Stasi-Leak. Die Entführung der Stasi-Gehaltsdatei in den Westen- kurz vor der deutschen Einheit

von Christian Booß

Man stelle sich vor: Ein Überläufer würde mit der Liste der Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf einem Stic Richtung Osten über die Grenze, die der EU gar, marschieren. Ein Super-Leak und Stoff für einen Kriminalroman allzumal. Ein ähnlicher Krimi spielte sich, bis heute weitgehend unbekannt, vor 30 Jahren gut einen Monat vor der deutschen Einheit vm 3.Oktober 1990 ab. Die Grenze war die zwischen Ost und Westberlin, die noch einige Tage galt. die Daten, die der ehemaligen Mitarbeiter der Stasi. Die Beteiligten keine Geheimagenten sondern Stasi-Auflöser Ost, sozialdemokratische Berater und die Regierung Nordrheinwestfalens.  Ihr Motiv. Sie befürchteten. Nach der Vereinigung könnten alte Stasi-Strukturen vertuscht werden.

Lange war die Zugehörigkeit zum Ministerium für Staatssicherheit eines der am stärksten gehüteten Geheimnisse der DDR-Geheimpolizei, selbst als dieses 1989(90 aufgelöst wurde. Allerdings waren zu Zwecken der Gehaltsabrechnung alle knapp 100.000 Mitarbeiter in einer Datenbank erfasst, dem sogenannten Finanzprojekt. Da man hoffte, auch vom einstigen Klassenfeind nach der Vereinigung Renten kassieren zu können, wurde das Finanzprojekt sorgsam verhalten, aber den Bürgern, die die Stasi auflösten, versteckt. Die Daten sollten nicht in „falsche“ Hände fallen. Deswegen war die Satenbanjk heimlich in ein Rechenzentrum nach Pätz südöstlich von Berlin ausgelagert. Die dortigen Betreiber, ehemalige Kooperationspartner des MfS, galten den Ehemaligen als vertrauenswürdig. Allerdings -Etappe eins des Coups- der Datentransfer wurde durch einen Stasi-Auflöser. Der Spürnase mit dem Spitznamen „Bunker-Harry“ waren verdächtige Kurierfahrten des staatlichen Auflösungskomitees, des sogenannten Eichornkomitees, aufgefallen, erinnert sich Ewert.

Film: Harry Ewert, damals Stasi-Auflöser

Diese Information war damals höchst brisant. Stasi-Auflöser hatten eine geheime Anordnung des MfS gefunden, wonach hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter getarnt in Staat und Wirtschaft gearbeitet hatten sogenannte Offiziere im besonderen Einsatz (OiBE). Und diese saßen auch nach den ersten freien Wahlen vom März 1990 meist noch immer unerkannt in ihren Funktionen. Eine geheime Struktur, die potentiell die demokratische Umgestaltung gefährden konnte. Sie aufzuspüren war nicht einfach.

Die neue Regierung, Innenminister Peter-Michael Diestel, umringt von ehemaligen Herrschaftsträgern schien zu mauern. Mit einem Bluff brachten einige Abgeordnete die Magnetbänder an sich. Sei fuhren mit den schickesten Parlamentslimousinen, die die DDR zu bieten hatte, französiche Limousinen, wie einst Honecker sie benutzt hatte, nach Pätz und täuschten Kompetenzen vor. In der nachrevolutionären DDR, wo Exekutive und Legislative schon manchmal durcheinandergingen funktionierte das. „Wir haben Diestel, den damaligen Innenminister, ausgetrickst“, meint Harry Ewert.

Mit Hilfe der Gehaltsdatenbänder der Stasi konnten Vertraute um den damaligen Volkskammerabgeordneten, dem späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck, damals mit der Kontrolle der Stasi-Auflösung befasst, viele der geheimen Stasimitarbeiter enttarnen. “Das war die Voraussetzung für die OIBE-Liste“, meint Ewert. Da diese neben ihrem eigentlichen Gehalt noch eines von Mielke bezogen hatten, waren die OiBE in dem Datensatz relativ gut zu identifizieren. Das war mit der Datenbank nachvollziehbar.

Film: Harry Ewert, damals Stasi-Auflöser.

Das Enttarnen der OiBes ging langsam voran. Die Gruppe, die die Daten besorgt hatte, fürchtete, dass es nach dem 3.Oktober nicht weitergehen würde. Aus ihrer Sicht zeigte die damalige CDU-Bundesregierung unter Helmut Kohl zu viel Nachsicht mit den ehemalilgen Stasi-Leuten. Angeblich war es der sozialdemokratische Berater Nordrheinwestfalens beim Innenausschuss der Volkskammer, Ulrich Kleiner, der die Idee aufbrachte, eine Datenkopie stikum nach Düsseldorf zu bringen. Kleiner, altgedienter Staatssekretär unter Johannes Rau, mit vielfältigen politischen und persönlichen Beziehungen in NRW galt als so etwas wie eine graue Eminenz. „Der Vater der Füchse“, meint Ewert heute.

Die Bänder lagen freilich wohl verschlossen in einem Tresor der Volkskammerpräsidentin in Ostberlin. Etappe 2 des Coups bestand darin, das Band-Original vorübergehend aus dem Tresor zu holten, heimlich zu kopieren und über die Grenze zu bringen. Letztere ware zwar offen,  aber Stichproben- oder gar gezielte Kontrollen waren nicht auszuschließen. Ein Beteiligter, der lieber namentlich nicht genannt werden will erinnert, wie er mit den Bändern über die Berliner Grenze von Ost- nach Westberlin gehen wollte. „Wenn die mich jetzt mit den Bändern erwischen, was kommt dann?, fragte sich der Fahrer panikartig und ließ sein Auto stehen. Zu Fuß sei er dann zum Reichstag gelaufen, die drei Bänder in der versiegelten Tasche.

Das Zwischen-Depot im Reichstag war nicht sicher. Die Berliner Stellen bei Polizei und Verfassungsschutz schienen ihm, wie wie heute wissen, nicht völlig zu unrecht, für Stasidurchsetzt und daher nicht sicher. Daher faßte er einen ungewöhnlichen und durchaus pikanten Plan. Er übergab er die Fracht an einen amerikanischen Freund. Gordon T. war seines Wissens nach kein Geheimdienstler, sondern Konsularbeamter, seit Jahren seit gemeinsamen footballtrainig befreundet. Dieser Gordon meinte, es müsse ihm klar sein, dass sie „nicht nicht auf die Bänder sehen“ würden. Doch der Kurier wollte sie loswerden, die Bänder waren für ihn „wie flüssiges Eisen“, an dem man sich verbrennt. Er habe „Schiss“ gehabt und ständig das Gefühl „jetzt zielt ein Scharfschütze auf mich“ schildert der Bote heute seine Gemütslage von damals bei der ungewöhnlichen Übergabe. Ganz abwegig waren die Albträume nicht, denn später hörte er, die Bänder seien kurzzeitig „über den Teich“ gegangen“, also in die USA. Augenzeugen gibt es für dieses damals durchaus brisante Leak a la CIA nicht. Immerhin waren Westgeheimdienste damals eifrig dabei, Stasi-Leute als Informanten zu werben. Fest steht, als Ewert und Kleinert sich in Westberlin meldeten und nach den Bändern fragten, mussten sie sich eingie Tage gedulden, bis diese wieder verfügbar waren. „Die waren dann drei Tage weg“, erinnert sich Ewert.

Die beiden Amteur-Agtenten wagten wegen der Flughafenkontrollen nicht, die Bänder per Flugzeug weiterzutransportieren und nahmen daher PKW nach Düsseldorf. Laut einem Protokoll aus dem nordreinwestfälischen Innenministerium wurden sie Anfang August 1990 dem dortigen Innenministerium angeboten. Sie seien in der Volkskammer „vor Entwendung nicht sicher“. Auf den Rechnern des NRW-Innenministeriums wurden sie nun dupliziert und bearbeitet. Laut diesem Vermerk habe man sich über das Vorgehen am 19.9.1990 auch mit dem damaligen Vorsitzenden der Volkskammerausschusses zur Kontrolle der MfS-Auflösung, Joachim Gauck, verständigt und sie teilweise später der neu gegründeten Gauckbehörde für die Stasiunterlagen wieder zurück gesendet.  Ob der spätere Bundespräsident schon vorher wusste, dass die Daten gen Westen gingen, ist bis heute unklar.

In Düsseldorf war Harry Ewert mehrfach beteiligt, die Daten zu entschlüsseln und weiterzuverarbeiten.

Film: Harry Ewert, damals Stasi-Auflöser.

Nach seiner Erinnerung wurden sie genutzt, um Personen in der ehemaligen DDR  auf MfS-Mitgliedschaft zu überprüfen.

Film: Harry Ewert, damals Stasi-Auflöser.

Auch der DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel soll überprüft worden sein. Die Daten waren auf das damals im Westen gängige dbase-Programm umformatiert und seither auf jedem normalen PC lesbar. das trug zu ihrer Verbreitung bei. Verfassungsschutzämter, die Bundeswehr, die Treuhand sollen nach glaubhaften Aussagen zeitnah über derartige Kopien verfügt haben, um Personal v.a. aus Ostdeutschland zu überprüfen. Vor allem gelangten die Datensätze auch in die Hände von Journalisten. Das Fernsehmagazin „Kontraste“ enttarnte im Mai 1991 noch unerkannte hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter.  Die der Opposition nahestehende Zeitschrift „Die Andere“ druckte im März 1991 ganze Namens-Listen ab. In der untergangenen DDR war diese Veröffentlichung ein wahrer scoop. Der Verkauf des Blattes schnellte auf  55 000 Exemplare hoch. Die offiziellen Schnell-Reaktionen waren harsch. Berlins damalige Justizsenatorin Jutta Limbach, sah "Geheimnisverrat" andere witterten den Beginn von „Jakobinertum“ und Mord und Totschlag.  Doch das Getöse sollte wohl nur überdecken, auch viele Behörden selbst durch einen postrevolutionären Datenklau an diese Liste gekommen waren. Und so kursieren bis heute Kopien der sogenannten Hauptamtlichen-Liste unter dem Namen Nierenspende u.ä. auf verschiedenen, meist ausländischen Servern im Internet. Zwar gab es immer wieder Ansätze, derartigen Veröffentlichungen- zumindest ein schwerer Fall von Verwahrungsbruch- zu kriminalisieren. Aber das Verfolgungsinteresse der staatlichen Seite blieb eher nachlässig. Denn dieser Daten-Coup hat dazu beigetragen, dass sich die Bildung von Stasi-Seilschaften in Deutschland anders als in Osteuropa in Grenzen hielt.