Die Entmachtung der Stasi: Schild und Schwert der Partei und die Rolle des Bürgerkomitees des Landes Thüringen e.V.

Autor: Martin Montag, Bürgerkomitee des Landes Thüringen e. V.

Textgliederung:

Fiktives Vorspiel

Die Besetzung der Berliner MfS-Zentrale

Auflösungserscheinungen - oder: Was anfangs alles zutage trat

Persönlicher Exkurs

Ein Treffen mit Folgen - Die Konferenz der Bürgerkomitees am 4. Januar 1990 in Leipzig

Weitere Schritte zur Auflösung des MfS

Eine Arbeitspause für die Stasi - Die Besetzung der MfS-Zentrale in Berlin

Ende der Stasiauflösung - Weiterarbeit als Verein

Text

Die Entmachtung der Staatssicherheit („Schild und Schwert der Partei“) und die Rolle des Bürgerkomitees des Landes Thüringen e.V.

Autor: Martin Montag, Bürgerkomitee des Landes Thüringen e. V.

Fiktives Vorspiel

Nehmen wir mal an: Wir schreiben den 4. Dezember 2019 (30 Jahre nach den ersten Besetzungen von Bezirkszentralen des MfS in der ehemaligen DDR) findet eine Jubiläumsveranstaltung der anderen Art statt. Einige hundert Menschen versammeln sich vor den Toren des Bundesnachrichtendienstes (BND) in Pullach bzw. Berlin und begehren Einlass. Sie wollen Einsicht nehmen in Akten, die dort vielleicht über sie angelegt wurden. Denn seit bekannt wurde, dass die Handyverbindungen von Kanzlerin Angela Merkel ausgespäht worden sind, wird auch das Tun der westlichen Geheimdienste immer interessanter. Aber nein, es gibt in Berlin und Pullach keinen Zutritt. Es würde auch nicht, wie 30 Jahre zuvor in Suhl, ein Mitarbeiter die Nerven verlieren und eine Tränengasgranate auf die ungebetenen Besucher werfen. Sie würden schlicht und einfach auf die ausgeklügelten Kontrollmechanismen eines Ausschusses des Deutschen Bundestages verwiesen und – und etwas ernüchtert – schließlich resigniert von dannen ziehen.

Der Sturm auf die Stasi – als er wirklich stattfand: Am 4. Dezember 1989 (und nicht, wie mancher meint, erst am 15. Januar 1990)

Wir befinden uns in der Bezirkshauptstadt der „unabhängigen Gebirgsrepublik“ südlich des Kammes vom Thüringer Wald, in Suhl, dem Zentrum des gleichnamigen Bezirkes. Spät, sehr spät erwacht auch hier das Volk, nachdem schon gewaltige Demos in Leipzig und anderen Ortes den Zusammenbruch der maroden SED-Diktatur angekündigt haben. An diesem Abend versammeln sich ca. 3000 BürgerInnen in der Stadthalle, um mit den Noch-Machthabern das weitere Procedere der Umgestaltung eines nicht mehr gewollten Gesellschaftssystems zu diskutieren.1 Zwei Signale führen zur abrupten Auflösung dieser Versammlung: In Erfurt haben sich am Vormittag einige wenige mutige Frauen und Männer Zugang zur MfS-Bezirkszentrale verschafft. Jemand gibt zum einen diese Nachricht in der Versammlung bekannt und auch, dass auf der „Stasi-Burg“ in Suhl, wie die MfS-Bezirksverwaltung im Volksmund hieß,2 Akten vernichtet würden.3

Ein Zug von Demonstranten setzt sich in Bewegung, gelangt schließlich vor das Tor der Suhler MfS-Zentrale und begehrt Einlass. Hier eskaliert die Lage. - eine Tränengasgasgranate wird von innen des Gebäudes auf die Demonstranten geworfen. Es hätte schlimmer kommen können, denn hinter dem Tor standen bewaffnete Einsatzkräfte, denen der Leiter des Bezirksamtes, Generalmajor Gerhard Lange, jederzeit einen Schießbefehl hätte erteilen können. Schon an diesem Abend hätte Wirklichkeit werden können, was uns später einige MfS-Offiziere für die Zukunft prophezeiten: 'Ihr werdet euch noch in eurem eigenen Blut wälzen!“ In dieser Nacht begeht allerdings der MfS-Offizier Armin Knoll Selbstmord. Bis heute ungeklärt bleibt die Frage, ob er in seinem Tresor die Unterlagen für die geplanten Internierungslager hatte.

Der „Sturm“ auf die Bezirkszentrale des ehemaligen MfS in Suhl hatte an diesem Abend immerhin zum Ergebnis, dass eine kleine Gruppe Zugang zu Registratur- und Archivräumen erwirkte. Damit wurde ein Prozess eingeläutet, der irreversibel zum Machtverlust und Untergang eines Regimes führte, das am Ende vor Terrormaßnahmen wie jene an der innerdeutschen Grenze zurückschreckte. Busfahrer der Stadt Suhl setzten am Folgetag, dem 5. Dezember, die Aktionen fort, indem sie das Gelände blockierten als MfS-Angehörige versuchten, Akten abzutransportieren.

Am 6. Dezember 1989 wurde schließlich eine zeitweilige Kommission zur Auflösung des MfS installiert, die den weiteren Fortgang der Sicherung der Akten und der Entlassung der MfS-Angehörigen regelte. Zusätzlich, man staune, organisierte sie sogar die tägliche Personenkontrolle an den Grenzübergangsstellen zur Bundesrepublik Deutschland. Letzteres war der Aufgabenbereich des Komponisten und Dirigenten Siegfried Geissler – der damit eindrucksvoll zeigte, welche Fähigkeiten ein Musiker auch noch besaß.

Dies war der erste Akt einer monatelangen Stresszeit für die in der Kommission aktiv Beteiligten und für eine Vielzahl von Menschen, die sich rund um die Uhr in Bürgerwachen engagierten.

Auflösungserscheinungen - oder: Was anfangs alles zutage trat

Es ist Advent, und auch dieser Abend beginnt mit einer Wartezeit. Gleich zu Beginn trennt sich die Gruppe der Kommission von einer Juristin, da sie die Frau eines MfS-Offiziers ist, der SED-Genossin Uta Gieseler (später Rechtsanwältin). Die verbleibenden SED-Kohorten versucht weiterhin ihren Einfluss und ihre Vormachtstellung geltend zu machen. Wir von der Kommission warten nun auf die „Troika“ aus Berlin, die die Modrow-Regierung zur Krisenklärung schickt: Dr. Dieter Schröter, als Beauftragter der Modrow-Regierung, ein Major Reif, Vertreter der Stasi-Zentrale in Berlin und ein Herr Böckmann, Vertreter des Innenministeriums. Wie sich später herausstellt, war er ein hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter gewesen, verdeckt als sogenannter Offizier im besonderen Einsatz (OibE). Für diese Genossen war es in der Tat ein besonderer Einsatz. Es ging zunächst darum zu retten, was zu retten war vom verbrecherischen MfS-Regime und der SED-Diktatur.

Eine Zigarettenpause mit dem schon seit langem in der Umweltbewegung aktiven Hilmar Fahr vor einer verschlossenen Glastür in der Dunkelheit des Abends lässt uns zufällig Zeuge einer geplanten heimlichen Konferenz von Generalmajor Lange mit der ominösen Troika aus Berlin werden. Wer hat uns in diesem Moment so viel Mut gegeben, dass wir uns energisch Zutritt verschafften und vom Generalmajor die Schlüssel verlangten? Er gab sie wirklich heraus – ein Zeichen des umfassenden Machtverlustes dieser Clique.

 

Mit diesem Moment beginnt ein wochenlanges zähes Ringen um jeden Zentimeter Bodengewinn: Soll die IM-Kartei vernichtet werden, sollen die Handakten der Mitarbeiter vorvernichtet (zerrissen) werden, soll die Verfilmung der Mitarbeiterunterlagen der Auslandspionage vernichtet werden?

Hier und da werden Stasi-Mitarbeiter bei der Aktenvernichtung erwischt:

Film. Martin Montag, damals Stasiauflöser

Die Stasiaufklöser in Suhl können aber relativ gut Kontrolle ausüben.

Film. Martin Montag, damals Stasiauflöser

Viele, ganz praktische Fragen vor Ort müssen geklärt werden: die Entwaffnung aller Mitarbeiter, die Abschaffung des Privilegs eines Diensttelefons, die Vergabe von Dienstfahrzeugen, Begehungen vieler Außenanlagen in ganz Südthüringen sowie der Transport der Akten aus den MfS-Kreisdienststellen u.v.a.m.

Anhörungen von Abteilungsleitern der MfS-Bezirksbehörde bestimmen die Tagesordnung, um Kenntnisse über die Aufgaben der Abteilungen und die Zusammenarbeit mit der SED und zu bewaffneten Institutionen in der sogenannten Bezirkseinsatzleitung zu gewinnen. Auch in der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei und im Bereich für Reiseangelegenheiten werden Befragungen durchgeführt. Die Schließung der Untersuchungshaftanstalt des MfS wird ebenfalls verfügt. Ebenso wird ein Baustopp für die neue U-Haftanstalt des MfS in Suhl-Goldlauter angeordnet. Von besonderem Interesse ist auch die Abteilung M: Hier wurden tausende Briefe von Bürgern geöffnet, gelesen und deren Inhalte weiter verarbeitet. Ebenso von Interesse sind die Abhöreinrichtungen in Postämtern wie in Zella-Mehlis.4

Am 10. Dezember 1989, 10.00 Uhr, wird der Leiter des Bezirksamtes, Generalmajor Lange, zur Anhörung über die Struktur und die Arbeitsmethoden der MfS-Bezirksverwaltung vorgeladen. Nach seiner Stellungnahme zeigen sich mehrere Teilnehmer sehr betroffen. Auch ich äußere mich später in einem Buch: „Ich habe vor einigen Jahren … das Buch von Robert Merle, Der Tod ist mein Beruf, gelesen. Über den Kommandanten von Auschwitz … Am Ende hat der Leser Mitleid mit diesem Kommandanten, dessen Lebensprogramm ja der Mord ist. In der gleichen Richtung habe ich jetzt auch mit Ihnen Mitleid. Aber ich unterstreiche, dass ich die Worte Tod und Beruf mit integriere in meinen Eindruck und dass dieser vielfache Tod in dieser Gesellschaft gestorben worden ist.“5 „Die Täter, egal, ob sie Leichenberge hinterließen oder nur zerstörte Leben, verteidigen sich kalt und hart. Keiner schämt, keiner beknirscht sich. Keiner will etwas an irgendwem wiedergutmachen.“6 An dem Tag, als die Kommission den Einzug unberechtigt angeeigneter Jagdwaffen beschließt, erschießt sich der ehemalige Leiter, Generalmajor Gerhard Lange mit seiner Jagdwaffe. Offenbar war sein Weltbild zusammengebrochen.

Kein Gramm an Wissen und Erkenntnissen über Macht und Banalität des MfS wird den Mitgliedern der Bürgerkomitees geschenkt, alles muss zäh und hart erarbeitet werden.7 Das führt zur Entscheidung: Wir werden eine Dokumentation erarbeiten, die alle Erkenntnisse sammelt und der Öffentlichkeit präsentieren soll.8 Im zweiten Teil diese Dokumentation wird unter dem Titel „Der SED – MfS – Filz“ der politische Hintergrund so formuliert: Die Partei (SED) hat sich ein Volk angeeignet und unterworfen; in diesem Prozess hat sie sich ein Organ geschaffen (MfS) um Macht auszuüben und unter allen Umständen zu erhalten, mit dem Resultat, dass dieses Volk wirtschaftlich und moralisch ausgeblutet wurde.9 Diese Strategie und Taktik hat Auswirkungen bis heute, wo die Nachfolge-Partei der SED im September 2014 die Regierungsmacht im Bundesland Thüringen auf Basis eine Parlamentsmehrheit übernommen hat, die auch auf ehemals verstrickten Personen beruht.10

Persönlicher Exkurs: Täter und Opfer im Terrorregime und die SED – PDS – DIE LINKE

„Tschekist sein kann nur ein Mensch mit kühlem Kopf, heißem Herzen und sauberen Händen.“ Dieser zynische Leitsatz für die Täter des kommunistischen Terrorregimes von Felix E. Dzierzynski, dem Gründer der bolschewistischen Geheimpolizei Tscheka, verglichen mit der Vielzahl der Opfer dieser Systeme11 zeigt, wie seit Bestehen der SMAD und der Dauer der SED-Diktatur, Wert und Würde von Menschen permanent durch die Verantwortungsträger einer herrschenden Partei (SED) zutiefst missachtet und mit Füßen getreten wurden, die sich später in PDS und heute in DIE LINKE umbenannt hat. Am 26.04.1950 begann mit den Waldheimer Prozessen eine Praxis des SED-Regimes, sich der Justiz zu bedienen, um politisch missliebige Personen auszuschalten.12 Hier beginnt die Diskussion um die Charakterisierung der DDR als „Unrechtsstaat“, die mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden kann. In den Jahren 1950/51 beteiligte sich das Ministerium für Justiz der DDR zudem an mehreren Kampagnen zur Bekämpfung angeblicher Wirtschaftsverbrechen.13 Am 2.10.1952 wurde das Gesetz zum Schutz des Volkseigentums verabschiedet, in dessen Folge willkürlich Kleinunternehmer festgenommen, inhaftiert und enteignet wurden. Mit der Denunzierung, Verhaftung und der Verhängung des Todesurteils gegen Manfred Smolka erreicht bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Ahndung der Tatbestände der Republikflucht und der Fahnenflucht einen Höhepunkt. Die Jahre, die freiheitsliebende Menschen in der DDR aus diesen und anderen Gründen hinter Gittern verbrachten, sind kaum zu zählen. Im Fall Smolka wird das menschenverachtende Verhalten des SED-Regimes besonders deutlich: „Das Verfahren ist geeignet, aus erzieherischen Gründen gegen Smolka die Todesstrafe zu verhängen.“14 Ungefähr 180 Todesopfer bei Fluchtversuchen über die Ostsee, mindestens 140 Todesopfer an der Berliner Mauer, dem sogenannten „antifaschistischen Schutzwall“ und der innerdeutschen Grenze, ungefähr 12.000 Zwangsaussiedlungen aus den Sperrgebieten der ehemaligen DDR sowie geschleifte Dörfer und Höfe im grenznahen Bereich zeichnen eine Spur des Terrors, die der Schießbefehl vom 6.10.1961,15 unterzeichnet von Armeegeneral Heinz Hoffmann, und andere Verordnungen und Befehle hinterließen. Wir benennen aber heute auch deutlich die permanenten Versuche der Machthaber der SED-Diktatur, durch ihre Instrumentarien Justiz, MfS, Jugendhilfe und Psychiatrie Menschen zu zersetzen, aus politischen Gründen zwangsweise in Jugendheime und -werkhöfe und psychiatrische Einrichtungen einzuweisen, zu zerbrechen und zu vernichten. Auch dies gehörte zu den Methoden der SED-Diktatur, wenn die politische Umerziehung scheiterte.

Wo immer wir heute den Lebensschicksalen der Betroffenen und Opfer der SED-Diktatur begegnen, können wir mit Fug und Recht auch die Täter beim Namen nennen. Es sind nicht nur diejenigen, die durch die Akten der DDR-Grenztruppen als Mauerschützen bekannt geworden sind, es sind meiner Auffassung nach heute auch alle Mitglieder einer Partei, die sich zu der ungebrochenen Rechtsnachfolge der SED bekennen. Noch klarer und deutlicher: Entsprechend der eidesstattlichen Erklärung des ehemaligen Bundesschatzmeisters der LINKEN, dass diese „rechtsidentisch“ mit der SED sei,16 ist jedes Mitglied der Partei SED – PDS – DIE LINKE direkt und unmittelbar verantwortlich für jeden Toten in der Ostsee, an der Mauer und an der innerdeutschen Grenze und für alle anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der SED-Diktatur.

Treffen mit Folgen - Die Konferenz der Bürgerkomitees am 4. Januar 1990 in Leipzig

Auch im Dezember 1989 und im Januar 1990 waren die Möglichkeiten für alle Akteure im Auflösungsprozess des MfS, sich miteinander zu vernetzen, noch äußerst beschränkt. Es ist kein Schriftverkehr zwischen den Bürgerkomitees der einzelnen Bezirke für diese wenigen Wochen nachzuweisen. Wenige Telefonate spiegeln die Not in der Fülle der Arbeit wider: Überall versucht die Troika, die von Modrow entsandte Regierungskommission, nach dem Motto „teile und herrsche“ das Fell des erlegten Bären möglichst teuer zu verkaufen.

Umso wichtiger war es, dass es gelang, den Großteil der Bürgerkomitees für den 4. Januar 1990 nach Leipzig einzuberufen. Ziel war es, einen Gleichstand an Informationen herzustellen. Wichtiger noch war, Beschlüsse herbeizuführen, die den Regierungskommissionen deutlich machten, dass die Befugnisse bei der Auflösung des MfS ab sofort anders zu regeln sind. Dies belegt ein Auszug aus den Forderungen, die am 8. Januar 1990 der Kommission in der BV in Suhl vorgelegt werden:

-der Regierungsbeschluss zur üppigen Übergangsfinanzierung der Mitarbeiter des MfS ist aufzuheben

-Aufhebung des Regierungsbeschlusses zur Errichtung eines Amtes Verfassungsschutz bis zum 6. Mai 1990

-die Möglichkeit zur Überprüfung der personellen und informellen Tätigkeit des MfS/AfNS soll bestätigt werden

-Regierungsstellungnahme gegen die Pressekampagne der SED-PDS wegen einer angeblich drohenden neofaschistischen Gefahr

-eine Stellungnahme der Regierung wider die Pressekampagne gegen die Bürgerkomitees

-Regierungsanordnungen zur sofortigen Aufklärung der Verbindungslinien des MfS zu den Bezirkseinsatzleitungen (BEL)17 und Maßnahmen gegen die Verdunklung der Aktivitäten dieser Einrichtungen während der Regierung Krenz

-Offenlegung und Auflistung der geplanten Internierungslager und Isolierungslager in der DDR18

-alle Sondernachrichtenverbindungen der SED-PDS sind stillzulegen und zu demontieren

-sämtliche Archive sind zu sichern

-die Regierung soll ein Ermittlungsverfahren gegen die SED wegen ihrer Mitverantwortung an den Machenschaften des MfS einleiten

-kein Mitarbeiter des MfS/AfNS darf im zukünftigen Sicherheitsapparat des Staates arbeiten, alle Übergangsregelungen sind vorab öffentlich zu diskutieren

Diese Forderungen richten sich direkt an die „Troika“ der Regierungsbeauftragten in Suhl. Nach ihrer Verkündung werden diese aufgefordert, sofort zuzustimmen. Andernfalls wurde angedroht, im ehemaligen Stasi-Objekt sofort den „Schlüssel rumzudrehen“ und die MfS-Bezirksverwaltung zu schließen. Nur nach langen Diskussionen und sehr zögerlich geben die Beauftragen nach und sind schließlich bereit, diese Forderungen weiterzuleiten.

Ein wesentlicher Erkenntnisstand der Konferenz der Bürgerkomitees in Leipzig ist allerdings, dass in Berlin zwar die dortige Bezirksverwaltung des MfS unter Beteiligung eines Bürgerkomitees abgewickelt wird, die Zentrale des ehemaligen MfS in der Normannenstraße aber weiterarbeitet. Das Verteidigungsargument der Berliner Vertreter lautet, sie hätten es wegen geringer personeller Kapazitäten nicht geschafft, auch das Problem in der Zentrale anzugehen.

Weitere Schritte zur Auflösung

In der Woche nach der Leipziger Sitzung werden folgende Aufgaben in Angriff genommen:

-Begehung und Auflösung der Briefkontrolle (Abteilung M)

-Anhörung des Leiters der Spionage-Abteilung, Despang

-Anhörung eines Verantwortlichen des Wehrbezirkskommandos der Nationalen Volksarmee (NVA) zu den Bezirkseinsatzleitungen

-der Bericht über den Stand der Entlassungen der ehemaligen Mitarbeiter des MfS wird entgegengenommen

Hinzu kommen die täglichen Begehungen und Versiegelungen einer Vielzahl von Außenobjekten des MfS in ganz Südthüringen. Dies ist eine sehr zeitaufwändige Tätigkeit, die ohne weitere Hinzuziehung von weiteren Bürgern und deren Freistellung von der Berufstätigkeit nicht denkbar gewesen wäre.

Weitere Arbeitspause für die Staatssicherheit - Die Konferenz der Bürgerkomitees am 12. Januar 1990 in Berlin und die Besetzung der MfS-Zentrale

Schwerpunkt der nächsten Konferenz der BKs am 12. Januar in Berlin ist es, einen Gleichstand an Informationen, Beschlüssen und Arbeitsweisen herzustellen.19 Dies ist unabdingbar notwendig, da auch in den vergangenen Tagen mancherorts Versuche der „Troikas“ sichtbar wurden, weiter nach dem Prinzip „teile und herrsche“ zu verfahren.

Ein weiteres wichtiges Ziel ist allerdings auch, eine geordnete Besetzung der Zentrale des ehemaligen MfS in der Normannenstraße zu planen und umzusetzen. Im Bürgerkomitee Suhl wie in der Berliner Versammlung ist einheitliche Auffassung, dass ohne eine solche Besetzung die weitere Auflösung des MfS, die Sicherung der Aktenbestände und die Aufarbeitung der Machenschaften des MfS und des SED-Regimes nicht möglich seien. Dafür bleibt allerdings wenig Zeit, da den Bürgerkomitees bekannt ist, dass das Neue Forum für den 15.1. zu einer Demo in der Normannenstraße und der Magdalenenstraße aufgerufen hat. In Suhl haben alle die Befürchtung, dass daraus eine chaotische Entwicklung entstehen könnte.

Da am Montag, den 15. Januar 1990, in Berlin wieder der Zentrale Runde Tisch tagt, der live vom Fernsehen der DDR übertragen wird, erfolgt der Beschluss, am Morgen des 15. Januar die Zentrale des MfS in der Normannenstraße zu besetzen und dies gleichzeitig der Medienöffentlichkeit am Runden Tisch kundzutun.

Am Abend des 14. Januar 1990 treffen sich wiederum Vertreter der meisten Bürgerkomitees der Bezirke in Berlin. Aus Suhl ist Martin Montag dabei. Die Runde legt für den Folgetag noch einmal die Aufgaben und die zuständigen Personen fest. So kommt es zu einer „geordneten“ Besetzung der MfS- Zentrale am 15. Januar 1990 ab 10.00 Uhr. Die, die vom „Sturm“ auf die Stasizentrale reden, beteiligen sich an einer Legendenbildung.20 Der Autor, Martin Montag aus Suhl hatte zusammen mit einem Leipziger Kollegen und der Polizei schon an dem berühmten Tor im ehemaligen Stasi-Objekt die Verantwortung, als die Demonstration vor den Toren begann. Sie zusammen entschieden, dass das Tor von einem Demonstranten geöffnet werden konnte, als der Andrang von außen zu stark wurde.

Ende der Stasi-Auflösung und Weiterarbeit als Verein

Am 9. April 1990 enden in Suhl die Kommissionssitzungen, bis zum 30. Juni 1990 werden die in die ehemalige Untersuchungshaftanstalt Suhl umgelagerten Akten durch Mitglieder der Kommission beaufsichtigt. Am 2. Oktober 1990 gründet sich das Bürgerkomitee des Landes Thüringen e.V. aus der Gruppe der ehemaligen Kommission heraus.

Damit wird ein weiteres Kapitel der Arbeit für die nächsten 25 Jahre aufgeschlagen. In den folgenden Jahren arbeitet das Bürgerkomitee an der Konzeption der drei entscheidenden Rehabilitierung-Gesetze mit21 und erarbeitet auch danach eine Fülle von Gesetzesinitiativen, um die Lage der Opfer der sowjetischen Militäradministration (SMAD) nach 1945 und der SED-Diktatur zu verbessern. Ein hervorragender politischer Gesprächspartner ist in Thüringen Anfang der 1990er Jahre Justizminister Dr. Hans-Joachim Jentsch22. Mit ihm gelingt es auch, das Gesetz zur vorläufigen Hemmung der Verjährung von SED-Verbrechen23 vorzubereiten, dass der Deutsche Bundestag schließlich beschließen sollte.

Ein weiterer bleibender Arbeitsschwerpunkt des Bürgerkomitees ist die politische Bildung. Neben einer Fülle von Veranstaltungen im schulischen und außerschulischen Bereich unterhält es eine Studienreihe, die in loser Folge zu Themen der Aufarbeitung der Geschichte der SMAD und der SED-Diktatur arbeitet.

Die Hauptaufgabe ist und bleibt jedoch die Beratung und Betreuung der Opfer der SMAD und der SED-Diktatur, verstärkt seit 2002 durch Beratungsinitiativen, für die das Bürgerkomitee zu einem Teil Träger ist. Seit am 14. Dezember 1989 ein alter Freund, Fritz Recknagel,24 zu uns in die alte Bezirksverwaltung des MfS kam und seine Geschichte über die Haft in Waldheim25 erzählte, ist das Wissen um das Unrecht und das Empfinden für all die Menschen, die im DDR-Unrechtsstaat Unsägliches erlitten haben, nicht zur Ruhe gekommen. Für das Bürgerkomitee bleibt dies, gerade auch angesichts aktueller politischer Verhältnisse in unserem Bundesland Thüringen26, eine bleibende Verpflichtung und Herausforderung.


Anmerkungen


1 Eingeladen hatte das Neue Forum. http://www.thla.thueringen.de/images/Vortrag_ThLA_Friedliche_Revolution_Suhl_Anke_Geier.pdf (Zugriff 23.11.2019)

2 In der Hölderlinstr. 1 in Suhl. Sie befindet sich auf einem Berg, daher die Bezeichnung.

3 Im Detail: Bürgerkomitee des Landes Thüringen e.V. (Hg.) Aufbruch ´89. Kleine Chronik der Herbstereignisse 1989 in der Bezirksstadt Suhl, September bis Dezember. Suhl 1990, S. 23ff.

4 Aktiv Staatssicherheit der zeitweiligen Kommission des Bezirkstages Suhl für Amtsmissbrauch und Korruption., 1990 (Hg.): Genossen! Glaubt’s mich doch! Ich liebe euch alle! Dokumentation. Suhl 1990.

5 Dokumentation, S. 59f.

6 Wolf Biermann, 1995; in: Grafe, Roman: Deutsche Gerechtigkeit, München 2004.

7 Wie z.B. bei der Schließung der MfS-U-Haft am 06.12.1989 um 15.25 Uhr. Frage an den Leiter der MfS U-Haft, Oberstleutnant Manfred Schleicher: Wie viele Gefangene gibt es hier? Antwort: Keine. Am Ende sind es drei Männer und acht Frauen. Frage: Wo lagern die Akten? Antwort: Hier gibt es keine. Kurze Zeit später stehen wir in einem Raum voller Akten. Frage: Gibt es hier eine Beruhigungszelle? Antwort: Nein. Nach dem Öffnen der nächsten Tür stehen wir im von den Häftlingen sogenannten „Tigerkäfig“, einer mit Blech ausgekleidete Zelle). s. Dokumentation

8 Aktiv Staatssicherheit der zeitweiligen Kommission des Bezirkstages Suhl für Amtsmissbrauch und Korruption., 1990 (Hg.): Genossen! Glaubt’s mich doch! Ich liebe euch alle! Dokumentation. Suhl 1990.

9 Dokumentation, S. 24.

10 Bodo Ramelow setzte SED-Altkader auf Minister- bzw. Staatssekretariatsposten. Ein ehemaliger IM des MfS wurde vor Landtagswahlen auf die Landesliste gesetzt. Der Thüringer Landtag hat den Abgeordneten Frank Kuschel mehrfach für „parlamentsunwürdig“ erklärt. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ex-stasi-im-fuer-die-linke-im-thueringer-landtag-13280463.html (Zugriff 23.11.2019) Die LINKE will nun per Gesetz den Passus „parlamentsunwürdig“ streichen lassen. Ina Leukefeld, war einst IM der Kriminalpolizeiabteilung, K1. Sie wurde von ihrem Wahlkreis, Suhl/Zella-Mehlis/Oberhof, mehrfach in den Thüringer Landtag entsandt. https://www.inaleukefeld.de/politik/ueber-mich/ (Zugriff 23.11.2019)

11 Alexander Solschenizyn schätzt in seinem Werk: Archipel Gulag, die Zahl der Opfer kommunistischer Terrorregime auf 60 Mio Menschen. Archipel Gulag. Bern 1974.

12 Am 26.04.1950 begannen die Schnellverfahren gegen 3324 mutmaßliche Naziverbrecher und Gegner des Regimes, langjährige Freiheitsstrafen und 33 Todesurteile waren die Folge. Die Urteile wurden großenteils von der SED-Parteizentrale vorgegeben. Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht Berlin 1995 S. 174ff; 98 ff.

13 Wentker, Herrmann: Justiz in der SBZ/DDR 1945-1953. München 2001.

14 14.01.1960. Vorschlag von Oltn. Neumann. Mielke stimmt am 08.03.1960 diesem Vorschlag zu. Der damalige ZK-Sekretär Erich Honecker und die Justizministerin, Hilde Benjamin. ebenfalls.

15 Filmer, Werner; Schwan, Heribert: Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes. München 1991, S. 381f.

16 Der damalige Bundesschatzmeister Karl Holluba erklärte im Rahmen eins Pressprozesses, bei dem es um das SED-Vermögen ging: „,Die Linke‘ ist rechtsidentisch mit der ,Linkspartei PDS‘, die es seit 2005 gab, und der PDS, die es vorher gab, und der SED, die es vorher gab.“ https://www.welt.de/politik/article3649188/Die-Linke-Wir-sind-Rechtsnachfolgerin-der-SED.html (Zugriff 23.11.2019)

17 Bezirkseinsatzleitungen waren die regionalen Befehlszentren für den Krisenfall, in dem sich unter Leitung der SED alle bewaffneten Organe koordinierten.

18 Wie sich nach dem Ende der SED-Herrschaft DDR herausstellte, waren Lager für Abtrünnige und Ausländer für den Krisenfall geplant.

19 Dokumentation, S. 33ff.

20 Siehe Einleitung. Link in Arbeit

21 StrRehaG, BerRehaG, VerwRehaG.

22 Justizminister in Thüringen 1990-1994

23 Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten (Verjährungsgesetz) vom 26. März 1993.

24 Gestorben 2009

25 Ort in Sachsen mit einer berüchtigten Haftanstalt, die auch lange nach den sogenannten Waldheimer Prozessen (s.o.) genutzt wurde.

26 Seit 2014 regiert in Thüringen eine  rot-rot-grüne Koalition unter dem Ministerpräsidenten der Linkspartei, Bodo Ramelow.