Die Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 15. Januar

Die Sitzung des Zentralen Runden Tisches (ZRT) verlief anders, als es die Akteure der Bürgerkomitees aus den Bezirksstädten erhofft hatten. Ursprünglich wollten sie über einen privaten Kontakt zum katholischen Moderator des ZRT ein Rederecht zu Anfang der Sitzung verabreden. Doch der Moderator erteilte Ihnen nicht das Wort. Sei es, weil ein Teil der Bürgerkomiteemitglieder zu spät eintraf, der Moderator sich nicht an die Vorabsprachen gebunden fühlte oder weil er den Regierungschef, Hans Modrow, der erstmals Rede und Antwort stehen sollte, nicht länger warten lassen wollte.1 Der Aufritt von Vertretern der Bürgerkomitees am Runden Tisch wäre daher fast komplett gescheitert.2 Die Sitzung begann dann zunächst regulär mit dem Beitrag des Ministerpräsidenten Modrow.

Foto: Auftaktsitzung des Zentralen Runden Tisches im Dezember 1989

Protokoll der 7. Sitzung des ZRT vom 15.1.1990. BArch-Digitalisat 

Modrow, der einen Bericht zum Stand der MfS-Auflösung geben sollte, nutzte die Gelgenheit, um vor laufenden Kameras seine Zusage zu bekräftigen, dass es bis zu den Wahlen „keine neuen Ämter geben“3 werde. Er machte mehrere Angebote an die Opposition „zu einem engeren Zusammenwirken“4 und sagte zu, die Stasi-Auflösung unter „zivile Kontrolle“ zu stellen. Die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD), die früher eng mit der SED-PDS kooperiert hatte, konkretisierte, diese Aufgabe  könne eine Dreiergruppe aus Kirche, Opposition und etablierten Parteien übernehmen.5

Modrow folgte also seiner Strategie, eine Art neuer Verantwortungsgemeinschaft zu bilden, in der Teile der Opposition eingeschlossen sein sollten. Er gab dabei den ehrlichen Makler.6 Offenbar hoffte Modrow auf diese Weise im Vorfeld der bald anstehenden Volkskammerwahlen zu punkten.

Allgemein bleibend verabschiedete sich der Regierungschef bald unter einem Vorwand aus der Sitzung. Den Part, konkrete Fragen zum MfS zu beantworten, übernahm dann Manfred Sauer aus dem Büro des Ministerpräsidenten. Der bisherige Regierungsbeauftragte zur Stasiauflösung7 war kurz vorher, auch auf Drängen der Opposition, abgesetzt worden. Sauer, der kurzfristig eingesprungen war, konnte sich bei konkreten Nachfragen daher immer wieder auf sein angebliches oder tatsächliches Nichtwissen zurückziehen. Fragen zur Beziehung zwischen SED und Stasi wehrte er entweder ab oder bat um Vertagung der Antwort.8 Dies entsprach der Regierungslinie, dem MfS die primäre Verantwortung zuzuschieben und die Regierungspartei möglichst außen vor zu halten.

Da der Moderator den Bürgerkomitees kein Rederecht eingeräumt hatte, trat schließlich ein Vertreter des Neuen Forums seinen Sitz am Runden Tisch einem Mitglied der Bürgerkomitees ab. Dieser wurde dann kurzfristig durch einen anderen Bürgerkomitee-Vertreter ersetzt9. Kurzum, die politisch wenig erfahrenen Bürgerkomiteemitglieder aus den Bezirken agierten etwas konfus oder waren durch Intrigen aus dem Tritt gebracht worden. Ein Punktgewinn für Modrow und es war nicht sein letzter.

Der Bericht über die Stasiauflösung und der des Innenministers über die innere Sicherheit wurden unmittelbar hintereinander vorgetragen und durcheinander diskutiert. Dies führte zu einer relativ diffusen Diskussion. In dieser unklaren Situation durften dann schließlich auch der Vertreter der bezirklichen Bürgerkomitees sprechen, der die Pläne zur Abwicklung der MfS/AfNS-Zentrale in Berlin vortragen sollte. Der junge Theologiestudent, Konrad Taut aus Leipzig, vergaß jedoch in dem Durcheinander zu erwähnen, dass eine Delegation der Bürgerkomitees vor Ort in der ehemaligen MfS-Zentrale eine Sicherheitspartnerschaft organisieren wollte. Statt dessen überrumpelte ihn der Regierungsvertreter, Manfred Sauer, indem er behauptete, eine Sicherheitspartnerschaft sei bereits geschlossen. Wenn es nach der Regierung gegangen wäre, hätte sie dies auch schon früher gemacht. Die Regierungs-Vertreter am Runden Tisch, darunter auch ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter, versuchten also den Eindruck zu erwecken, es sei der Fehler der Bürgerkomitees selbst gewesen sei, dass die Bürgerkontrolle in der Zentrale nicht schon früher zustande gekommen war. „Dann wären wir heute einen Schritt weiter,“10 behaupteten sie, ohne Belege dafür zu liefern.

Es ist zu bezweifeln, dass viele im Lande, die diese Sitzung an den Fernsehern verfolgten, überhaupt verstanden, worum es ging. Allerdings dürften die Informationen, die in dieser Sitzung genannt worden waren, die Gemüter erregt haben. Erstmals wurden Zahlen zu MfS-Mitarbeitern und -Spitzeln bekannt. Sie waren zwar untertrieben, dürften aber zur Mobilisierung der Demonstranten am Abend beigetragen haben, auch zu den Protesten vor den Toren der MfS-Zentrale in Berlin.

Im Übrigen lagen dem ZRT drei konkrete Vorschläge vor.

Antrag 5 der AG Sicherheit.

Erklärung der Bürgerkomitees. 

Antrag des Neuen Forum. 

Heute wird gelegentlich behauptet, dass die Bürgerkomitees dem radikaleren Antrag der AG Sicherheit in den Rücken gefallen seien. Dies wird als ein Beleg für die angebliche Manipulation der Abläufe herangezogen.11 Der Textvergleich der Positionspapiere gibt solches aber kaum her. Der Antrag der Bürgerkomitees forderte entschiedenere Auflösungsmaßnahmen ab dem 17. Januar. Die AG Sicherheit sprach ergänzend von der „ersatzlosen Auflösung“ -ebenfalls ab dem 17. Januar. Sie forderte zudem die Entwaffnung, die zu diesem Zeitpunkt allerings ohnehin schon weitgehend vollzogen war. Während die AG die Kontrolle der Auflösung selbst übernehmen wollte, wollten die Bürgerkomitees nach Vorbild der Bezirke ein gemeinsames Gremium aus Bürgervertretern, Polizei, Regierung, Staatsanwaltschaft und Verantwortlichen des ehemaligen MfS/AfNS bilden. Da in der AG Sicherheit aber auch die Blockparteien unter Einschluss der SED-PDS vertreten waren, kann man bezweifeln, dass deren Vorschlag zu einer radikaleren Lösung geführt hätte. Radikaler war indes der dritte Antrag des Neuen Forum, da er sich auch stärker gegen die SED richtete, ein Hausverbot für alle ehemaligen MfS-Mitarbeiter forderte und erste Strafverfolgungsmaßnahmen androhte.

Zu einem konkreten Beschluss über einen dieser Vorschläge zur Stasiproblematik kam es in der Vormittags-Sitzung des Runden Tisches vom 15. Januar nicht.12 Kurioser Weise wurden die Anträge nicht einmal vorgelesen. So wußte zumindest das Fernsehpublikum nicht genau, worum es überhaupt ging. Monsignore Ducke, einer der Sitzungsleiter, plädierte auf Grund der verschiedenen Anträge und der veränderten Informationslage auf Vertagung und Überarbeitung der vorliegenden Anträge. Die Opposition stimmte dem zu.13

Auf die Idee, einen deeskalierenden Antrag zur heiklen Demonstration am Abend zu stellen, kam niemand. Angesichts der aufgeheizten Stimmung im Lande wirkt das aus heutiger Sicht erstaunlich. Aber dies spricht aber eher für eine Überforderung und weniger für eine Finte oder gar einen Masterplan. Allerdings musste die Sitzung genau zu diesem Zeitpunkt unterbrochen werden, da es angeblich eine Bombendrohung gab. Das war dann doch eine Intrige, von wem auch immer inszeniert. Vor Bekanntgabe der Bombenwarnung wurde die Fernsehübertragung beendet, so dass die Bürger an den Geräten nicht erfuhren, warum sich der Runde Tisch auf einmal verabschiedete.14

Am Nachmittag kam das Thema Stasi-Auflösung dann noch einmal ungeplant auf die Tagesordnung. Meldungen zur Demonstration vor der Zentrale des MfS/AfNS erzwangen den Abbruch der Sitzung.

Protokoll der 7. Sitzung des ZRT vom 15.1.1990. BArch-Digitalisat 

 

Anmerkungen

1 Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S.353

2 Wolfgang Loukides aus Schwerin, ein Kirchenjurist, hatte dies mit Monsignore Karl-Heinz Ducke, vorbesprochen. Das Folgende basiert auf einem Interview vom 17.5.2018. Auch der katholisch Pfarrer Martin Montag aus Suhl wollte mit seinem Amtskollegen Ducke sprechen. Interview Januar 2019.

3 Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S.347

4 Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S.348

5 Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S.352; Dieses Modell wurde schließlich von Modrow übernommen, auch um einen Vorschlag des Neuen Forum, selbst den Auflösungsleiter zu stellen, auszuhebeln.

6  Kowalczuk, Ilko-Sascha. Das Endspiel, Berlin 2009, S. 522

7 Peter Koch wurde auf Druck der ZRT abgelöst.

8 Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S.379ff

9 Angeblich hatte hinter den Kulissen eine Spontan-Sitzung von Bürgerkomiteevertretern stattgefunden, wo die Ersetzung von Wolfgang Loukides, Schwerin durch Gerhard Rogge, Rostock, beschlossen worden sein soll. Loukides hatte die Absicht, die Aktenvernichtungen der letzten Zeit scharf zu kritisieren, er wurde jedoch durch den gemäßigteren Rogge abgelöst. Der „Drahtzieher“ dieser Maßnahme war ein Mitglied des Berliner Bürgerkomitees, das im Dezember im Berliner Polizeipräsidium gegründet worden war. Interview Wolfgang Loukides am 17.5.2018. Der ausgetauschte Vertreter meinte vor dem Gremium beschwichtigend, seit dem 7. Dezember sei „keine einzige Akte“ vernichtet worden. Gerhard Rogge. Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S. 353 Diese nicht zutreffende Behauptung war eine Entlastung für Modrow. Denn seine Regierung hatte das AfNS am 7. Dezember aufgefordert, rechtswidrige Unterlagen zu beseitigen (Der Autor, damals SFB-Hörfunkkorrespondent in der DDR, hatte ein entsprechendes Dokument vom Bürgerkomitee Magdeburg bekommen und an den Runden Tisch weitergereicht). Der Vertreter des Bürgerkomitees bestätigte dann, dass kein Schaden entstanden sei (später musste diese Aussage wieder zurückgenommen werden). Diese Position sei nicht unter den Bürgerkomitees abgestimmt gewesen. Konrad Taut aus Leipzig. Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S. 371 Zu dem Zeitpunkt des Dementis hatte Modrow den Runden Tisch allerdings schon lange verlassen und nur Insider konnten überhaupt noch verstehen, worum es ging.

10 So der MfS/AfNS-Vertreter Gerd Bäcker. Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S. 381

11Martin Gutzeit im Gespräch mit dem Autor

12 Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S. 346ff

13 Martin Gutzeit, SPD und damals Mitglied der AG Sicherheit, behauptet, ihr radikaler Antrag sei von Wolfgang Ullman an Ibrahim Böhme (IM 'Maximilian') weitergereicht worden, der ihn nicht einbrachte. Dafür sprechen auch die Randnotizen Ullmanns auf dem Antrag der AGS, Bl. 2 in der Sitzung.

14 Protokoll der 7. Sitzung des Runden Tisches am 15.Januar 1990. In: Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990, Bd. II, S. 392f