Die Auflösung der Kreisämter für Nationale Sicherheit im Bezirk Schwerin am Beispiel des Kreisamtes Hagenow

Martin Klähn

Dass auch schon im Norden der DDR ab dem 4. Dezember 1989 mit der Besetzung von Dienststellen der Staatssicherheit begonnen wurde, zeigt das Beispiel der Kreisstadt Hagenow. Es soll hier stellvertretend für den Prozess der Auflösung der Kreisämter beschrieben werden. Die Ausführungen stützen sich zum einen auf die Diplomarbeit38 eines Mitarbeiters der vormaligen Kreisdienststelle (KD) des MfS in Hagenow, Major Klaus-Peter Künzer, die dieser zu Fragen der Umsetzung der Sicherheitspolitik der SED im Kreis Hagenow durch das MfS schrieb und noch Ende Januar 1990 an der Juristischen Hochschule des MfS einreichte. Zum anderen wurde ein Zeitzeugenbericht von Bernd Krakor herangezogen.39

In seinem Bericht „Wir haben die Stasi besetzt“ berichtet Krakor, wie er mit fünf weiteren Kollegen vom VEB Meliorationsbau Hagenow auf Grund von Gerüchten über Aktenvernichtung am 4. Dezember zum Kreisamt für Nationale Sicherheit in der Schweriner Straße in Hagenow fuhr. Dort begehrten sie Einlass mit den Worten: „Wir wollen mal nachsehen, ob hier Akten vernichtet werden.“ Sie wurden vom stellvertretenden Leiter, Herrn Haugg, hereingebeten. Zwei Mann durften mit in das Gebäude und sich davon überzeugen, dass der Reißwolf stillstand. Sie fanden etliche Säcke mit geschreddertem Papier. „Was machen wir jetzt?“, war die Frage. Sie fuhren zu Matthias de Boor vom örtlichen Neuen Forum. Der hatte die Idee, zum Kreisstaatsanwalt zu gehen. Dort trafen sie auf die Staatsanwältin Annedore  Dukatz, mit der sie gemeinsam zum Kreisamt zurückkehrten. Nach Aufforderung versiegelte diese den Raum mit dem Reißwolf, die Waffenkammer und den Funkraum. Am nächsten Tag kamen sie wieder. Die Staatsanwältin versiegelte weitere Räume, u.a. das Archiv, das schon zu zwei Dritteln leergeräumt war. Am dritten Tag wurde der Rest der Unterlagen im Hagenower Kreisamt in Säcke gestopft und nach Rampe bei Schwerin gebracht. Die Stasi-Leute mussten die Säcke tragen, die Bürger kontrollierten. „Räume, in denen man Leute gefangen halten kann, haben wir nicht gesehen. Die gibt es in Schwerin. In Hagenow waren sie stolz darauf, daß sie keine 'Folterkammer' hatten.“40

Der seinerzeit in der Kreisdienststelle Hagenow arbeitende Major Künzer registrierte schon im Vorfeld der Besetzung eine zunehmende Beunruhigung der Inoffiziellen Mitarbeiter und beklagte die mangelnde Effektivität der Treffen: Es ginge viel Zeit für Motivation und politische Diskussion verloren und die IM sähen keinen Sinn mehr in ihrer Spitzeltätigkeit. Trotz allem, so schrieb er, konnte der Bestand an Quellen bis zur Schließung der Kreisdienststelle Hagenow konstant gehalten werden. Er befürchtete allerdings in Folge der innenpolitischen Destabilisierung, dass in Zukunft der Quellenschutz nicht mehr zu gewährleisten sei. In einem weiteren Punkt kam Major Künzer auf einen Vorschlag von Egon Krenz zu sprechen. Dieser hatte im November 1989 ein Gesetz zur staatlichen Sicherheit gefordert. Die Aussicht auf gesetzliche Grundlagen ihrer Tätigkeit wurde von den Genossen der KD „begeistert aufgenommen, da eine stärkere Rechtssicherheit der Arbeit und der Angehörigen des MfS [...] schon lange überfällig war.“41 An dieser Stelle kritisierte Künzer die Unfähigkeit von Minister Mielke „sein“ Organ [das MfS] in der Öffentlichkeit vor Angriffen in Schutz zu nehmen und das zunehmende Versagen der SED im Herbst 1989. Daraus resultiere eine Ungewissheit der Mitarbeiter, die durch widersprüchliche Angaben aus der Bezirksverwaltung Schwerin bzw. dem MfS insgesamt als auch dadurch verstärkt werde, dass die oppositionellen Kräfte an Einfluß gewinnen, die Organe der Staatsmacht dagegen an Wirksamkeit verlieren. „Dieser Prozeß der Demokratisierung war durch viele Mitarbeiter in dieser Form [...] schwer zu begreifen.“42

Nachdem in der Hagenower Stadtkirche erstmals am 12. Oktober 1989 eine Versammlung des Neuen Forums mit massivem Kräfteeinsatz der Staatssicherheit “aufgeklärt“ worden war, stellten sich bei den damit betrauten Mitarbeitern erste Zweifel an der Verfassungsfeindlichkeit des Neuen Forums ein. Mitarbeiter der KD wollten öffentlich mit den Leuten des Neuen Forums diskutieren, unterließen dies aber aus Gründen der Disziplin. Verunsicherung und Ratlosigkeit unter den Genossen nahmen zu, vor allem, da es keine öffentlichkeitswirksame Verteidigung durch die Ministeriumsspitze gab. Ab Mitte November verstärkten sich die Zweifel angesichts der Akten- und Dokumentenauslagerungen sowie der Schriftgutvernichtung. Auflösungserscheinungen, wie fehlende Motivation zur Aufgabenrealisierung, beginnende Arbeitsstellensuche, offene und massive Äußerungen gegen die Parteiführung und obere Leitungsstrukturen des MfS, setzten ein.43 Laut den Aussagen von Major Künzer ist in der KD Hagenow keine Akte mehr vernichtet worden, nachdem General Schwanitz am 4.12.1989 den Befehl gegeben hatte, die Aktenvernichtung unverzüglich einzustellen.

Nach der Versiegelung verschiedener Räume durch Staatsanwaltschaft und Vertreter der Bürgerinitiative erfolgte am 9. Dezember die Waffenauslagerung in das VPKA Hagenow. Die Mitarbeiter waren seit dem 8. Dezember beurlaubt, bis auf einzelne Kräfte, die für Aufräum- und Verladearbeiten in der Woche vom 11. bis 15.12.1989 zur Verfügung standen. Am 15.12.1989 wurden die Immobilien des Kreisamtes in Hagenow und Boizenburg an den jeweiligen Rat der Stadt übergeben. Wie Künzer ausführt, seien diese Maßnahmen im Konsens mit der Bürgerinitiative erfolgt, zu Auseinandersetzungen sei es nicht gekommen. Hinsichtlich der Ausstattung der KD hätte es allerdings unrealistische Vorstellungen der Mitglieder der Bürgerinitiative gegeben, die in allen Büros Computer erwartet hätten und nach speziellen Vernehmungszimmern oder Haftzellen suchten, die es nicht gab. „Diese Vorstellungen riefen bei den Mitarbeitern Unverständnis hervor.“44 Mit ebenso großem Unverständnis stellte Künzer fest, dass die Mitarbeiter der KD auf die tatsächliche Aufgabenstruktur der Kreisdienststelle hinzuweisen versuchten, doch die Bürger nur über Bespitzelung und Verfolgung reden wollten.

 „Spätestens da war klar, daß das MfS in seiner Öffentlichkeitsarbeit versagt hatte und die eigentlich angestrebte Zusammenarbeit mit der Bevölkerung nie erreicht hat, lediglich als Ausnahme mit den inoffiziellen Mitarbeitern, als Teil der Bevölkerung.“45

So wirklichkeitsfremd wie diese Einschätzung ist auch Künzers Resümee, die BV in Schwerin hätte die von der Kreisdienststelle geforderten Gespräche mit Vertretern des Neuen Forums nicht ablehnen dürfen. Es sei immer eine hohe Gesprächsbereitschaft von Seiten des Neuen Forums und Vertretern der Kirche vorhanden gewesen, die man hätte nutzen können, den Bürgern die Aufgaben des Kreisamtes klarzumachen. „Spannungen, Illusionen und Irritationen hätten abgebaut werden können, im Interesse eines sachlichen Miteinanders.“46

Die Auflösung der Übrigen Kreisdienststellen

Die übrigen Kreisdienststellen im Bezirk wurden eher hektisch aufgelöst. Ursache für die dürfte das Telegramm von General Schwanitz an die Leiter der Bezirksämter vom 9. Dezember 1989 gewesen sein, in dem es u.a. hieß: „Aufgrund der sich entwickelnden Lage duldet die von mir am 3.12.89 angewiesene Auflösung der Kreisämter keinen weiteren Aufschub mehr.“47 Alle Mitarbeiter seien mit sofortiger Wirkung zu beurlauben und die Dienstobjekte selbst bis zum 12. Dezember endgültig zu schließen. Dahinter stand der Druck auf die AfNS-Leitung seitens der Modrow-Regierung, die endlich Erfolge bei der Auflösung des AfNS bzw. der Umwandlung von Teilen des AfNS zu einem Verfassungsschutz der DDR vorweisen wollte. Inwieweit die Mitarbeiter vor Ort die Situation als Gunst der Stunde begriffen und Akten vernichteten bzw. verschwinden ließen, ist letztlich nicht mehr zu klären.