Fernschreiben des Erfurter AfNS (MfS)- Bezirksamtes an die Berliner Zentrale über die „Gewaltsame Erzwingung des Zutritts Oppositioneller Kräfte zum Bezirksamt“
am 4. 12. 1989 um ? Uhr
CFS 05
LUFT
Amt für Nationale Sicherheit, Generalleutnant Schwanitz
Information
Über die gewaltsame Erzwingung des Zutritts oppositioneller Kräfte zum Bezirksamt für Nationale Sicherheit Erfurt
Seit ca 10.00 Uhr wurden seitens Erfurter Bürger die gesamten drei Zugänge des Bezirksamt Erfurt blockiert. Maßgeblich beteiligt daran war ein Kranwagen der Erfurter Verkehrsbetriebe[1], der die Ein- und Ausfahrt des Hauptobjektes unmöglich machte.
In kürzester Zeit haben sich ca. 500 Personen an den drei Eingängen gesammelt. Durch die an der Blockade beteiligten oppositionellen Kräfte wurden alle Mitarbeiter die die Absicht hatten, das Haus zu betreten, kontrolliert, einschließlich der mitgeführten Taschen sowie der PKW.
Da die Gefahr einer weiteren Eskalation bestand, entschied der Leiter des Bezirksamtes eine Abordnung von 10 Personen zu empfangen, um über das Anleigen dieser Kräfte informiert zu werden und beruhigend auf diese Einfluß zu nehmen. Während dieses Gespräches im Konferenzzimmer des Leiters des Amtes verschafften sich weitere Personen unter Führung einer Frau Dr. Schön, Kerstin, die sich als Sprecherin eines unabhängigen Untersuchungsausschusses ausgab, gewaltsam Zugang zum Bezirksamt und begaben sich ebenfalls in das Konferenzzimmer.
Die Frau Schön hatte zuvor den Staatsanwalt des Bezirkes über ihre Absicht, Archivmaterialien und andere Unterlagen im Amt für Nationale Sicherheit vor Vernichtung zu bewahren, in Kenntnis gesetzt[2].
Die Hauptforderungen der in das Bezirksamt eingedrungenen Personen bezogen sich insbesondere auf die Einsichtnahme in die Archive sowie angeblich vorhandene Unterlagen zu konkreten Personen, die sich zum Teil unter den Anwesenden befanden[3], die Einsichtnahme in vorhandene Speicher sowie die Inaugenscheinnahme der Verkollerungsanlage und der Haftanstalt.[4]
Der zwischenzeitlich berbeigerufene Leiter der Abteilung röm 1A des Staatsanwaltes der Bezirkes Erfurt, Genosse Rudat, sowie sein beigeordneter Staatsanwalt, Genosse Ilgen, erklärten sich nicht zuständig und kompetent für die Klärung der aufgeworfenen Fragen. Daraufhin wurden der Militärstaatsanwalt des Bezirkskommandos, Osl. Weißmantel sowie der Militärstaatsanwalt der 4. MSD, Osl. Lippol[5] in das Amt für Nationale Sicherheit beordert.
Im Beisein der erwähnten Staatsanwälte sowie von Journalisten der „Neuen Thüringer Zeitung“, der „Thüringer Neuesten Nachrichten“ sowie des „Volkes“ wurde aufgrund der massiven Forderungen eine Objektbegehung realisiert.
Dabei ist die Besichtigung folgender Räumlichkeiten besonders relevant:
- Datenendstelle der AKG
- Archiv der Abt. röm. 12
- Das sich außerhalb des Bezirksamtes befindliche Objekt der Abteilung röm 8.
Eine geforderte Abfragung der ZPDE, die Einsichtnahme in konkrete operative Unterlagen konnten durch eingeleitete Maßnahmen verhindert werden.
Fragen zur konkreten Personalstärke des Amtes sowie zur detaillierten Struktur wurden nicht beantwortet.
Es konnte nicht verhindert werden, dass Papiersäcke, die zur Verkollerung vorgesehen waren, durch die Vertreter des sogenannten Bürgerkomitees eingesehen wurden. Dabei handelt es sich unter anderem auch um Materialien der Abt. -M-.[6]
Während des gesamten Rundganges wurden durch die anwesenden Journalisten Fotoaufnahmen getätigt. Im Gebäude des Bezirksamtes befanden sich insgesamt ca. 150 Personen.
Erst nach längerer Diskussion waren die in das Bezirksamt eingedrungenen Kräfte damit einverstanden, daß die anwesenden Staatsanwälte die betreffenden Räumlichkeiten und Panzerschränke versiegelten und sie das Bezirksamt wieder verlassen.
Da auch den Maßnahmen der Staatsanwälte großes Mißtrauen entgegengebracht wurde, bestand man darauf, an neuralgischen Punkten innerhalb des Bezirksamtes sogenannte „Bürgerwachen“ einzusetzen.
Dabei handelt es sich um folgende Punkte im Objekt des Bezirksamtes:
- Südeingang
- Haupteingang
- Nordeingang
- Finanzen/Datenendstelle AKG
- Tiefkeller / Küche
- Archiv röm 12
Seitens dieses sogenannten Untersuchungsausschusses besteht die Absicht, am Dienstag, den 50.12.89 um 11.00 Uhr ein erneutes Gespräch mit dem Leiter des Bezirksamtes zu führen.
Ähnliche Aktivitäten oppositioneller Kräfte … es in den Objekten der Kreisämter Eisenach, Arnstadt und des Kreisamtes Erfurt.
Durch die Besetzung der Ein- und Ausgänge des Dienstobjektes ist das Bezirksamt handlungsunfähig.
[1] Es war ein Reparaturwagen mit ausfahrbarer Arbeitsbühne, wie auf Fotos zu erkennen ist.
[2] Tatsächlich war nicht Kerstin, sondern Angelika Schön mit Barbara Weisshuhn (jetzt Sengewald) und Manfred Ruge beim Staatsanwalt. Aufgrund der Nachnamensgleichheit kam es offenbar zu dieser Verwechslung.
[3] Augenzeugen berichten, dass u.a. Gabriele Stötzer (damals Kachold) laut forderte: „Ich will meine Akte sehen“. Sie war wegen einer Solidaritätsaktion zur Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 hier inhaftiert, vernommen und verurteilt worden.
[4] Eigentlich wollten die Demonstranten die Verbrennungsöfen sehen, deren Rauch auf die Aktenvernichtung aufmerksam gemacht hatte.
[5] 4. Motschützendivision, Oberstleutnant
[6] Abt. M war die Postüberwachung