I Die Tage vor der Besetzung bis zum Abend des 3. Dezember 1989

1. Alter Wein in neuen Schläuchen: Vom MfS, dem AfNS und der Aktenvernichtung

Viele Jahre lang ist die Staatssicherheit sehr präzise über die Situation in der DDR, die Stimmung in der Bevölkerung, die expandierende Oppositions- bzw. Ausreisebewegung sowie die Dynamik der Entwicklung im Bilde. Seit Jahrzehnten liegt auf ihren Dienstobjekten der Bann der Unantastbarkeit. Viele Erfurter gehen in der Andreas­straße lieber auf der gegenüberliegenden Straßenseite, um „der Stasi“ nicht zu nahe zu kommen.

Doch das ändert sich im Herbst 1989: Der Frust in der Bevölkerung und das Misstrauen gegen den allgegenwärtigen Überwachungs­apparat machen sich – wie in anderen Orten auch – bereits bei der ersten großen Demonstration am 26. Oktober 1989 auf dem Erfurter Domplatz Luft. Immer lauter werden die Sprechchöre „Stasi raus“.

Bild 2 Demonstration am 19.11.1989, Domplatz Erfurt,
Foto M. Sengewald

In Erfurt zieht nach der Demonstration am 26. Oktober 1989 und dem anschließenden Marsch über den Juri-Gagarin-Ring eine Gruppe von etwa eintausend vorwiegend jungen Leuten zum MfS in die Andreasstraße weiter. Aus Sorge vor einer Eskalation stellen sich an diesem Tag Bürgerrechtler mit ihren Kerzen vor das Hauptportal der MfS-Bezirksverwaltung und rufen laut: „Keine Gewalt“. Die jugendlichen Demonstranten ziehen weiter. Es ist jedoch allen klar, dass sich das Ministerium zunehmend von der Möglichkeit eines gewaltsamen Eindringens in seine Dienstobjekte bedroht sieht.

Am 21. Oktober 1989 hatte der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke auf einer Dienstbesprechung erklärt:

 „Der Einsatz von Ordnungs- und Sicherheitskräften ist so zu organisieren, dass gewaltsame Mittel nur dann angewendet werden, wenn eine unmittelbare Gefährdung von Personen, Objekten und Sachen vorliegt und anders nicht abzuwenden ist.[1]

Die Diensteinheiten wurden angewiesen ein, Eindringen durch ent­sprechende Mittel (Schlagstöcke, chemische Mittel usw.) zu verhin­dern, jedoch „grundsätzlich ohne Anwendung der Schusswaffe.[2] Zwei Wochen zuvor, am Abend des 7. Oktober 1989, soll er sich bei dem Polizeieinsatz am Prenzlauer Berg in Berlin sehr viel militanter ausgedrückt haben. Dort, so berichtete die Parteizeitung „Neues Deutschland“ (allerdings erst einige Tage später), habe er den Befehl gegeben: „Haut sie doch zusammen, die Schweine!"[3]

Die Anspannungen im Oktober/November 1989 liegen auch darin begründet, dass es in der DDR eine Vielzahl von Gerüchten gibt. Das jahrzehntelange Meinungsmonopol der SED hat eine vielschichtige Presselandschaft bzw. überhaupt die Möglichkeit, unterschiedliche Nachrichten zu empfangen, unterdrückt. Vieles kann auch aufgrund der nur schwach ausgebauten Kommunikationsinfrastruktur nur sehr langsam überprüft werden.

Bereits Anfang November 1989 gehen in der DDR Gerüchte um, dass das MfS Unterlagen und Aktenbestände seiner Überwachungs- und Bespitzelungstätigkeit verbrennt. Tatsächlich ordnet  am 6. November 1989 die gezielte Verlagerung von Akten aus den Kreisdienststellen in die Bezirksverwaltungen an, und bald darauf erfolgt deren Vernichtung. Der Originaltitel des Dokuments lautet: „Reduzierung des Bestandes an dienstlichen Bestimmungen und Weisungen in den Kreisdienststellen/Objektdienststellen"[4]. Doch die Anweisung geht darüber weit hinaus: Der größere Teil der dienst­lichen Weisungen soll vor Ort vernichtet werden. Personenbezogene Unterlagen zu inoffiziellen Mitarbeitern ebenso wie zu Opfern der Staatssicherheit sollen je nach „Gefährdungslage“ in die Bezirksver­waltungen ausgelagert werden. Tatsächlich werden in vielen Kreis­dienststellen beide Prozesse miteinander vermischt, so werden auch personenbezogene Unterlagen vernichtet.[5]

Dem Druck der Demonstrationen überall in der ganzen DDR will die SED mit neuen Personen entgegentreten und so die Macht erhalten. Auch das Ministerium für Staatsicherheit, jahrzehntelang „Schild und Schwert der Partei“, muss sich verändern. Am 7. November 1989 tritt Mielke zusammen mit der gesamten Regierung Stoph zurück, am folgenden Tag das Politbüro des ZK der SED. Am 17. November 1989 führt SED-Mitglied und Ministerpräsident Hans Modrow in seiner Regierungserklärung aus:

„Neues Denken in Fragen der öffentlichen Ordnung und staatlichen Sicherheit muss sich rechtlich und administrativ umsetzen. Dazu gehört die Bildung eines Amtes für Nationale Sicherheit anstelle des Ministeriums für Staatssicherheit, verbunden mit einer Verringerung des Aufwandes“.[6]

Einen Tag später, ab 18. November 1989, heißt das Ministerium für Staatsicherheit nun Amt für Nationale Sicherheit (AfNS). Zum Leiter wird Generalleutnant Wolfgang Schwanitz berufen, der am 21. November 1989 das Ministeramt antritt. Er steht seit den 1950er Jahren in den Diensten des Staatssicherheitsdienstes und war einer der Stellvertreter Mielkes.

Der Umbau des MfS zum Amt für Nationale Sicherheit wird von der Bevölkerung schnell als Täuschungsmanöver erkannt. Das neue Amt sitzt in den gleichen Gebäuden wie das MfS, es hat die gleichen Mitarbeiter und bei der Bevölkerung setzt sich der Name nie durch. Die Stasi bleibt die Stasi. Zu Recht befürchten viele, dass es den Angehörigen des AfNS/MfS mit dem Umbau und der Aktenvernichtung gelingt, sich der Verantwortung zu entziehen. Wolfgang Schwanitz gibt am 21. November 1989 den in Berlin versammelten Leitern der Bezirksämter für Nationale Sicherheit eine eindrückliche Warnung mit auf den Weg:

„Was das Vernichten von Papier anbetrifft, besonders in den Kreisdienststellen. Macht das wirklich sehr klug und sehr unauffällig. Wir werden stark kontrolliert.“[7]

Das Zitat macht deutlich: Die Autorität des Ministeriums hat erste Risse bekommen. Doch unaufhörlich arbeitet die Sicherheits­bürokratie weiter. Der Bezirksamtsleiter des MfS/AfNS in Erfurt, Generalmajor Josef Schwarz, gibt am 21. November 1989 die „Orientierungen für die weitere Gestaltung der politisch-operativen Arbeit sowie Anforderungen an die analytische Arbeit im BA für AfNS bis zum Inkrafttreten zentraler Weisungen”[8] heraus. In dieser Anweisung benennt er bestimmte Speicherwerte und Materialien zu Personen, die vernichtet werden sollen. Einen Tag später trifft ein Schreiben des AfNS Berlin beim Bezirksamt Erfurt ein:

 „…zur Reduzierung des Bestandes registrierter Vorgänge und Akten sowie weiterer operativer Materialien und Informationen sind zur Gewährleistung des zuverlässigen Quellenschutzes und der Geheim­haltung spezifischer operativer Mittel, Methoden bzw. Arbeitsergeb­nisse, Maßnahmen zur differenzierten Auslagerung bzw. Vernichtung von registrierten Vorgängen und Akten (…) durchzuführen.”[9]

In einer als Geheime Verschlusssache (GVS 002-104/89) bezeichneten Dienstanweisung[10] weist Generalmajor Schwarz am 24. November 1989 unter anderem an, folgende Aktenbestände zur Einlagerung in die Abteilung XX zu überführen oder für die Vernichtung im jeweili­gen Dienstobjekt freizugeben:

  • „Alle OV/OPK-IMS und GMS-Akten sowie IM-Vorlaufakten sind in das Bezirksamt zu überführen;
  • Lageeinschätzungen und operative Statistiken und aktionsbezo­gene Unterlagen, die keine aktuelle Bedeutung haben;
  • Unterlagen über Wahlen zu Volksvertretungen;
  • Rapporte der Deutschen Volkspolizei und des MfS;
  • Abgelehnte Reiseanträge;
  • Arbeitskarteien;
  • ZMA-Informationen zu Ehemaligen Geheimnisträgern, Reise­kadern ohne weitere operative Hinweise,
  • - Personenzusammenschlüssen, die keine verfassungsfeindlichen Zielstellungen haben,
  • -   Reservekadern des MfS,
  • -   Personen, die Angehörige bzw. Zivilangestellte des MfS waren,
  • -   Ehemalige DDR-Bürger, die Rückkehrwünsche äußern und die vor dem Verlassen der DDR nicht feindlich tätig waren,
  • -   Angehörigen von Kirchen und Religionsgemeinschaften und deren Organisationen zu denen es keine Hinweise auf feindliche Tätigkeit gibt,
  • -   Mündlichen und schriftlichen negativen Äußerungen sowie passiven Widerstandshandlungen,
  • -   Nichtwählern,
  • - Wehrdienstverweigerern,
  • -   Bausoldaten,
  • - Rückverbindungen zu aus der DDR ausgereisten Personen ohne feindlich-negative Anhaltspunkte,
  • -   Personen mit asozialer Lebensweise,
  • -   Freiwilligen Helfern der Deutschen Volkspolizei,
  • - Liebesverbindungen in das Nicht-Sozialistische Ausland (NSA)“

Dass die Bürger zu Recht misstrauisch waren zeigen die heute zugänglichen Akten: Das MfS tut 1989 alles, um die Überwachung der eigenen Bevölkerung zu vertuschen. Die Stasi beginnt mit ihrer arteigenen Vergangenheitsbewältigung, als sie in den Wochen des revolutionären Herbstes darangeht, systematisch belastende Akten­bestände zu vernichten. Doch die Aktivitäten bleiben nicht unbeob­achtet. Allerdings ist den Menschen in der DDR nicht wirklich klar, was gerade geschieht.

Matthias Büchner berichtet davon, wie aufmerksame Bürger Erfurts im November beobachten, dass Lastkraftwagen die Bezirksverwaltung des MfS/AfNS verlassen, auf denen Akten vermutet werden, und auch, dass zu diesem Zeitpunkt bereits dunkler Rauch aus dem Schornstein in der Andreasstraße quillt, was wegen einer dort installierten Gasheizung ungewöhnlich erscheint. Mitarbeiter des Bezirkshygiene-Instituts spielen Mitgliedern der Bürgerbewegung Messdaten über die Luftverschmutzung zu, aus denen abgeleitet werden kann, dass im Stadtgebiet große Mengen an Kunststoffen verbrannt werden – Kunststoffe, wie sie in Film- und Tonbändern vorkommen. Es konnte also davon ausgegangen werden, dass (brisantes) Material vernichtet wird.[11]

2. Die Tage vor der Besetzung – Alles scheint möglich

Auch nach der Maueröffnung am 9. November 1989 geht die revo­lutionäre Umgestaltung in der der DDR weiter. Zwar fahren viele gen Westen, um sich die neu und plötzlich entstandene Freiheit anzuse­hen, doch wird in den gegründeten Arbeitsgruppen des Neuen Forum bzw. in den anderen oppositionellen Bewegungen über die Zukunft der DDR debattiert und Konzepte werden erarbeitet. Seit dem 26. Oktober finden jeden Donnerstag in vier Kirchen der Stadt Friedens­gebete und anschließend Demonstrationen auf dem Domplatz statt. Am Schluss der Friedensgebete wird zu den Demonstrationen aufgerufen.

Am 30. November 1989 wird folgender Text verlesen:

„Obwohl sich täglich die Ereignisse überschlagen, sind viele unserer Forderungen nicht erfüllt. Deshalb demonstrieren wir auch heute wieder für

  • Vollständige Entmachtung der SED und ihrer Helfershelfer, Rücktritt von Egon Krenz als Staatsratsvorsitzender, Rechen­schaftslegung, Entschuldigung der SED für Amtsmiss­brauch, Unterdrückung, Schmarotzertum und alle anderen Verfehlungen und entsprechende Bestrafung,
  • Konsequente Trennung von Gesellschaft und SED, insbesondere für die Bereiche Nationale Volksarmee, VP, Wirtschaft, Betriebe und Kultur
  • Freie und geheime Wahlen 1990,
  • Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit, der Kampfgruppen, Abbau der Sperr- und Sicherheitsanlagen in der Andreasstraße,
  • Rücktritt des Rates der Stadt und des Rates des Bezirkes und Direktwahl des Oberbürgermeisters.“[12]

Bild 3 Demonstration auf dem Domplatz Erfurt, Foto M. Sengewald

In jenen Tagen überschlagen sich die Ereignisse regelrecht. Am 1. Dezember 1989 beschließt die Volkskammer mit großer Mehrheit, die in der Verfassung der DDR verankerte Führungsrolle der SED zu streichen. Damit entfällt im Artikel 1, dass der Sozialismus unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei gestaltet wird - ein großer Erfolg der Demonstranten.

Am 2. Dezember besetzen Bürgerinnen und Bürger in Kavelstorf/Kreis Rostock eine große Lagerhalle der IMES GmbH[13] voll mit Waffen für den internationalen Waffenhandel. Damit ist die KoKo-Firma IMES als Drehscheibe für den internationalen Waffenhandel enttarnt, noch in der Nacht setzt sich der Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel und Leiter des Bereiches „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) Alexander Schalck-Golodkowski, in den Westen ab.

Am 3. Dezember 1989 folgen hunderttausende Menschen dem Aufruf zur Bildung einer Menschenkette quer durch die gesamte Republik, als Zeichen der Entschlossenheit und für eine demo­kratische Erneuerung der DDR.

Am gleichen Tag werden der Ex-Generalsekretär Erich Honecker, Ex-Ministerpräsident Willi Stoph, Ex-Gewerkschaftschef Harry Tisch, Ex-Parlamentspräsident Horst Sindermann und Ex-Staatssicherheitsminister zusammen mit anderen hohen Funktionären wegen schwerer Verstöße gegen das Parteistatut aus der SED ausgeschlos­sen.[14] Harry Tisch, Ex-Wirtschaftssekretär Günter Mittag sowie die SED-Bezirkschefs Gerhard Müller (Erfurt) und Hans Albrecht (Suhl) werden verhaftet. Das Zentralkomitee und das Politbüro der SED erklären am Nachmittag geschlossenen ihren Rücktritt. Das Land ist somit de facto führungslos.

Ebenfalls am 3. Dezember 1989 setzt sich im Haus von Robert Havemann in Grünheide bei Berlin eine überregionale Initiativgruppe des Neuen Forum[15] zusammen. In diese Beratung platzen zahlreiche Nachrichten: von der Flucht Alexander Schalck-Golodkowskis, von der Verschiebung von Finanz- und Sachwerten ins Ausland; von Aktenvernichtungen und dem Auffinden von zwei Millionen Mark der DDR ohne Belege in der Berliner Zentrale des FDGB durch Mitglieder des Neuen Forum sowie vom Parteiausschluss und der Verhaftung führender SED-Funktionäre. Nach intensiver Beratung erarbeitet die Initiativgruppe ein Flugblatt, in dem sie zur Bürgerkontrolle in Wirtschafts- und Staatsapparat aufruft:

Noch am Abend des 3. Dezember 1989 wird der Text des Flugblatts von Matthias Büchner, der als Mitglied des Landessprecherrates des Neuen Forum am Initiativtreffen teilnimmt, telefonisch nach Erfurt durchgegeben. In Erfurt sitzt Barbara Ruge am Apparat und schreibt mit. Das Ehepaar Ruge arbeitet im der Bürgerbewegung mit. Dem Neuen Forum haben sie in ihrem Haus ein Zimmer als provisorisches Büro eingerichtet. Noch in der Nacht auf den 4. Dezember 1989 organisiert Manfred Ruge zusammen mit Jens Fröbel den Druck von 4.000 Flugblättern mit dem in Grünheide erarbeiteten Text. Bis gegen 5 Uhr morgens werden diese in die Briefkästen der Stadt verteilt. Auch die DDR-Medien berichten vom Aufruf des Neuen Forum.

Bild 4 Aufruf des Neuen Forum vom 3. 12. 1989, Archiv GfZ

Das Flugblatt bezieht sich nicht explizit auf die Vernichtung von Akten des MfS/AfNS. Vielmehr werden die Bürgerinnen und Bürger aufge­fordert, wichtige Daten und Werte vor Vernichtung, Diebstahl bzw. der Versendung ins Ausland zu sichern. Dennoch trägt es aus heutiger Erkenntnis wesentlich dazu bei, die Bürger zu der Besetzung der MfS/AfNS-Bezirksverwaltung in Erfurt am nächsten Morgen zu mobilisieren.

Die sich täglich überschlagenden Meldungen über die fortschreitende Destabilisierung der DDR erhöhen die Aufmerksamkeit und Sensibilität der Erfurter Bürger. Besonders die Mitglieder der oppositio­nellen Gruppen, bei denen über verschiedene Informationskanäle immer wieder neue Meldungen über Vorgänge und Veränderungen bei staatstragenden Stellen einlau­fen, sind wachsam. Dabei gilt dem immer noch intakten Staats­sicherheits­dienst ein erhöhtes Misstrauen.
 

Christian Elis, der Hausmeister der Evangelischen Andreasge­meinde die vis-a-vis der Bezirks­verwaltung des MfS/AfNS in der Erfurter Andreasstraße liegt, stellt am Nachmittag des 3. Dezember 1989 fest, dass aus dem Schornstein des Bezirks­amtes ein ungewohnter Rauch aufsteigt. Er weiß, dass die dortige Heizung mit Gas betrieben wird und normaler­weise helle Ab­gase verursacht.

Diese Beob­achtung veranlasst ihn, seine Bekannte Angelika Schön aufzu­suchen. Beide kennen sich aus der Offenen Arbeit. Ihr erzählt er am frühen Abend des 3. Dezember von seiner Beob­achtung und dass er auch gesehen habe, wie verbrannte Papierfetzen durch die Luft wirbeln. Beide gehen davon aus, dass mit ziemlicher Sicher­heit in der Bezirksver­waltung Akten vernichtet wer­den.

Noch am gleichen Abend – es ist Sonntag – geben sie die Information an Mitglieder der Oppo­sitions­gruppen weiter.

 

Bild 5 Bezirksverwaltung des MfS/AfNS, Foto: Archiv GfZ

Am gleichen Sonntagabend sitzt Dr. Kerstin Schön [16] mit ihrer Lebenspartnerin Sabine Fabian vor dem Fernseher. Beide sind in der Frauengruppe „Frauen für Veränderungen“ aktiv, die aus den untereinander gut vernetzten Frauengruppen hervorgegangen war. Kerstin Schön erinnert sich: 

„An dem Abend, bevor wir gemeinsam mit vielen Menschen in Erfurt die Stasizentrale besetzt haben, waren wir zu zweit, zwei Frauen, die im Fernsehen über einen Westsender gesehen haben, was in Berlin geschehen ist und die das dringende Gefühl hatten, das irgendetwas geschehen müsste hier bei uns in Erfurt. Wir hatten also praktisch über die letzten Tage beobachtet, was in Berlin so passiert war mit der Bürgerwache vor der Staatssicherheit und dann war irgendwann im Fernsehen zu sehen, wie trotz dieser Bürgerwache diese Akten verbrannt worden waren.“ [17]

Die Beobachtungen veranlassten aber sowohl Angelika Schön als auch Kerstin Schön und Sabine Fabian, am nächsten Morgen zu handeln.

Anmerkungen


[1]   Erich Mielke: Referat auf der Dienstbesprechung am 21.10.1989 – BStU, ZAG, ZAIG 4885, Blatt 21.

[2]   Ebenda.

[3]   Vgl. Neues Deutschland vom 7.12.1989, S. 8.

[4]   Weisung des Ministers Mielke zur Aktenreduzierung in den Kreis-und Objekt­dienststellen vom 6.11.1989 in www.bstu.Bund.de/DE/Wissen/DDR Geschichte/ Revolutionskalender Nov.89

[5]   Ebenda und vgl. BStU, MfS, BdL/Dok 005592, Blatt 1-6, Dokumenten­kopf/Vermerke: GVS-o008 MfS-Nr. 25/89.

[6]   Tageszeitung „Neues Deutschland“ vom 18./19.11.1989

[7]   Dienstbesprechung anlässlich der Einführung des Gen. Generalleutnant Schwanitz als Leiter des AfNS durch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR Gen. Modrow am 21.11.1989 /BStU,ZA,ZAIG 4886 Bl. 1-68/Seite 37 in www.bstu.Bund.de/DE/Wissen/DDR Geschichte/ Revolutionskalender Nov.8

[8]   Orientierungen für die weitere Gestaltung der politisch-operativen Arbeit sowie Anfor­derungen an die analytische Arbeit im BA für AfNS bis zum Inkrafttreten zen­traler Weisungen, Herausgeber: Leiter BA Erfurt Generalmaj. Schwarz am 21.11. 1989 / Unterlagen des Archivs der BStU Erfurt 000019 Kopie im Bestand der GfZ

[9]   . GVS Eft. 002-104/89 vom 24.11.1989/ AfNS –Bezirksamt Erfurt, Genmaj. Schwarz gemäß Dienstberatung vom 23.11.89 und Umsetzung des Schreibens vom 22.11.89 des Ltrs. AfNS. Gen.Schwanitz, Kopie in Bestand der GfZ

[10] AfNS BA Erfurt der Leiter GVS 002-104/89 Erfurt, den 24.11.89 und Anlagen in Archiv d. BStU Erfurt. Kopie im Bestand der GfZ

[11] Siehe Berichte in den Tageszeitungen Das Volk, Thüringer Neueste Nachrichten, Thüringer Tageblatt vom 27.10.1989 Auch in mehreren Zeitzeugeninterviews wird davon berichtet, u.a. Tely Büchner, Die Geschichte des Bürgerkomitees Erfurt, Teil 1 a.a.O. S. 174.

[12] .Aufzeichnungen zu den Vorbereitungen der Friedensgebete in Erfurt, Bestand M. Sengewald im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Jena

[13] Imes Import-Export GmbH war eine Firma des DDR-Außenhandelsministeriums und unterstand dem Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo). Zielsetzung der Firmentätigkeit war die Devisenbeschaffung durch Exportgeschäfte. Insbesondere der Waffenhandel und die Vermittlung und Durchführung von internationalen Handelsgeschäften prägten das Geschäftsfeld der Firma, die eng mit dem Ministe­rium für Staatssicherheit (MfS) der DDR zusammenarbeitete. Die Geschäftspartner der IMES GmbH wurden durch die Hauptverwaltung Aufklärung des MfS geprüft. Waffengeschäfte wurden vor allem mit Iran, Irak, Libyen, Argentinien, Brasilien, Peru, Ägypten, Äthiopien, Botswana und Uganda getätigt. Auch die Palästinensi­sche Befreiungsorganisation war steter Geschäftspartner. Die IMES geriet in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, als aufgebrachte Bürger am 2. Dezember 1989 in Kavelstorf bei Rostock ein streng geheimes Waffenlager enttarnten. Das dortige Hauptlager lag strategisch gut in der Nähe des Rostocker Überseehafens und ermöglichte logistisch einfach die Verschiffung der Güter.

[14] Am Abend des 2. Dezember 1989 hatten sich tausende Mitglieder der SED- Basis vor dem Gebäude des ZK versammelt und forderten die radikale Erneuerung der Partei und den Rücktritt des Politbüros.

[15] Am 21. September 1989 wird dem Ministerium für Innere Angelegenheiten der Zulassungsantrag des Neuen Forum vorgelegt und abgelehnt. Am 8. November 1989 erfolgt die Zulassung des Neuen Forum.

[16]   Die Gleichheit des Familienamens mit Angelika Schön ist Zufall.

[17]   Interview von Kerstin Schön durch Gabi Stötzer 2010, in Die Geschichte des Bürger­komitees Teil 2, a.a.O.S.54. In einem jüngeren Bericht ergänzt Kerstin Schön: „Wir sahen am Abend des 3.12.1989 im Westfernsehen, wie in der Berliner Stasizentrale sehr wahrscheinlich Akten verbrannt wurden (die Schornsteine rauchten schwarz), obwohl die Eingänge des Gebäudes von Berliner BürgerInnen blockiert wurden.“ .(Schilderung von K. Schön vom 14.10.2013 in einem Schreiben an die GfZ, Archiv GfZ). Es kann nicht mehr genau rekapituliert werden, was die beiden im TV gesehen haben. An diesem Tag gab es keine Blockade der Diensteinheiten des MfS/AfNS in Berlin, über die Aktenvernichtung in den Dienstobjekten wurde an jenem Abend nicht berichtet. Möglicherweise ist aber die Menschenkette durch die DDR vom 3. 12. 89 gemeint.