden, um die Arbeit des Geheimdienstes ein für alle Mal zu beenden und eine Rehabilitierung der Bespitzelten zu ermöglichen. Das Bürgerkomitee wird dabei immer wieder behin­dert und oft an der Nase herumgeführt. Aber letztlich kann nicht verhindert werden, dass das „Stasi-Unterlagen-Gesetz“ 1991 beschlossen und die Einsichtnahme in diese Akten für alle gesetzlich geregelt wird.[4]

Das Bürgerkomitee bestand aus 11 stimmberechtigten, gleichberech­tigten und gleichstarken Fraktionen aller oppositionellen Gruppie­rungen und den Parteien, die sich für den demokratischen Umgestaltungsprozess der DDR einsetzen wollten.

Die folgenden Vereinigungen und Parteien waren beteiligt:

  • Neues Forum,
  • Demokratischer Aufbruch,
  • Bürgerinneninitiative "Frauen für Veränderung",
  • "Offene Arbeit" der evangelischen Kirche,
  • SDP (später SPD)
  • Grüne Partei
  • LDPD
  • NDPD
  • CDU
  • DBD
  • Fraktion der Parteilosen

Jede Fraktion hatte 5 Sitze, demzufolge 5 Stimmen. Eine Ausnahme bildete die Fraktion der Parteilosen: Sie besaß 10 Sitze und Stimmen. Weiterhin war je ein Vertreter der Evangelischen und Katholischen Kirche in das Bürgerkomitee eingebunden.

Der SED wurde keine Fraktion eingeräumt, weil das MfS das Macht­instrument der SED war. Erst am 9. Dezember erhielt die SED einen Beobachterstatus ohne Abstimmungsrecht. Das Bürgerkomitee mit seinen 62 Mitgliedern traf sich zweimal wöchentlich (jeweils Montags und Donnerstags) ab 14.00 Uhr im Sitzungssaal der Stadtverordneten des Erfurter Rathauses. Die Sitzungen waren öffentlich.

Die erste Aufgabe bestand darin, den ”Organismus der Stadt” aufrecht zu erhalten. [5]

Im Unterschied zu anderen Bürgerkomitees sollte die Aufgabe des Erfurter Bürgerkomitees nicht allein in der Bewachung des MfS und der Sicherung der Stasi-Unterlagen bestehen, sondern auch in der Übernahme von Lenkungs- und Leitungsaufgaben für die Gewähr­leistung des öffentlichen Lebens in der Stadt.

Dass mit einem solch großen Gremium Verhandlungen mit Vertretern des MfS, dem Regierungsbeauftragten, den Leitern der Volkspolizei, den Staatsanwälten, den Vertretern des Rates des Bezirkes nicht zu führen waren, wurde schon in der ersten Sitzung festgestellt. Deshalb wurde beschlossen, ein kleineres Gremium zu bilden. Jede Fraktion benannte einen Sprecher, der diese in einem Bürgerrat vertrat.

10. Der Bürgerrat und das Bürgerbüro

Zur Gewährleistung einer effektiveren Arbeit des Bürgerkomitees, z.B. der Koordinierung erforderlicher Aktionen, wurde bereits wäh­rend der konstituierenden Sitzung am 5.12.1989, also am gleichen Tag, ein Bürgerrat gebildet. Der Bürgerrat war eine Art Exekutive (Analog zum Rat der Stadt), der zusätzlich zu seinen festgelegten Aufgaben auch die Sitzungen des Bürgerkomitees leitete. Die Legiti­mation für seine Arbeit erhielt der Bürgerrat vom Bürgerkomitee.

Der Bürgerrat setzte sich zusammen aus je einem Vertreter, die von den genannten Fraktionen delegiert wurden. Nur die Fraktion der Parteilosen stellte 2 Vertreter. Der Bürgerrat bestand also aus 12 Personen, er kam fast täglich in nicht öffentlichen Sitzungen zusammen.

Mit dieser Organisationsstruktur konnte das Bürgerkomitee bis nach der Volkskammerwahl am 18.3.1990 arbeiten. Mit der Auflösung der alten DDR- Stadtverordnetenversammlung am 7. Februar 1990 und nach der Gründung des Interimsparlamentes[6] schieden immer mehr Fraktionen aus dem Bürgerkomitee aus. Die Notwendigkeit des Bestehens eines Bürgerrates bestand nicht mehr.

Bild 25 Sitzung des Bürgerrates.  Foto A. Graubner

In einem vom Rat der Stadt bereitgestellten Raum der Wohnungs­tauschzentrale in der Michaelisstraße 3-4 wurde schon am 5.12. das Bürgerbüro eingerichtet und war von Montags bis Freitags von 7-20 Uhr geöffnet. Es wurde durch Mitglieder der einzelnen Fraktionen besetzt, die abwechselnd einen 24 Stundendienst taten. An das Bürgerbüro konnten Hinweise, Anfragen und Rehabilitierungsersu­chen von Bürgern persönlich oder telefonisch eingereicht werden.

11. Das Bürgerkomitee und die Arbeit der Untersuchungsgruppen

Unmittelbar nach der konstituierenden Versammlung des Bürger­komitees am 5. Dezember 1989 wurden direkt dem Bürgerkomitee zugeordnete Untersuchungsgruppen gebildet, die die Auflösung des MfS konkret vornahmen:

  • (1) Untersuchungsgruppe Rechentechnik/Datenbank, Telefonüberwachung und Objekte 
  • (2) Untersuchungsgruppe konspirative Wohnungen, Objekte, Ausstattungen

Diese beiden wurden nach kurzer Zeit zusammengelegt.

  • (3) Untersuchungsgruppe Bürgerbeschwerden /Rehabilitation
  • (4) Untersuchungsgruppe personelle und materielle Aufwendungen
  • (5) Untersuchungsgruppe Strukturen des MfS/AfNS?
  • (6) Untersuchungsgruppe Verbindung SED-MfS

Die Mitglieder der Untersuchungsgruppe wurden dabei immer wieder durch gezielte Falschinformationen ehemaliger MfS-Mitarbeiter an der Aufklärung behindert.

Die Untersuchungsgruppe Rechentechnik/Datenbank

Zielstellung der Untersuchungsgruppe war es, durch Aufspüren, Abschaltung, Überwachung möglichst aller rechentechnischer Anlagen, Datenspeicher­möglichkeiten, Nachrichtenverbindungen und Abhöreinrichtungen um eine praktische Fortführung der Tätigkeit des MfS/AfNS zu verhindern. Dazu gehörten alle Dienststellen und Objekte des MfS/AfNS, einschließlich der konspirativen Wohnungen und Räume in Betrieben und staatlichen Einrichtungen.

An Rechentechnik wurden Rechner aus der DDR-Produktion vom VEB Robotron, (K 1510, K1520, K1530, ein PC 1715, ein EC 1834) vorge­funden. Im Vergleich mit der in der Industrie eingesetzten Rechen­technik war die in der Bezirksverwaltung vorgefundene unmodern. Größere Bestände an Disketten und Magnetbändern konnten nicht festgestellt werden.

Des Weiteren wurde in der Bezirksverwaltung eine Standleitung nach Berlin in einem Kellerraum der Abt. XII vorgefunden. Das war das eine chiffrierte Verbindung über die bestimmte Suchaufträge in den zentralen Archiven der DDR ausgelöst werden konnten.

Bild 26 Blick in einen der Räume mit Technik.  Foto A. Graubner

Die Untersuchungsgruppe Objekte

Aufgabe der Untersuchungsgruppe war die Aufdeckung der konspi­rativen Wohnungen und Gebäude.

Die Untersuchungsgruppe konnte nach einmonatiger Tätigkeit, auch in Verbindung mit den vielen, im Bürgerbüro eingegangenen Hinweisen, 27 Objekte aufdecken. Sie wurden bis zum 15.1.1990 einer anderen Nutzung übergeben. Dazu gehören auch Räume, die zum Abhören von Telefonaten in den Fernmeldeämtern 7 in Erfurt-Nord und 4 Erfurt-Herrenberg in die Abhörzentrale in der Bezirksverwaltung geschaltet wurden.

Konspirative Objekte und konspirative Wohnungen aufzudecken war schwierig; es gab lediglich Teilerfolge. Die Untersuchungsgruppe stellte fest, dass durch gezielte Behinderung nur 20% der Hinweise geklärt werden konnten.

Die Untersuchungsgruppe Bürgerbeschwerden /Rehabilitation

Die Bildung dieser Untersuchungsgruppe erfolgte aufgrund der Anfragen und Erlebnisberichte von Betroffenen, die im Bürgerbüro eingingen. Man hatte vor, Rehabilitierungsanträge vorzubereiten und diese zur rechtswirksamen Bearbeitung weiterzuleiten. Zudem sollten aus den eingegangenen Informationen Vorgänge mit strafrechtlicher Relevanz herausgearbeitet werden.

Beschwerden von Bürgern, denen in der Vergangenheit schweres Unrecht zugefügt wurde, denen zum Teil ihre berufliche Existenz zerstört wurde und die zum Teil noch unter schweren gesundheitlichen Schäden leiden. Umfang ca. 25%.

Konkrete Hinweise von Bürgern, welche die Arbeitsweise des MfS beschrieben und damit dazu beitrugen, die Strukturen des organisierten Unrechts aufzudecken. Umfang etwa 40%.

Anonyme und ungenaue, nicht beweisbare Behauptungen, die in ihrer Summe aber das Bild einer in Angst und Unsicherheit gehaltenen Bevölkerung beschreiben. Umfang etwa 5%.

Bitten um Einsichtnahme in die persönliche Stasi-Akte. Umfang 30%.

Daraus ergaben sich für die Untersuchungsgruppe zwei grundsätzliche Aufgaben:

  • Aufbereitung der Erkenntnisse, um mit den Ergebnissen zur öffentlichen Auseinandersetzung mit der SED- und Stasi-Vergangenheit beizutragen.
  • Für Hilfe der Opfer und Benachteiligten der SED-Diktatur zu sorgen.

Die Untersuchungsgruppe Reintegration

Die Untersuchungsgruppen personelle und materielle Aufwendungen (4), Strukturen (5) und Reintegration (6) sollten aufdecken mit welchen personellen und finanziellen Aufwand die Bespitzelung der Bevölkerung betrieben wurde sowie die Organisation und Funktion der Stasi ergründen. Ziel war es hier, relevante Informationen für eine eventuelle Strafverfolgung zu gewinnen.[7] Dabei richtete sich der Fokus auf die Vernetzungen zwischen SED und MfS/AfNS.[8]

Den Mitgliedern des Bürgerkomitees wurde schnell klar, dass die Stasi nicht ein Staat im Staate war, sondern ein Machtinstrument der SED. Um die Auflösung des MfS zu begleiten und Unruhe in den revolutionär aufgeladenen Zeiten zu vermeiden, kam der Reintegration der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter eine besondere Rolle zu.

Deshalb wurde am 23. Januar 1990 die Untersuchungsgruppe Reintegration  gebildet, als mit der personellen Auflösung und der Entlassung der Mitarbeiter des MfS/AfNS begonnen wurde.

Die Aufgabe bestand in der Überwachung der Entlassung der ehema­ligen Mitarbeiter des MfS/AfNS. und ihrer Reintegration entspre­chend der Forderung „Stasi in die Volkswirtschaft“ und der Kontrolle der Vermittlung und Wiedereinstellung von ehemaligen Mitarbeitern des MfS/AfNS durch das Arbeitsamt. Von den 2.900 hauptamtlichen Mitarbeitern der Stasi im Bezirk Erfurt waren allein in Erfurt etwa 1.950 beschäftigt. Es galt zu verhindern, dass die Entlassenen in sensiblen Bereichen eingesetzt werden, wie in der

  • Volksbildung/Tätigkeiten mit Erziehungseinfluss auf Kinder und Jugendliche,
  • -Post- und Fernmeldeämtern mit Kontroll- und Überwachungs­möglichkeiten,
  • Zollverwaltung,
  • -staatlichen Stellen,
  • -Datenerfassung und Datenverarbeitung,
  • -Taxiunternehmen,
  • -leitenden Stellen in der Wirtschaft,
  • -der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik

Dazu kam eine besondere Aufgabe, zu überprüfen, welche Telefonanschlüsse ehemaliger Mitarbeiter bevorzugt und ausschließlich auf Grund ihrer Tätigkeit beim MfS/AfNS eingerichtet wurden, mit dem Ziel, diese Anschlüsse der Bevölkerung zugänglich zu machen, da das in der DDR ein großer Mangel war. Von 780 überprüften Anschlüssen wurden 560 weitergegeben, 190 aus sozialen Gründen belassen, 30 konnten nicht eindeutig zugeordnet werden.

12. Das Bürgerkomitee und die Regierungskommission

Das BK war bereits bei seiner konstituierten Sitzung am 5.12.1989 darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass Ministerpräsident Modrow einen Regierungsbeauftragten als Kontaktperson zur Regierung nach Erfurt entsenden wollte. Noch am 5.12 traf der Sonderbeauftragte Bernhard Schenk in Erfurt ein. Schenk war nach eigenen Angaben zuvor im Landwirtschaftsministerium tätig gewesen und wurde für seine Tätigkeit als Sonderbeauftragter mit weit reichenden Voll­machten ausgestattet. Dass Schenk selbst Mitarbeiter des MfS und Offizier im besonderen Einsatz (OibE) sei, wurde immer wieder vermutet, aber definitiv erst viel später festgestellt.[9]

Die grundsätzliche Aufgabenstellung für den Regierungsbeauftragten sah vor, für Arbeitsmöglichkeiten der Mitarbeiter des MfS/AfNS in Erfurt zu sorgen. Diese Arbeitsmöglichkeiten sollten sich auf die Bereiche Aufklärung, Spionageabwehr, Verfassungsschutz, Neofaschis­mus und Terrorismus konzentrieren. Damit sollten die bereits auf der Dienstbesprechung anlässlich der Einführung des Gltn. Schwanitz als Leiter des AfNS am 21.11.1989 genannten Aufgaben­stellungen und Anweisungen an die Mitarbeiter des AfNS umgesetzt werden.

Am 6.12. traf sich Schenk mit dem Bürgerkomitee, mit Vertretern der Staatsanwaltschaft und der Volkspolizei zu einem ersten Meinungs­austausch im Rathaus. Er erläuterte seinen Auftrag, der in erster Linie in der sicheren Verwahrung von Akten und Unterlagen aus dem Bezirksamt und den Kreisdienststellen bestand.

Die eigentliche Regierungskommission konstituierte sich am 8.12. 1989. Ihre Befugnisse und Aufgaben waren nicht durch gesetzliche Bestimmungen definiert, sondern durch den Auftrag der Regierung Modrow, die Forderungen des Bürgerkomitees und durch die Entwicklung der öffentlichen Meinung bestimmt.

Leiter der Kommission war der Sonderbeauftragte Schenk. In die Regierungskommission wurden berufen:

  • Ein Staatsanwalt in Vertretung des Militärstaatsanwaltes,
  • Vertreter des Bezirksgerichtes,
  • Volkskammerabgeordnete,
  • Ein Vertreter des Präsidiums der Volkspolizei,
  • Zwei Mitarbeiter des Staatsarchivs Weimar,
  • Vier Vertreter aus dem Erfurter Bürgerkomitee

Während des gesamten Zeitraums der Arbeitstätigkeit hat in dieser Kommission der genannte Personenkreis, (außer dem Vertreter des Bezirksgerichtes), mitgearbeitet, Offiziere des MfS/AfNS des Bezirks­amtes Erfurt wurden in die Arbeit konsultativ einbezogen.

Diese Kommission verfolgte zunächst nur einen Auftrag, (nämlich den des Regierungsbeauftragten Schenk), der konkret darin bestand, alle Gebäude des MfS/AfNS Schritt für Schritt von Unterlagen und von vorhandener Technik zu beräumen. Soweit nachvollziehbar, wurden damals zuerst die Abteilungen M (Postkontrolle), 26 (Telefon- und Raumüberwachung) und N (Nachrichten), die sich im Neubau befanden, von der Regierungskommission beräumt. Die dabei "sicher gestellte" operative Technik verschwand ohne weitere Bürgerkon­trolle in den Händen der Deutschen Volkspolizei.

Von Mitgliedern des Bürgerkomitees und der Bürgerwache wurde festgestellt, dass Beräumungen durchgeführt wurden, von denen die  in der Regierungskommission arbeitenden Mitarbeiter des BK nichts oder nur wenig wussten. Zudem konnten sie keine oder nur wenig Kontrolle über die von Schenk angewiesenen Aktionen, ausüben. Daraufhin entschied sich das Bürgerkomitee die Regierungskommis­sion durch weitere Personen aus dem Bürgerkomitee zu verstärken. Damit sollte ein stärkerer Gegenpol zum Regierungsbeauftragten gebildet werde und auch um eigene Untersuchungsarbeit leisten zu können.

Die Zielstellungen des Regierungsbevollmächtigten Schenk und die des Bürgerkomitees waren einander entgegen gerichtet. Das Bürger­komitee verfolgte die Zielstellung der vollständigen Zerschlagung des Geheimdienstes sowie die Sicherung der Freiheit und Würde der Bürger.

Ziel des Regierungsbevollmächtigten waren die Neustrukturierung des Geheimdienstes im AfNS bzw. in einem Verfassungsschutz, die Erhaltung von Ruhe und Ordnung im Sinne der Konsolidierung der Macht der Regierung und die Sicherung der Interessen der ehema­ligen Stasi-Mitarbeiter und der Mitglieder der SED/PDS.

Im Spannungsfeld dieser unterschiedlichen, widersprüchlichen Zielstellungen setzten die BK-Mitglieder dennoch folgende Aufgaben durch:

  • Sicherung und Aufbereitung des vorhandenen Aktenmaterials,
  • Entwaffnung der Mitarbeiter des MfS/AfNS,
  • Aufdeckung möglicher Straftaten des MfS/AfNS und der SED,
  • Aufdeckung der Strukturen des MfS/AfNS,
  • Zerstörung der technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Bespitzelung der Bevölkerung. [10]

Die Regierungskommission arbeitete täglich. Der Regierungsbevoll­mächtigte hatte ständigen Direktkontakt mit dem Bürgerrat und der Leitung des MfS/AfNS unter Ausschluss der anderen Mitarbeiter der Regierungskommission. Dadurch schuf er sich einen ständigen Informationsvorlauf.

Die Aufbereitung des vorhandenen Aktenmaterials erfolgte schrittweise nach folgender Rangordnung:

  • Akten, die zur Arbeit eines reorganisierten Geheimdienstes benötigt wurden z.B. Schutz von Diplomaten, äußere Sicherheit, Anti-Terror-Einheiten;
  • Akten, die zur Aufklärung von Vergehen und Verbrechen notwendig sind;
  • Akten zur Archivierung im Staatsarchiv, die der Dokumentation der Zeitgeschichte dienen;
  • Akten, die zur späteren Vernichtung vorgesehen sind (Personendossiers).

Zu Beginn der Durchführung dieser Tätigkeit wurde es den noch arbeitenden Abteilungen des MfS/AfNS überlassen, die Vorsortierung der Akten nach den genannten Kriterien zu übernehmen. Auch die Sicherung des Aktenmaterials wurde schrittweise vorgenommen.

Die Sichtung und Versiegelung der Räume bzw. Panzerschränke, in denen relevantes Material lagerte wurden bis zum 21.12.1989 abgeschlossen.

Die Räumung des Neubaus und Umlagerung aller Akten in Keller und Büroräume des Altbaues wurde am 25.1.1990 abgeschlossen. Dabei wurden die Akten durch einen Mitarbeiter des Staatsarchivs gekennzeichnet und eingeordnet.

Die Räumung einer Etage in der Untersuchungshaftanstalt, in der Akten verschiedener KD lagerten, wurde am 17.1.90 abgeschlossen. Unerledigt blieb im Februar die Räumung der Abteilungen im Altbau.

In der Bezirksverwaltung des MfS/AfNS lagerten ca. 5.000 laufende Meter Akten. Von 1,2 Millionen Einwohnern des Bezirkes Erfurt waren etwa von 200.000 Einwohnern persönliche Dossiers angelegt worden. Diese Akten bildeten einen Großteil des vorgefundenen Materials. Dazu kamen Auswertungen, Berichte, Anweisungen und Richtlinien, die für die innere Verwaltung der Stasi notwendig waren.

Die vollständige Aufdeckung der Strukturen des MfS/AfNS gelang durch die Regierungskommission nicht. Das bezieht sich im Besonderen

  •    auf das Zusammenwirken des MfS/AfNS mit der SED und den staatlichen Organen,
  •    auf die Rolle und Funktion der OibE und der hauptamtlichen IM's. [11]

Die Regierungskommission hat relativ kurze Zeit gearbeitet. Dennoch war ihre Arbeit effektiv im Herausfinden von ”Staatsgeheimnissen”, die die Interessen der Bürger betrafen. Es wurde in Erfurt relativ intensiv über solche Staatsgeheimnisse durch die Vertreter des Bürgerkomitees in der Regierungskommission informiert, wie beispielsweise über die Vorbereitung von Isolierungslagern für Andersdenkende.

13. Das Bürgerkomitee und die Sicherheitspartnerschaft

In den Beratungen des Bürgerkomitees und des Bürgerrates zur Organisation und Durchführung von Demonstrationen, war die Sicherung derselben vorrangig.

"Keine Gewalt!" war oberstes Gebot. Die Vorbeugung möglicher gewalttätiger Ausschreitungen stellte hohe Anforderungen an das Verantwortungsbewusstsein des Bürgerkomitees und war jedes Mal eine Bewährungsprobe.

Für das Bürgerkomitee war es vorrangige Aufgabe für Gewaltfreiheit und Mäßigung zu sorgen. ”Unrecht müssen wir mit den Mitteln der Rechtsstaatlichkeit begegnen”, heißt es in einem Aufruf, den der Arbeitskreis Gewaltfreiheit des NF und die Arbeitsgruppe Friedens­fragen des „Demokratischen Aufbruch“ herausgegeben hatte. [12]

Sehr oft traten Mitglieder des Bürgerkomitees als Ordner und Schlichter mit Armbinde auf.

Ebenso war auch für die persönliche Sicherheit von Mitarbeitern des MfS/AfNS zu sorgen. Zur Gewährleistung von Ruhe und Ordnung und zur Vorbeugung gegen Radikalisierung wurden Einzelinformationen über Stasimitarbeiter nicht an die Kundgebungsteilnehmer auf dem Domplatz weitergegeben. .[13]

Das Bürgerkomitee hatte mit seinem Sitz in der Bezirksstadt zugleich Koordinationsfunktion für die Bürgerkomitees der Kreisstädte in Bezug auf Unterlagensicherung und Waffensicherung und deren abgesicherten Transport und Einlagerung. Die Sicherung von Waffen und Munition begann unmittelbar nach der Besetzung der Dienststellen in Erfurt und nachgeordnet in den Kreisstädten. Ab 7.12.1989 wurden die Waffenkammern aller KD geräumt und die Waffen wurden vorübergehend in der Untersuchungs-Haftanstalt Erfurt deponiert. Die Transporte von Waffen, und von Akten, wurden durch Mitglieder des Bürgerkomitees beobachtet und durch private PKW begleitet. Die Entwaffnung, auch die Einziehung von Pistolen von den Mitarbeitern des MfS/AfNS zog sich bis 5.1.1990 hin. Die provisorisch gelagerten Bestände verwahrte ab diesem Zeitpunkt die Volkspolizei. Jagdgewehre und Pistolen aus dem privaten Besitz der Mitarbeiter des MfS/AfNS konnten nicht sichergestellt werden[14]

Im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft mit dem Bürgerkomitee hatte die Volkspolizei die Haussicherung der Bezirksverwaltung des MfS/AfNS übernommen.

Wie wichtig die Sicherheitspartnerschaft mit der Volkspolizei, der NVA und den bezirklichen Grenztruppen war, unterstreicht der Putschaufruf der Bezirksverwaltung des MfS/AfNS Gera gegen die ”reaktionären Kräfte”. Dieser Aufruf vom 9.12.1989, der an alle Regierungsstellen und an alle bewaffneten Organe gerichtet war, rief unter dem Slogan ”Heute wir – morgen ihr!” zur Paralysierung der oppositionellen Bewegungen auf. [15] Da dieser Aufruf während der Sitzung des Zentralen runden Tisches in Berlin von Rolf Henrich verlesen wurde, und diese Sitzung direkt im DDR-Fernsehen über­tragen wurde, war der Inhalt unverzüglich auch im Erfurter Bürger­komitee bekannt geworden. Das Bürgerkomitee nahm den Aufruf ernst und es wurden Absprachen mit den leitenden Offizieren der in Erfurt stationierten 4. Mot.-Schützendivision der NVA aufgenommen.

Anmerkungen


[1] Siehe Protokolle des Bürgerrates vom 5.1.1990 und Bürgerkomitee vom 8.1.1990 in Bestand der Gesellschaft für Zeitgeschichte

[2]     Barbara Sengewald (damals Weisshuhn) in „,Geheimdienste – Nein Danke“, Bürgerkomitee Erfurt, Dezember 1990.

[3]    Vgl. Fernschreiben des AfNS vom 6.12.1989, cfs 44 Luft: Archivs d. BStU Berlin  in Die Geschichte des Bürgerkomitees Erfurt, Teil 2, a.a.O. S. 152f

[4]    Es ist ein langer Weg bis dahin, der in der Broschüre „Die Geschichte des Bürgerkomitees in Erfurt, Teil I“ ausführlich dargestellt wird.

[5] Siehe Protokoll des Bürgerrates vom 7.12.1989 in Bestand der Gesellschaft für Zeitgeschichte

[6] Das Interimsparlament war nach derselben Struktur wie das Bürgerkomitee zusammengesetzt.

[7] Siehe Ebenda

[8] Siehe Ebenda

[9] Siehe Die Auflösung des MfS- die Arbeit der Bürgerkomitee in den Bezirken 1989/90 Seite 20

[10] Siehe Protokoll Bürgerkomitee vom.18.12.1989 und Flugblatt der Bürgerwache in Bestand der  Gesellschaft für Zeitgeschichte

[11] Siehe Christian Petzold und Klaus-Alfred Vockerodt in ”Geheimdienst - Nein danke!” Bericht des Bürgerkomitees Erfurt über die Auflösung des MfS/AfNS Dez.1990

[12] Siehe Protokoll des Bürgerkomitee vom 7.12.1989 in Bestand der Gesellschaft für Zeitgeschichte

[13] Siehe Protokoll des Bürgerkomitee vom 7.12.1989 und Protokoll des Bürgerrates vom 11.12.1989 in Bestand der Gesellschaft für Zeitgeschichte

[14] Siehe Protokoll Bürgerkomitee vom 7.12.1989 und Protokoll des Bürgerrates vom 15.1.1990 in Bestand der Gesellschaft für Zeitgeschichte

[15] Siehe Faksimile des Telegramm des Aufrufs: ”Heute wir – morgen ihr!”